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Informationen zum Dokument  BGE 123 III 101  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Nach Art. 20 Abs. 1 OR ist ein Vertrag nichtig, der einen unm& ...
3. Die Vorinstanz hat einen Anspruch des Klägers aus ungerec ...
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17. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. November 1996 i.S. D. gegen A. (Berufung)
 
 
Regeste
 
Sittenwidriger Vertrag (Art. 20 Abs. 1 OR); Rückforderung aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 62 ff. OR).  
Verneinung eines bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruchs (E. 3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 123 III, 101 (101)A. ist Eigentümer der Liegenschaft X. in der Luzerner Altstadt. D. ist Eigentümer des Nachbargrundstücks Y. Am 18. Oktober 1993 reichte A. ein Baugesuch für die Renovation und den Umbau seines Geschäftshauses ein. Dagegen erhob D. am 3. November 1993 beim Stadtrat von Luzern öffentlichrechtliche Einsprache. Am 20. April 1994 wurde die Baubewilligung erteilt und gleichzeitig die Einsprache abgewiesen bzw. als erledigt erklärt. Diesen Entscheid focht D. am 6. Mai 1994 mit Verwaltungsbeschwerde beim Regierungsrat des Kantons Luzern an. Am 30. Mai 1994 vereinbarte D. mit A., BGE 123 III, 101 (102)dass dieser D. vergleichsweise Fr. 30'000.-- bezahle und D. unmittelbar nach Überweisung des Betrags die Verwaltungsbeschwerde zurückziehe. Am 1. Juni 1994 überwies A. die vereinbarte Summe, worauf D. die Beschwerde zurückzog.
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Am 3. April 1995 erhob A. beim Amtsgericht Luzern-Stadt Klage gegen D. mit dem Begehren, den Beklagten zur Zahlung von Fr. 30'000.-- nebst 5% Zins seit 1. Juni 1994 zu verpflichten. Mit Urteil vom 18. Oktober 1995 hiess das Amtsgericht die Klage gut. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe die Fr. 30'000.-- aufgrund einer sittenwidrigen und damit nichtigen Vereinbarung bezahlt und könne den entsprechenden Betrag aus ungerechtfertigter Bereicherung zurückfordern, weil er die Zahlung nicht freiwillig, sondern in einer Zwangslage erbracht habe.
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Der Beklagte appellierte an das Obergericht des Kantons Luzern, das ihn mit Urteil vom 30. April 1996 mit im wesentlichen gleicher Begründung wie die erste Instanz zur Zahlung von Fr. 30'000.-- nebst 5% Zins seit 9. Januar 1995 verpflichtete. Der Beklagte hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.
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Aus den Erwägungen:
 
2. Nach Art. 20 Abs. 1 OR ist ein Vertrag nichtig, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstösst. Auch die Sittenwidrigkeit bezieht sich auf den Vertragsinhalt, der in einem weiteren Sinne den Vertragszweck mitumfasst (KRAMER, Berner Kommentar, N. 175 f. zu Art. 19-20 OR). Sittenwidrig sind Verträge, die gegen das allgemeine Anstandsgefühl oder gegen die der Gesamtrechtsordnung immanenten ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe verstossen. Ein solcher Verstoss kann einerseits in der vereinbarten Leistung oder in dem damit angestrebten mittelbaren Zweck oder Erfolg liegen, sich anderseits aber auch daraus ergeben, dass eine notwendig unentgeltliche Leistung mit einer geldwerten Gegenleistung verknüpft wird (BGE 115 II 232 E. 4a; vgl. zum Begriff der Sittenwidrigkeit: BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, S. 255 f.; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 6. Auflage, Rz. 668; KRAMER, a.a.O., N. 172 ff. zu Art. 19-20 OR; HUGUENIN JACOBS, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I, 2. Auflage, N. 32 ff. zu Art. 19/20 OR).
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BGE 123 III, 101 (103)a) Die Ausübung von Rechtsmitteln oder Rechtsbehelfen ist grundsätzlich auch dann rechtmässig, wenn sie sich schliesslich als erfolglos erweisen. Jeder Bürger ist befugt, für vermeintliche Ansprüche Rechtsschutz zu beanspruchen, sofern er in guten Treuen handelt. Prozessbezogenes Verhalten als solches ist nur dann als rechts- oder sittenwidrig zu werten, wenn Verfahrensrechte missbräuchlich, böswillig oder wider Treu und Glauben in Anspruch genommen werden (BGE 117 II 394 E. 3b S. 396 und E. 4 S. 398; BGE 112 II 32 E. 2a). Die Vorinstanz hat diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Aussichtslosigkeit der Rechtsmittel geprüft und sie sowohl hinsichtlich der vom Beklagten erhobenen Einsprache wie auch seiner Verwaltungsbeschwerde verneint. Zum Entscheid über die Einsprache wird im angefochtenen Urteil festgehalten, die Erledigterklärung habe sich auf die Liftanlage bezogen und sei erfolgt, weil nach Erhebung der Einsprache, aber vor Erteilung der Baubewilligung, die öffentlich aufgelegten Pläne hinsichtlich der Liftanlage (Liftmaschinenraum und Liftschacht) und der Treppenanlage geändert worden seien. Daraus könne geschlossen werden, dass die Einsprache zum Zeitpunkt ihrer Einreichung teilweise berechtigt, mithin nicht völlig aussichtslos gewesen sei. Mit der Verwaltungsbeschwerde habe der Beklagte beanstandet, der Stadtrat von Luzern habe ihm keine Gelegenheit geboten, vor Erteilung der Baubewilligung zu den Planänderungen betreffend Lift- und Treppenanlage Stellung zu nehmen. Der Beklagte habe nach den massgebenden Bestimmungen des kantonalen Planungs- und Baugesetzes Anlass gehabt, das Vorgehen der Baubewilligungsbehörde in formaler Hinsicht für unzulässig zu halten, weshalb die Verwaltungsbeschwerde nicht als aussichtslos zu betrachten sei. Auf dieser Grundlage beurteilt die Vorinstanz das prozessbezogene Verhalten des Beklagten und insbesondere die Einreichung der Verwaltungsbeschwerde nicht als rechts- oder sittenwidrig. Sie wirft ihm vielmehr als sittenwidrig vor, seine Position im Verfahren dazu benutzt zu haben, vom Kläger für eine Beeinträchtigung entschädigt zu werden, die in keinem Zusammenhang mit dem Bauvorhaben stand.
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b) Nach Auffassung der Vorinstanz ist der hier zu beurteilende Fall von jenem abzugrenzen, über den das Bundesgericht in BGE 115 II 232 ff. entschieden hat. Dort wurde die Verabredung einer Vergütung für den Rückzug von nicht aussichtslosen Baurekursen nicht als sittenwidrig beurteilt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die von den Parteien verabredeten Leistungen - Zustimmung zu einem bekämpften Bauprojekt, Verzicht auf Opposition gegen ein BGE 123 III, 101 (104)in seinen Grundzügen bekanntes weiteres Bauvorhaben, Begründung von Dienstbarkeiten - seien klarerweise nicht sittenwidrig, noch sei damit mittelbar ein sittenwidriger Zweck oder Erfolg angestrebt worden. Verneint wurde sodann auch die Frage, ob in sittenwidriger Weise eine Bindung mit einem materiellen Vor- oder Nachteil verknüpft worden sei. Dazu wurde festgehalten, da die Opposition der Beklagten nicht aussichtslos gewesen sei, habe diese damit rechnen dürfen, das missliebige Bauvorhaben verhindern und die Klägerin zu einem für sie günstigeren Projekt veranlassen zu können. Solche Chancen und Vorteile könnten durchaus geldwerter Natur sein; dass sich die Beklagte für den Verzicht darauf eine Entschädigung habe versprechen lassen, verstosse deshalb nicht gegen die guten Sitten, und die vereinbarte Vergütung stelle auch kein sittenwidriges Schweigegeld dar (E. 4b).
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Dieser Entscheid ist von ZUFFEREY-WERRO kritisiert worden (Non-opposition à une autorisation de construire; le contrat est valable, Baurecht 1990, S. 67 ff.; vgl. auch MERZ, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1989, ZBJV 127/1991, S. 237 ff., und SALZMANN, Schweigegeld bei Baueinsprachen geschützt, Der Schweizerische Treuhänder, 1990, S. 401 f.). Der Kritik liegt die Auffassung zugrunde, der entgeltliche Verzicht auf einen Rechtsbehelf in einem baurechtlichen Verfahren sei nur dann nicht sittenwidrig, wenn damit in keiner Weise gegen den Grundsatz des loyalen Geschäftsgebarens ("la loyauté en affaires") verstossen werde. Kein Verstoss liege vor, wenn das vereinbarte Entgelt dazu diene, eine mit dem Bauvorhaben verbundene Beeinträchtigung des Wertes des Nachbargrundstückes auszugleichen, nicht aber dann, wenn die Lage des Bauwilligen vom Nachbarn für andere Zwecke ausgenützt werde. Nicht brauchbar sowie widersprüchlich sei dagegen die Differenzierung nach den Prozesschancen des Rechtsbehelfs (ZUFFEREY-WERRO, Baurecht, S. 68 f.). Diese Betrachtungsweise bildet im wesentlichen auch die Grundlage des angefochtenen Urteils.
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Zur Kritik an BGE 115 II 232 ff. ist im folgenden nur insoweit Stellung zu nehmen, als sie für den Entscheid über den vorliegenden Fall von Bedeutung ist. Dieser unterscheidet sich vom damals beurteilten darin, dass der Beklagte mit der Verwaltungsbeschwerde keine materiellen Einwände erhob, die zu einer Einschränkung des Bauvorhabens mit geldwertem Vorteil zu seinen Gunsten führen konnten. Chancen und Vorteile geldwerter Natur sind nicht ersichtlich, welche der Beklagte als Eigentümer des Nachbargrundstücks BGE 123 III, 101 (105)mit dem Rechtsmittel hätte realisieren können und auf deren Wahrnehmung er mit dem Beschwerderückzug gegen Entschädigung verzichtet hat.
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c) Der entgeltliche Verzicht auf eine rechtliche Befugnis wird als sittenwidrig betrachtet, falls er auf einer verpönten Kommerzialisierung der Rechtsposition der verzichtenden Partei beruht (KRAMER, a.a.O., N. 193 zu Art. 19-20 OR). Zu dieser Fallgruppe sittenwidriger Geschäfte gehören die "Schweigegeldverträge" hinsichtlich strafbarer Handlungen, auf die BGE 115 II 232 ff. (E. 4b) Bezug nimmt. Solche Verträge gelten dann als sittenwidrig, wenn mit dem vereinbarten Entgelt das Schweigen erkauft wird, nicht aber dann, wenn es zum Ersatz des durch die Straftat angerichteten Schadens dienen soll (BGE 76 II 346 E. 4 und 5; KRAMER, a.a.O., N. 194 zu Art. 19-20 OR; ZUFFEREY-WERRO, Le contrat contraire aux bonnes moeurs, Diss. Freiburg 1988, S. 279 Rz. 1261 ff.; HUGUENIN JACOBS, a.a.O., N. 39 zu Art. 19/20 OR). Beim entgeltlichen Verzicht auf ein Rechtsmittel im Bauverfahren rechtfertigt sich angesichts der vergleichbaren Interessenlage der beteiligten Parteien eine ähnlich differenzierende Beurteilung nach dem Zweck und den Gründen des Verzichts.
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Es ist allgemein bekannt, dass die Verzögerung von Bauvorhaben durch administrative oder gerichtliche Verfahren zu beträchtlichem, volkswirtschaftlich unerwünschtem Schaden führen kann (vgl. dazu CASANOVA, La réparation du préjudice causé par l'opposition injustifiée à un projet de construction, Baurecht 1986, S. 75 ff., S. 77). Dies ist bei der sozialethischen Bewertung eines entgeltlichen Verzichts auf die Opposition gegen ein Bauvorhaben massgebend zu berücksichtigen. Wird der Umstand, dass ein solcher Verzögerungsschaden einzutreten oder sich zu vergrössern droht, vom Prozessgegner zur Erlangung verfahrensfremder Zwecke ausgenutzt, muss dies als sittenwidrig betrachtet werden. Entgegen der an BGE 115 II 232 ff. geübten Kritik (oben E. 2b) ist somit nicht jeder entgeltliche Verzicht sittenwidrig, soweit nicht feststeht, dass das vereinbarte Entgelt dazu dient, eine mit dem Bauvorhaben verbundene Beeinträchtigung des Nachbargrundstückes auszugleichen. Eine verpönte Kommerzialisierung ist vielmehr erst dann gegeben, wenn mit der entgeltlichen Verzichtsvereinbarung allein der drohende Verzögerungsschaden des Bauherrn vermindert werden soll. Soweit sich der wirtschaftliche Wert des Verzichts bloss aus dem möglichen Schaden wegen der Verlängerung des Bewilligungsverfahrens, nicht aber aus schutzwürdigen Interessen des Nachbarn BGE 123 III, 101 (106)ergibt, ist die Kommerzialisierung des Verzichts sittenwidrig. Denn das Interesse an blosser Verzögerung eines Bauvorhabens ist nicht schutzwürdig und kann daher ohne inneren Wertungswiderspruch auch nicht als Vermögenswert entgolten werden. Der Schaden für den Bauherrn entsteht grundsätzlich aus der Bauverzögerung infolge der längeren Dauer des Bewilligungsverfahrens, nicht etwa aus der Unsicherheit über den Entscheid der Bewilligungs- oder Rekursbehörde. Dieser Schaden kann dem Opponenten daher nicht angelastet werden, wenn er von einem Rechtsmittel in guten Treuen Gebrauch macht. Sittenwidrig ist aber die Realisierung des kommerziellen Wertes des Rechtsmittelverzichts, der sich aus dem drohenden Verzögerungsschaden des Bauherrn ergibt, weil damit Rechtsbehelfe des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren zweckwidrig kommerzialisiert werden.
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d) Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil hätte der Beklagte mit der Verwaltungsbeschwerde erreichen können, dass das Umbau- und Renovationsprojekt des Klägers neu hätte veröffentlicht und aufgelegt werden müssen. Nicht festgestellt ist dagegen, dass im Beschwerdeverfahren konkrete Einwände materieller Natur gegen das Umbauvorhaben vorgebracht wurden oder hätten vorgebracht werden können, deren Gutheissung negative Auswirkungen auf das Nachbargrundstück verhindert hätte. Wie die Vorinstanz verbindlich feststellt, ist es dem Beklagten auch gar nicht darum gegangen, für irgendwelche nachbarrechtlichen Inkonvenienzen entschädigt zu werden. Ist aber erstellt, dass der Beklagte mit der Verwaltungsbeschwerde keine Verhinderung oder Änderung des Bauvorhabens, sondern höchstens eine Verzögerung hätte erreichen können, hat der Beklagte mit dem Verzicht darauf keine vermögenswerten Chancen und Vorteile aufgegeben. Der Kläger hat dem Beklagten vielmehr eine rein formelle Rechtsposition abgekauft, um seinen Verzögerungsschaden zu vermindern. Dem Schaden, den der Kläger durch die Verzögerung seines Bauvorhabens erlitten hätte, stehen keine schutzwürdigen Interessen des Beklagten gegenüber, welche dieser durch den Rückzug der Beschwerde aufgegeben hätte. Die Vorinstanz hat die Vereinbarung vom 30. Mai 1994 somit zutreffend als sittenwidrig und deshalb nichtig betrachtet.
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3. Die Vorinstanz hat einen Anspruch des Klägers aus ungerechtfertigter Bereicherung in Anwendung von Art. 63 Abs. 1 OR bejaht. Der Beklagte sieht darin eine Verletzung von Art. 2 ZGB, weil der Rückforderungsanspruch vom Kläger rechtsmissbräuchlich erhoben werde. Er macht zudem geltend, der Kläger habe seine BGE 123 III, 101 (107)Leistung freiwillig erbracht, womit eine Rückforderung nach Art. 63 Abs. 1 OR ausgeschlossen sei. Er wirft der Vorinstanz schliesslich vor, die Rückforderung zu Unrecht nicht gestützt auf Art. 66 OR verweigert zu haben.
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a) Wer in ungerechtfertigter Weise aus dem Vermögen eines andern bereichert worden ist, hat die Bereicherung zurückzuerstatten. Diese Verbindlichkeit tritt insbesondere dann ein, wenn jemand ohne jeden gültigen Grund oder aus einem nicht verwirklichten oder nachträglich weggefallenen Grund eine Zuwendung erhalten hat (Art. 62 OR). Wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, kann das Geleistete nur dann zurückfordern, wenn er nachzuweisen vermag, dass er sich über die Schuldpflicht im Irrtum befunden hat (Art. 63 Abs. 1 OR). Die beiden Gesetzesbestimmungen führen bestimmte Arten von ungerechtfertigten Bereicherungen beispielhaft auf, enthalten aber keine abschliessende Aufzählung (BUCHER, a.a.O., S. 666; KELLER/SCHAUFELBERGER, Das Schweizerische Schuldrecht, Band III, Ungerechtfertigte Bereicherung, 3. Auflage, S. 53). Zu beachten ist sodann, dass zwischen Leistungskondiktionen und den übrigen Kondiktionen (Nichtleistungskondiktionen) zu unterscheiden ist (BUCHER, a.a.O., S. 667; vgl. auch LARENZ/CANARIS, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, 13. Auflage, S. 142 ff.). Die Leistungskondiktionen sind als Sondertatbestände zu betrachten, auf welche die allgemeine Regel von Art. 62 Abs. 1 OR nicht anwendbar ist. In diesen Fällen kommt vielmehr Art. 63 Abs. 1 OR zur Anwendung, der eine Rückforderung nur dann zulässt, wenn nachgewiesen ist, dass die Leistung im Irrtum über die Schuldpflicht sowie freiwillig erfolgte. Bei Leistungskondiktionen bilden diese Voraussetzungen in der Regel die Grundlage des Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung (BUCHER, a.a.O., S. 669). Ein Irrtumsnachweis entfällt dagegen bei allen unfreiwilligen Leistungen (von TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Band I, S. 485; KELLER/SCHAUFELBERGER, a.a.O., S. 56; GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 1537). Gleiches gilt für den besonderen, im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnten Kondiktionstyp der Rückforderung von Leistungen, die in sittenwidriger oder allgemein verwerflicher Weise erworben wurden (condictio ob turpem vel iniustam causam; dazu BUCHER, a.a.O., S. 673 ff.; BRUNO VON BÜREN, Bemerkungen zu Art. 66 OR, SJZ 58/1962, S. 225 ff., S. 227 f.). In diesen Fällen, zu denen auch der vorliegend zu beurteilende Sachverhalt gehört, ist lediglich zu prüfen, ob die Leistung unfreiwillig erfolgt ist.
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BGE 123 III, 101 (108)b) Nach Auffassung der Vorinstanz hat der Kläger die Leistung unfreiwillig erbracht, weil er sich in einer Zwangslage befunden habe, aus der er sich nur durch den Abschluss des Vertrags vom 30. Mai 1994 habe befreien können. Der Begriff der Unfreiwilligkeit wird im Gesetz nicht allgemein umschrieben. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich aber aus einzelnen Gesetzesbestimmungen ableiten. Ein Beispiel unfreiwilliger Leistung findet sich zunächst in Art. 63 OR selbst, gemäss dessen Absatz 3 die Rückforderung einer bezahlten Nichtschuld nach Schuldbetreibungs- und Konkursrecht vorbehalten wird. Daraus ergibt sich, dass Zahlungen, die unter Betreibungszwang erfolgen, als unfreiwillig gelten müssen. Unfreiwillig ist auch eine Leistung, zu der ein Bewucherter durch seine Notlage (Art. 21 OR) und ein widerrechtlich Bedrohter durch seine Furcht (Art. 29 f. OR) veranlasst wird (GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 1539; VON TUHR/PETER, a.a.O., S. 485 f.). Diese Beispiele zeigen, dass eine eigentliche Zwangslage gegeben sein muss. Abgesehen von den erwähnten, gesetzlich umschriebenen Fällen liegt eine die Freiwilligkeit der Leistung ausschliessende Zwangslage nur vor, wenn der Leistende unzumutbare Nachteile in Kauf zu nehmen hätte, die er nicht anders als durch die Leistung abwenden kann. Die Zahlung muss als einzig möglicher und zumutbarer Ausweg erscheinen (KELLER/SCHAUFELBERGER, a.a.O., S. 57).
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c) Aus den Feststellungen der Vorinstanz geht hervor, dass die Parteien bereits während der Hängigkeit der Baueinsprache über einen Rückzug des Rechtsbehelfs gegen Zahlung einer Geldsumme (ca. Fr. 20'000.-- bis Fr. 30'000.--) verhandelt haben. Der Kläger habe sich dann aber entschlossen, die Verhandlungen abzubrechen und den Entscheid der Baubewilligungsbehörde abzuwarten. Nachdem dieser am 20. April 1994 ergangene Entscheid vom Beklagten mit Verwaltungsbeschwerde angefochten worden war, habe sich der Kläger mit Schreiben vom 16. Mai 1994 an den Beklagten gewandt mit dem Vorschlag, die Vergleichsgespräche auf der Grundlage von Fr. 20'000.-- bis Fr. 30'000.-- wieder aufzunehmen. In der Folge habe sich der Beklagte nach wie vor vergleichsbereit gezeigt. Er habe nun auf einer Vergleichssumme von Fr. 30'000.-- beharrt, weil ihm unterdessen weitere erhebliche Kosten, insbesondere Anwaltskosten entstanden seien. Am 25. Mai 1994 habe der Beklagte dem Kläger den von ihm bereits unterzeichneten Vergleich zugesandt, der dann nach einvernehmlicher Streichung einer einzelnen Vertragsklausel am 30. Mai 1994 auch vom Kläger unterschrieben worden sei.
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BGE 123 III, 101 (109)Die Entstehungsgeschichte der Vereinbarung vom 30. Mai 1994 zeigt somit, dass der Kläger ohne direkte Einflussnahme durch den Beklagten - wie etwa unter dem Eindruck einer Drohung im Sinne von Art. 29 f. OR - gehandelt hat. Er hat vielmehr aus eigener Initiative die Wiederaufnahme der Vergleichsgespräche vorgeschlagen. Eine eigentliche Zwangslage im oben umschriebenen Sinne bestand sodann entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Kläger zur Bezahlung einer Geldsumme bereit war, weil er die Bauverzögerung verhindern wollte, mit welcher er wegen des vom Beklagten ergriffenen Rechtsmittels rechnen musste. Im angefochtenen Urteil wird indessen festgehalten, der Kläger habe nicht konkret ausgeführt, inwiefern ihm und seiner Mieterin durch die Bauverzögerung finanzielle Nachteile zu entstehen drohten. Die Vorinstanz schliesst allerdings allgemein aus dem Standort und der Nutzung des Hauses ("Verkaufsgeschäft in der Geschäftsgasse der Altstadt Luzern"), dass der Kläger daran interessiert war, das Bauvorhaben möglichst rasch zu verwirklichen. Das reicht jedoch zum Nachweis einer konkret vorliegenden Zwangslage wegen drohender finanzieller Nachteile nicht aus. Es bestehen somit keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Inkaufnahme der mit der Bauverzögerung verbundenen Nachteile für den Kläger unzumutbar war, so dass insoweit keine eigentliche Zwangslage vorlag. Dazu kommt, dass der Kläger auch die Möglichkeit hatte, auf eine möglichst schnelle Erledigung des Verfahrens hinzuwirken. Er musste nach den Feststellungen der Vorinstanz damit rechnen, dass er aufgrund des Rechtsmittels des Beklagten verpflichtet werden könnte, das geänderte Umbauprojekt öffentlich aufzulegen. Dabei hätte er mit den ihm zur Verfügung stehenden rechtmässigen Mitteln auf eine Verfahrensbeschleunigung hinwirken können, wie der Beklagte zutreffend darlegt. Wenn der Kläger unter diesen Umständen vorzog, dem Beklagten sittenwidrig das Rechtsmittel abzukaufen, statt mit legalen Mitteln eine Verfahrensbeschleunigung anzustreben, handelte er nicht unfreiwillig. Ist die Leistung aber freiwillig erfolgt, steht dem Kläger kein Rückforderungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung zu.
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Damit braucht nicht geprüft zu werden, ob die Rückforderung auch aufgrund von Art. 66 OR oder deswegen ausgeschlossen ist, weil sie vom Kläger rechtsmissbräuchlich geltend gemacht wird.
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