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Informationen zum Dokument  BGE 143 II 268  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
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20. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen Eidgenössische Steuerverwaltung (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_404/2016 vom 21. März 2017
 
 
Regeste
 
Art. 12 Abs. 1 VStV; die vorbehaltlose Bezahlung einer Steuerrechnung steht einer Rückvergütung nicht entgegen.  
 
Sachverhalt
 
BGE 143 II, 268 (269)A. Die A. AG mit Sitz in U. ist gemäss Handelsregistereintrag im Bereich der Schifffahrt, dem Schiffbau und dem Schiffshandel tätig. Einziges Mitglied des Verwaltungsrates ist der Aktionär B.
1
B.
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B.a Nach einer (...) am Domizil der A. AG durchgeführten Buchprüfung richtete die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), Hauptabteilung Direkte Bundessteuer, Verrechnungssteuer, Stempelabgaben (DVS), Abteilung Externe Prüfung, am 25. Mai 2012 ein Schreiben an die C. AG, damals Revisionsstelle der A. AG, zuhanden von Herrn D. Darin teilte die ESTV unter Bezugnahme auf die Buchprüfung und ein am Vortag mit D. geführtes Telefongespräch mit, es würden geldwerte Leistungen im Betrag von Fr. 63'669.80 aufgerechnet und davon die Verrechnungssteuer zum Satz von 35 %, ausmachend Fr. 22'284.45, erhoben. Nachdem die Verrechnungssteuer nicht unaufgefordert 30 Tage nach Entstehung der Steuerforderung deklariert und bezahlt worden sei, werde D. ersucht, dafür besorgt zu sein, dass der Betrag von Fr. 22'284.45 im Lauf BGE 143 II, 268 (270)der nächsten 30 Tage an die ESTV überwiesen werde. Die Steuer sei auf die leistungsbegünstigte Person, B., zu überwälzen. Es sei nicht auszuschliessen, dass der erwähnte Sachverhalt auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehe. (...)
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Die A. AG bezahlte die Rechnung der ESTV vom 25. Mai 2012 am 14. Juni 2012.
4
B.b In der Folge eröffnete die ESTV, Hauptabteilung DVS, Abteilung Strafsachen und Untersuchungen, ein Strafverfahren gegen B. wegen fahrlässiger Hinterziehung von Verrechnungssteuern. Im Rahmen dieses Verfahrens verlangte die A. AG am 21. Februar 2013, dass die ESTV ihr eine anfechtbare Verfügung bezüglich der Erhebung der Verrechnungssteuer eröffne. Am 30. Juli 2014 erging der Strafbescheid gegen B. In der dagegen erhobenen Einsprache vom 12. August 2014 beantragte die A. AG die Sistierung des Strafverfahrens, bis über "die anbegehrte Leistungsverfügung betreffend Verrechnungssteuer (...) rechtskräftig entschieden" sei, und verlangte "die Rückerstattung der zu Unrecht bezahlten Verrechnungssteuer samt Verzugszins".
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B.c Im Rahmen einer Aktennotiz vom 15. September 2014 hielt die ESTV, Hauptabteilung DVS, Abteilung Externe Prüfung fest, die Erhebung der Verrechnungssteuer sei rechtskräftig abgeschlossen, und stellte die Aktennotiz am 14. Oktober 2014 der A. AG zu. Diese ersuchte die ESTV, Hauptabteilung DVS, Abteilung Externe Prüfung, am 20. Oktober 2014 erneut um "die baldige Eröffnung einer förmlichen und damit der gerichtlichen Überprüfung zugänglichen Verfügung".
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B.d Am 22. Januar 2015 erliess die ESTV, Hauptabteilung DVS, Abteilung Externe Prüfung, folgenden Entscheid:
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" Auf den Antrag der A. AG (...) - auf Erlass eines materiellen Entscheides bezüglich der Verrechnungssteuererhebung von CHF 22'284.45, aufgrund von in den Jahren 2007 bis 2010 an den Aktionär Herrn B. erbrachten geldwerten Leistungen von CHF 63'669.80 - wird nicht eingetreten."
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Die dagegen erhobene Einsprache der A. AG wies die ESTV, Hauptabteilung DVS, Abteilung Externe Prüfung, am 14. September 2015 ab. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde hin mit Urteil vom 28. Juni 2016.
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C. Die A. AG erhebt am 5. August 2016 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht mit den Anträgen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die BGE 143 II, 268 (271)Eidgenössische Steuerverwaltung zurückzuweisen mit der Anweisung, auf das Begehren um Rückerstattung der Verrechnungssteuer für die Jahre 2007-2010 im Betrag von Fr. 22'284.45 zuzüglich Zins einzutreten und dieses materiell zu prüfen. Eventuell sei die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuweisen mit der Anweisung, Herrn D. als Zeuge zu befragen und im Sinn der Erwägungen des Bundesgerichts neu zu entscheiden. (...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur materiellen Entscheidung an die Eidgenössische Steuerverwaltung zurück.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen:
 
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2.3 Art. 12 Abs. 1 der Verordnung vom 19. Dezember 1966 über die Verrechnungssteuer (VStV; SR 642.211) sieht vor, dass bezahlte Steuern und Zinsen, die nicht durch Entscheid der Eidgenössischen Steuerverwaltung festgesetzt worden sind, zurückerstattet werden, sobald feststeht, dass sie nicht geschuldet waren. Um diese Rückzahlung einer zu Unrecht erhoben Steuer von der dem Verrechnungssteuerrecht systembedingt eigenen (ordentlichen) Rückerstattung der Verrechnungssteuer im Sinn von Art. 21 ff. des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die Verrechnungssteuer (VStG; SR 642.21) abzugrenzen, wird in der Lehre der Begriff "Rückvergütung" verwendet (MICHAEL BEUSCH, Der Untergang der Steuerforderung, 2012, S. 57 ff.; BLUMENSTEIN/LOCHER, System des schweizerischen Steuerrechts, 7. Aufl. 2016, S. 410). Das vorliegende Urteil folgt dieser Terminologie.
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2.4 Im Bereich der Verrechnungssteuer kommt das Selbstveranlagungsprinzip zur Anwendung. Danach hat die steuerpflichtige Person die Steuerforderung selbst festzustellen und den Betrag der nach ihrer Ansicht geschuldeten Steuer unter Beifügung einer Abrechnung fristgerecht einzubezahlen (MARKUS KÜPFER, in: Bundesgesetz über die Verrechnungssteuer [VStG], Zweifel/Beusch/Bauer- Balmelli [Hrsg.], 2. Aufl. 2012, N. 9 zu Art. 38 VStG). Nach einer weit zurückliegenden, seither nicht bestätigten Rechtsprechung des Bundesgerichts hat die ohne Vorbehalt geleistete Zahlung der selbst veranlagten Steuer für die steuerpflichtige Person die Wirkungen eines rechtskräftigen Entscheids, den diese nur bei Vorliegen eines Revisionsgrundes anfechten kann (Urteil des Bundesgerichts vom BGE 143 II, 268 (272)1. Oktober 1965, in: ASA 34 S. 269 E. 2 S. 271 f.; Urteil des Bundesgerichts vom 4. Juli 1958, in: ASA 27 S. 276 E. 1 S. 279; KÜPFER, a.a.O., N. 12 zu Art. 38 VStG). In der Lehre ist umstritten, ob der Verordnungsgeber mit Art. 12 Abs. 1 VStV eine Abkehr von der erwähnten Praxis beabsichtigt hat (zustimmend WALTER ROBERT PFUND, Die eidgenössische Verrechnungssteuer, Teil 1, 1971, N. 5.3 zu Vorbemerkungen zu Art. 17 VStG; ablehnend KÜPFER, a.a.O., N. 13 zu Art. 38 VStG).
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Eine analoge Regel zu Art. 43 Abs. 1 lit. b MWSTG (SR 641.20), wonach die Steuerforderung rechtskräftig wird durch die schriftliche Anerkennung oder die vorbehaltlose Bezahlung einer Einschätzungsmitteilung durch die steuerpflichtige Person, kennt das Verrechnungssteuerrecht nicht.
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(...)
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Wird der Verfügungscharakter bejaht, wäre zu prüfen, ob die Verfügung trotz der Eröffnungsmängel (fehlende Bezeichnung als Verfügung, Eröffnung an eine nicht vertretungsbefugte Drittperson, fehlende Rechtsmittelbelehrung) in formelle Rechtskraft erwachsen ist. Diesfalls wäre die Beschwerde abzuweisen, weil die Rechtskraft der Erhebung eines Rechtsmittels entgegensteht.
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Wird der Verfügungscharakter verneint, wäre zu prüfen, ob die Vorinstanz in teleologischer Reduktion von Art. 12 Abs. 1 VStV die vorbehaltlose Zahlung zu Recht als Verfügungssurrogat qualifiziert hat und gestützt darauf von einem rechtskräftigen Entscheid BGE 143 II, 268 (273)ausgegangen ist, welcher der Rückvergütung entgegensteht. Wird dies bejaht, wäre die Beschwerde ebenfalls abzuweisen.
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Im vorliegenden Fall ist fraglich, ob eine hoheitliche (d.h. einseitige und verbindliche) Anordnung vorliegt. Zwar hat die ESTV die Beschwerdeführerin aufgefordert, innert Frist eine bezifferte Schuld zu begleichen. Die Anordnung im Sinn von Art. 5 Abs. 1 VwVG ist indessen (auch) eine Willenserklärung der Behörde (KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Öffentliches Verfahrensrecht, 2. Aufl. 2015, Rz. 355 mit Literaturhinweisen). Weil die ESTV anscheinend selbst nicht davon ausging, eine hoheitliche Anordnung getroffen zu haben, ist der Verfügungscharakter der Zahlungsaufforderung vom 25. Mai 2012 zu verneinen.
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4.3.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut. Vom klaren, eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, so etwa dann, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Norm wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem BGE 143 II, 268 (274)Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Dabei ist namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit anderen Bestimmungen abzustellen (BGE 141 II 436 E. 4.1 S. 441; BGE 139 II 404 E. 4.2 S. 416). Eine Gesetzesinterpretation lege artis kann ergeben, dass ein (scheinbar) klarer Wortlaut zu weit gefasst und auf einen an sich davon erfassten Sachverhalt nicht anzuwenden ist (teleologische Reduktion, vgl. BGE 141 V 191 E. 3 S. 194 f.; BGE 140 I 305 E. 6.2 S. 311; BGE 131 V 242 E. 5.2 S. 247).
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- Sind Steuern und Zinsen ohne vorgängige hoheitliche Anordnung ("nicht durch Entscheid der ESTV festgesetzt") bezahlt worden, werden sie rückvergütet, sobald feststeht, dass sie nicht geschuldet waren. Die Rückvergütung kann auf Gesuch hin oder von Amtes wegen erfolgen (PFUND, a.a.O., N. 5.5 zu Vorbemerkungen zu Art. 17 VStG).
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- Sind Steuern und Zinsen bezahlt worden, nachdem sie durch Entscheid der ESTV festgesetzt worden sind, ist eine Rückvergütung ausgeschlossen (Art. 12 Abs. 1 VStV e contrario, vgl. auch PFUND, a.a.O., N. 5.2 zu Vorbemerkungen zu Art. 17 VStG; BLUMENSTEIN/LOCHER, a.a.O., S. 411). Indem die erwähnten Autoren das Erfordernis eines rechtskräftigen Entscheids in die Bestimmung intellegieren, bringen sie zum Ausdruck, dass eine Anfechtung des Entscheids vorbehalten bleibt, mithin die Verfügung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden kann.
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4.3.3 Art. 12 Abs. 1 VStV dient dazu, irrtümlich bezahlte Steuerbeträge, die zuvor nicht autoritativ durch die Steuerverwaltung festgesetzt worden waren, zurückzufordern. Ein Irrtum über die Zahlungspflicht kann nicht nur dann bestehen, wenn die steuerpflichtige Person fälschlicherweise davon ausgeht, eine Steuer zu schulden, sondern auch dann, wenn sie von der Behörde zu Unrecht zur Zahlung veranlasst wurde. Ein Blick auf die beiden Konstellationen, die Art. 12 Abs. 1 VStV zugrunde liegen (vgl. E. 4.3.2. hiervor), erhellt: Liegt eine Verfügung vor, steht dem Adressaten grundsätzlich die Anfechtung offen; unterbleibt diese Rechtshandlung, ist eine Rückvergütung (vorbehältlich einer Revision) ausgeschlossen. Dies ist BGE 143 II, 268 (275)sachgerecht, denn der Verfügungsadressat akzeptiert die Auferlegung der Steuer bewusst, indem er auf eine Anfechtung verzichtet. Liegt dagegen keine Verfügung vor (was im Selbstveranlagungsverfahren oft vorkommt, vgl. E. 4.2.2 hiervor), ist keine Anfechtung möglich; aus diesem Grund eröffnet Art. 12 Abs. 1 VStV die Möglichkeit der Rückvergütung, wenn der Nachweis der Nichtschuld erbracht ist.
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Art. 12 Abs. 1 VStV soll demnach einer Person, der von Beginn an kein Rechtsmittel zur Verfügung steht, um eine ungerechtfertigte Steuerzahlung zurückzufordern, dies durch den Nachweis der Nichtschuld ermöglichen. Dieser Schutzzweck würde zunichte gemacht, wenn die Person, welche die Steuer unter Irrtum bezahlt hat, sich entgegenhalten lassen müsste, sie habe keinen Vorbehalt angebracht. Die vorbehaltlose Bezahlung einer (unter Umständen gar nicht bestehenden) Steuer ohne entsprechende behördliche Anordnung kann daher nicht mit einem rechtskräftigen Entscheid, wie ihn Art. 12 Abs. 1 VStV verlangt, gleichgesetzt werden. Die alte Praxis des Bundesgerichts ist mit Inkrafttreten von Art. 12 Abs. 1 VStV am 1. Januar 1967 hinfällig geworden.
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