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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: | |||
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22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und Mitb. sowie Y. und Mitb. gegen Regierung des Kantons Graubünden (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_806/2012 / 2C_807/2012 vom 12. Juli 2013 | |
Regeste |
Art. 4, 18 und 70 BV; Art. 3 KV/GR, Art. 2, 7 und 8 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitssprachen: Der Beschluss der Bündner Regierung vom 5. Dezember 2011, wonach ein Wechsel der Schulsprache vom Rumantsch Grischun zum Idiom oder umgekehrt grundsätzlich nur auf den Beginn der 1. Primarschulklasse erfolgen kann, berührt den Schutzbereich der Sprachenfreiheit nicht und erweist sich auch nicht als konventionswidrig. | |
Sachverhalt | |
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B. Am 5. Dezember 2011 beschloss die Regierung des Kantons Graubünden:
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"Es wird festgestellt, dass ein allfälliger Wechsel der Schulsprache vom Rumantsch Grischun zum Idiom oder umgekehrt grundsätzlich auf Beginn der 1. Primarklasse zu erfolgen hat. Ausnahmsweise kann ein entsprechender Wechsel in der Schulsprache auch für Schüler und Schülerinnen, die derzeit die 1. Primarklasse besuchen, bis spätestens zu Beginn des Schuljahres 2012/2013 vorgenommen werden, sofern dies von der Schulträgerschaft beschlossen wird. Diese Feststellung erfolgt im Sinne einer Ergänzung der Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit dem von der Regierung am 24. April 2007 bewilligten Schulversuch betreffend Ausgestaltungsphase 'Pionier' 2007 bis 2011 des Projekts 'Rumantsch Grischun in der Schule'."
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Am 19. Januar 2012 erhoben X. und Mitbeteiligte, allesamt Eltern von schulpflichtigen Kindern aus dem Münstertal, Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit dem Antrag, der Beschluss der Regierung vom 5. Dezember 2011 sei aufzuheben.
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Ebenfalls am 19. Januar 2012 erhoben Y. und Mitbeteiligte, allesamt Eltern von schulpflichtigen Kindern aus der Surselva, Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit dem gleichen Antrag.
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Mit zwei Urteilen vom 22. Mai 2012 wies das Verwaltungsgericht die beiden Beschwerden ab.
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C.a X. und Mitbeteiligte erheben mit gemeinsamer Eingabe vom 27. August 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Verfahren 2C_806/2012) mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts und den mitangefochtenen Beschluss der Regierung aufzuheben, eventualiter die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
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C.b Y. und Mitbeteiligte erheben ebenfalls Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Verfahren 2C_807/2012) mit dem nämlichen Antrag. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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(...)
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Erwägung 5 | |
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5.2 Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der Sprachenfreiheit (Art. 18 BV); entgegen der Auffassung der Vorinstanz falle auch ![]() | 19 |
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5.4 Die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV) garantiert das Recht, eine Sprache nach eigener Wahl zu benützen, insbesondere auch die Muttersprache (BGE 138 I 123 E. 5.1; BGE 136 I 149 E. 4.1; BGE 122 I 236 E. 2b; BGE 121 I 196 E. 2a; so genannte "aktive Seite der Sprachenfreiheit", vgl. REGULA KÄGI-DIENER, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 13 zu Art. 18 BV). Als Individual-Grundrecht schützt sie den Gebrauch sowohl der rätoromanischen Idiome (GIOVANNI BIAGGINI, BV, 2007, N. 6 zu Art. 70 BV) als auch des Rumantsch Grischun (MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 294; STEPHAN HÖRDEGEN, Der Freiburger Sprachenfall - Kontroverse über die Unterrichtssprache in der Schule im Lichte der Sprachenfreiheit und der Bildungschancengleichheit, AJP 2003 S. 769 f.). In diesen privaten Bereich der Sprachenfreiheit - d. h. wenn es um die Freiheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger geht, welche Sprache sie benützen und in welcher sie untereinander kommunizieren wollen - hat sich der Staat nicht einzumischen. Im öffentlichen Bereich der Sprachenfreiheit - wozu die Festlegung der Unterrichtssprache an den Schulen zweifellos gehört - können und müssen Bund, Kantone und Gemeinden dagegen tätig werden (vgl. dazu sogleich). Es geht hier um die so genannte "passive Seite der Sprachenfreiheit", also die Frage, in welcher Sprache sich die staatlichen Behörden an die Bevölkerung wenden. Dabei gilt es vorab - was gerade auch für den hier zu beurteilenden Fall mitentscheidend ist - zu beachten, dass die staatliche Festlegung der Unterrichtssprache die einzelnen Bürgerinnen und Bürger in ihrer Wahlfreiheit, in welcher Sprache sie untereinander sprechen möchten, nicht beeinträchtigt (vgl. zum Ganzen AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2013, S. 310).
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5.5 Die Sprachenfreiheit wird eingeschränkt durch das Amtssprachen- und Territorialitätsprinzip: Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen, wobei sie das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften wahren, auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der ![]() | 22 |
5.6 Das Territorialitätsprinzip gilt auch für den Unterricht an staatlichen Schulen: Die Sprache ist sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv, die Schulsprache für die Identitätsbildung des einzelnen Kindes wie auch für den Fortbestand einer Sprachgemeinschaft von erheblicher Bedeutung (BGE 100 Ia 462 E. 4 S. 469 f.; THOMAS FLEINER, Sprachenfreiheit, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. VII/2: Grundrechte in der Schweiz [...], Merten/Papier [Hrsg.], 2007, S. 406 f., 412 f.; HÖRDEGEN, a.a.O., S. 770 f.; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 302; TSCHANNEN, a.a.O., S. 230 Rz. 30; BARBARA WILSON, La liberté de la langue des minorités dans l'enseignement, 1999, S. 113 f.). Das Interesse am Fortbestand einer Sprachgemeinschaft kann dem Interesse des Einzelnen, in einer bestimmten Sprache unterrichtet zu werden, entgegenstehen (BGE 138 I 123 E. 5.2 und 8). Zudem geht es beim Unterricht an staatlichen Schulen nicht um eine Einschränkung der Sprachenfreiheit als Abwehrgrundrecht, sondern um einen Leistungsanspruch gegenüber dem Staat im Rahmen von Art. 19 und 62 Abs. 2 BV, wobei neben dem Anliegen der Bewahrung sprachlich homogener Territorien auch der Aspekt der finanziellen Belastung des Gemeinwesens zu beachten ist (vgl. generell zu Art. 19 und 62 BV: ![]() | 23 |
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Dort verwenden die Behörden die Amtssprachen in ihren Standardformen (Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 5. Oktober 2007 über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften [Sprachengesetz, SpG; SR 441.1]), worunter grundsätzlich die Hochsprache gemeint ist (SÉBASTIEN MORET, Vielsprachigkeit und Sprachenordnung am Beispiel der Schweiz: ein Beitrag unter Berücksichtigung des neuen Sprachengesetzes; in: Kultur und Kunst, 2010, S. 92). In Bezug auf das Rätoromanische legt Art. 6 Abs. 3 SpG fest, dass sich Personen rätoromanischer Sprache in ihren Idiomen oder in Rumantsch Grischun an die Bundesbehörden wenden können; diese antworten in Rumantsch Grischun. Vor Bundesgericht wird das Verfahren auf Rumantsch Grischun geführt (Art. 54 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 139 II 145; BGE 122 I 93 E. 1).
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1 Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch sind die gleichwertigen Landes- und Amtssprachen des Kantons.
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2 Kanton und Gemeinden unterstützen und ergreifen die erforderlichen Massnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache. Sie fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.
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Die Beschwerdeführer machen nicht geltend (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG), dass in dem von ihnen angerufenen Art. 3 der Verfassung mit dem Rätoromanischen nur die Idiome gemeint seien. Nach der Entstehungsgeschichte der Kantonsverfassung wollte sich der Verfassungsgeber offenbar in der Frage Idiome/Rumantsch Grischun nicht festlegen, sondern Flexibilität bewahren (RICHTER, a.a.O., S. 890 ff.).
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Angesichts dieser Umstände kann nicht gesagt werden, dass sich der verfassungsrechtliche Anspruch auf Schulunterricht in rätoromanischer Sprache spezifisch auf die Idiome bezieht. Vielmehr lässt das kantonale Verfassungsrecht (wie soeben erwähnt bewusst) offen, welche Version des Rätoromanischen gemeint ist. Die Wahl zwischen Idiom und Rumantsch Grischun ist daher eher eine sprachpolitische als eine grundrechtliche Frage. Dafür spricht auch, dass es neben den Beschwerdeführern, welche die Rückkehr zum Idiom anstreben, vermutlich auch (wenn auch wohl minderheitlich) Eltern gibt, welche lieber beim Rumantsch Grischun bleiben möchten. Die Situation ist insoweit derjenigen in der deutschsprachigen Schweiz ähnlich, wo es auch Familien gibt, welche den schweizerdeutschen Dialekt als Unterrichtssprache (zumindest in der Grundschule, wie dies in der Vergangenheit häufig, wenn nicht sogar mehrheitlich der Fall war) bevorzugen würden. Andere Eltern wiederum begrüssen, dass sich heute auch dort Hochdeutsch als Unterrichtssprache durchgesetzt hat. Würde die Festlegung einer der Versionen als Grundrechtseingriff betrachtet, hätte dies zur Folge, dass zwangsläufig immer ein Teil der Kinder in ihren Grundrechten eingeschränkt würde, da es aus finanziellen Gründen für die Gemeinden kaum als zumutbar erscheint, einen Unterricht in zwei Sprachen parallel anzubieten.
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5.8 Aus dem bisher Gesagten folgt, dass - was die aktive Seite der Sprachenfreiheit (vorne E. 5.4) betrifft - die lokalen Minderheiten durchaus einen verfassungsrechtlichen Anspruch haben, ihre Idiome zu verwenden und sich, zumal die Kantonsverfassung das "Rätoromanische" nicht näher definiert, auch in diesen Idiomen an die Behörden zu wenden (vgl. so auch ausdrücklich Art. 3 Abs. 5 des kantonalen Sprachengesetzes vom 19. Oktober 2006 [SpG/GR; BR 492.100]). Was die passive Seite der Sprachenfreiheit (wozu auch die Festlegung der Unterrichtssprache gehört, vorne E. 5.4) betrifft, ![]() | 36 |
Damit ergibt sich insgesamt, dass der streitige Beschluss, mit welchem die Freiheit der Gemeinden, zwischen Idiom und Rumantsch Grischun zu wählen, in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt wird, keinen Eingriff in die Sprachenfreiheit darstellt.
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