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Informationen zum Dokument  BGE 126 II 212  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
6. a) Schliesslich rügen die Beschwerdeführer die fehle ...
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22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3. Mai 2000 i.S. M.X. und I.X. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Internationale Rechtshilfe in Strafsachen; internationale Zuständigkeit des ersuchenden Staates (Art. 1 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen).  
 
Sachverhalt
 
BGE 126 II, 212 (212)Die Militärstaatsanwaltschaft des Moskauer Militärbezirks ermittelt gegen T.S. und deren Bruder M.X. wegen Veruntreuung ("Aneignung oder Unterschlagung") gemäss Art. 160 Teil 3 russ. StGB im Zusammenhang mit Tabak- und Alkoholeinkäufen der Handelsverwaltung der in Deutschland stationierten Westgruppe der Sowjetischen Truppen ("Western Group of Soviet Military Forces", im Folgenden: WGS). Beide Beschuldigten sind Weissrussen.
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BGE 126 II, 212 (213)Mit Schreiben vom 22. März 1999 übermittelte die Russische Botschaft in Bern dem Bundesamt für Polizei ein Rechtshilfeersuchen des Stellvertreters des Generalstaatsanwaltes der Russischen Föderation, Generaloberst Dejemin, vom 8. Februar 1999 und, diesem beiliegend, das Rechtshilfeersuchen des Sonderuntersuchungsführers der Untersuchungsabteilung der Militärstaatsanwaltschaft des Moskauer Militärbezirkes Major Detischin vom 1. Dezember 1998. Darin wird um Beschlagnahme und Edition der Kontoeröffnungs- und aller einschlägigen Bankunterlagen zum Konto Nr. 001 bei der Banque Y. (im folgenden: die Bank) ersucht.
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Mit Schlussverfügung vom 10. Januar 2000 entsprach die Bundesanwaltschaft dem Rechtshilfeersuchen vollumfänglich und ordnete die Übermittlung der kompletten Bankunterlagen zu den Konten Nr. 001 von M.X. und Nr. 002 von I.X., der Ehefrau von M.X., an die Militärstaatsanwaltschaft des Moskauer Militärbezirks an.
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Gegen die Schlussverfügung und die dieser vorangegangenen Zwischenverfügungen erhoben die Ehegatten M. und I.X. am 10. Februar 2000 Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragen, die angefochtenen Verfügungen seien aufzuheben und das Rechtshilfebegehren der Militärischen Staatsanwaltschaft sei abzuweisen. Die Bundesanwaltschaft sei anzuweisen, die beschlagnahmten Kontounterlagen zurückzugeben.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen:
 
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b) Die Gewährung von Rechtshilfe in Strafsachen setzt grundsätzlich voraus, dass der ersuchende Staat für die Durchführung eines Strafverfahrens zuständig ist, d.h. die dem Rechtshilfeersuchen zugrunde liegende Tat der Strafgewalt des ersuchenden Staates BGE 126 II, 212 (214)unterliegt (ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, Bern 1999, Rz. 336 S. 256). Die Entscheidung über die Grenzen der eigenen Strafgewalt steht grundsätzlich jedem Staat selbst zu (HANS-HEINRICH JESCHECK/THOMAS WEIGEND, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Auflage, S. 164 f.; ROBERT ZIMMERMANN, a.a.O., Rz. 336 S. 256; JOSÉ HURTADO POZO, Droit pénal, partie générale I, 2. Auflage, Zürich 1997, Rz. 346 S. 121), der hierbei allerdings gewisse, vom Völkerrecht gezogene Grenzen nicht verletzen darf. Inhalt und Tragweite dieser völkerrechtlichen Grenzen sind jedoch umstritten (vgl. JESCHECK/WEIGEND, a.a.O., S. 165; HURTADO-POZO, a.a.O., Rz. 348 S. 122: nur Rechtsmissbrauchsverbot; weitergehend CONSEIL DE L'EUROPE (Hrsg.): Compétence extraterritoriale en matière pénale, Strasbourg 1990, insbes. S. 18, 21-31 ff.). Immerhin gibt es eine Reihe von Anknüpfungspunkten (sog. Prinzipien des internationalen Strafrechts), die international üblich und völkerrechtlich i.d.R. unbedenklich sind. Hierzu gehört neben dem Territorialitätsprinzip (Begehungsort auf dem eigenen Staatsgebiet) das Flaggenprinzip (Begehung der Tat an Bord eines im Staat registrierten Schiffes oder Luftfahrzeugs), das aktive Persönlichkeitsprinzip (Staatsangehörigkeit des Täters), das Domizilprinzip (inländischer Wohnsitz des Täters), das Schutzprinzip (Angriff gegen Rechtsgüter/Interessen des Staates) und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege; im Grundsatz anerkannt (wenn auch im Einzelnen umstritten) sind auch das passive Personalitätsprinzip (Tat gegen Individualrechtsgüter eines eigenen Staatsangehörigen) und das Weltrechtsprinzip bei Straftaten gegen gewisse übernationale Rechtsgüter (vgl. zu diesen Prinzipien CONSEIL DE L'EUROPE, Compétence extraterritoriale en matière pénale, a.a.O., S. 8 ff.; ANNE-MARIE LA ROSA, Dictionnaire de droit international pénal, Paris 1998, S. 6 ff.; ROBERT ZIMMERMANN, a.a.O., Rz. 337 ff. S. 256 ff.; JESCHECK/WEIGEND, a.a.O., S. 167 ff.). Völkerrechtlich zulässig ist ferner die Ausdehnung des Strafrechts und der Strafgewalt des Sendestaats auf dessen im Ausland stationierte Soldaten (vgl. DIETRICH OEHLER, Internationales Strafrecht: Geltungsbereich des Strafrechts, internationales Rechtshilferecht, Recht der Gemeinschaften, Völkerstrafrecht, 2. Aufl., Köln 1983, S. 403 ff.; LA ROSA, a.a.O., S. 8 a.E.).
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c) Fraglich ist jedoch, inwieweit und nach welchen Massstäben der ersuchte Staat die Strafgewalt bzw. die Zuständigkeit des ersuchenden Staates zur Verfolgung der Straftat überprüfen muss bzw. darf.
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BGE 126 II, 212 (215)aa) Gewisse Übereinkommen regeln diese Frage ausdrücklich. So bestimmt Art. 1 Abs. 2 des Auslieferungsvertrags zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 14. November 1990 (AVUS; SR 0.353.933.6), dass die Auslieferung für eine Straftat, die ausserhalb des Hoheitsgebiets des ersuchenden Staates begangen wurde, nur bewilligt wird, wenn eine derartige Straftat unter gleichartigen Umständen nach dem Recht des ersuchten Staates Recht bestraft würde (lit. a) oder der Verfolgte ein Staatsangehöriger des ersuchenden Staates ist oder wegen einer Straftat gegen einen Staatsangehörigen des ersuchenden Staates gesucht wird (lit. b). Dieser Vertrag kombiniert also autonome Kriterien (lit. b) mit der spiegelbildlichen Anwendung des Strafrechts des ersuchten Staates (lit. a). Eine spiegelbildliche Anwendung des Rechts des ersuchten Staates lässt auch Art. 7 Abs. 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 [EAUe; SR 0.353.1] zu; es handelt sich allerdings um eine Kann-Bestimmung, die den ersuchten Staat berechtigt, nicht aber verpflichtet, die Auslieferung abzulehnen. In der Regel wird dem ersuchten Staat das Recht eingeräumt, die Auslieferung oder die Rechtshilfe abzulehnen, wenn er selbst die Zuständigkeit zur Verfolgung der betreffenden Straftat beansprucht, insbesondere wenn bereits ein Strafverfahren hängig ist oder eine materielle strafrechtliche Entscheidung des ersuchten Staates vorliegt (vgl. Art. 7 Abs. 1, Art. 8 und 9 EAUe; Vorbehalt der Schweiz zu Art. 2 lit. a EUeR; so auch Art. 5 Abs. 1 lit. a und b, 35 Abs. 1 lit. b und 66 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen [IRSG; SR 351.1]).
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bb) Das EUeR enthält keine ausdrückliche Bestimmung über die Prüfung der Strafgewalt des ersuchenden Staates. Zwar setzt Art. 1 Abs. 1 EUeR voraus, dass es sich um ein Verfahren hinsichtlich strafbarer Handlungen handelt, "zu deren Verfolgung ... die Justizbehörden des ersuchenden Staates zuständig sind". In aller Regel genügt es hierfür jedoch, dass im ersuchenden Staat ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden ist, d.h. die Justizbehörden des ersuchenden Staates ihre Zuständigkeit nach ihrem innerstaatlichen Recht bejaht haben. Eine Prüfung anhand des Strafrechts des ersuchten Staates (entsprechend Art. 7 Ziff. 2 EAUe) lässt das EUeR nicht zu, und zur Prüfung der Strafbarkeit nach dem Recht des ersuchenden Staates sind die schweizerischen Rechtshilfebehörden gemäss Art. 64 IRSG nicht verpflichtet. Das Bundesgericht hat daraus in einem Rechtshilfeverfahren betreffend Gesellschaften BGE 126 II, 212 (216)mit Sitz in Drittstaaten gefolgert, dass der schweizerische Rechtshilferichter in der Regel nicht abzuklären hat, ob die Zuständigkeit des ersuchenden Staates gegeben sei (BGE 113 Ib 157 E. 4 S. 164 ). Diese Rechtsprechung wurde in BGE BGE 116 Ib 89 E. 2c/aa S. 92 f. bestätigt: Die Auslegung des Rechts des ersuchenden Staates sei in erster Linie Sache seiner Behörden; die Rechtshilfe dürfe daher nur in Fällen verweigert werden, in denen der ersuchende Staat offensichtlich unzuständig sei, d.h. die Justizbehörden des ersuchenden Staates ihre Zuständigkeit in willkürlicher Weise bejaht haben.
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cc) Eine andere Frage ist, inwieweit der Beschwerdeführer geltend machen kann, die Inanspruchnahme extraterritorialer Strafgewalt durch den ersuchenden Staat verstosse gegen das Völkerrecht. Diese Frage wurde in BGE 116 Ib 89 (E. 2c/bb S. 93 f.) offen gelassen, weil die fragliche Straftat (Insiderdelikt) einen hinreichenden Bezug zum ersuchenden Staat (Frankreich) aufwies und eine allfällige konkurrierende Zuständigkeit eines Drittstaates die Übermittlung von Informationen an den ersuchenden Staat nicht ausschliesse. Da das Völkerrecht den Staaten einen grossen Ermessensspielraum bei der Absteckung der Grenzen ihrer Strafgewalt einräumt (vgl. oben, E. 6b), kann eine Versagung der Rechtshilfe wegen völkerrechtswidriger Inanspruchnahme der Strafgewalt ohnehin nur in Betracht kommen, wenn der Sachverhalt keine Beziehung zu legitimen Rechtspflegeinteressen des ersuchenden Staates aufweisen würde, die Inanspruchnahme der Strafgewalt also klar rechtsmissbräuchlich wäre (JESCHECK/WEIGEND, a.a.O., S. 165).
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