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Informationen zum Dokument  BGE 129 I 35 - St. Galler Schulausschluss  Materielle Begründung
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Zitiert durch:
BGE 133 I 156 - Untergymnasien

Zitiert selbst:
BGE 122 II 193 - Vollständiger Fürsorgeleistungsentzug
BGE 129 I 12 - Schulausschluss Kt. Bern
BGE 119 Ia 178 - Schwimmunterricht
BGE 103 Ia 394 - numerus clausus Basel-Landschaft

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
7. Der Beschwerdeführer macht im Hauptpunkt geltend, gem&aum ...
Erwägung 8
Erwägung 9
Erwägung 10
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher  
 
4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. M.X. gegen Schulrat der Stadt Wil, Bezirksschulrat Wil und Erziehungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
2P.81/2002 vom 7. November 2002
 
 
Regeste
 
Art. 19, 36 und 62 BV; disziplinarischer Schulausschluss.  
Voraussetzungen für die Einschränkung dieses sozialen Grundrechtsanspruches (E. 8-10).  
Das Gemeinwesen hat in der Regel eine Weiterbetreuung ausgeschlossener Grundschüler durch geeignete Personen oder öffentliche Institutionen zu gewährleisten (E. 11.2).  
Besucht der ausgeschlossene Schüler, dem ersatzweise ein Schulunterricht in einem öffentlichen Erziehungs- oder Schulheim angeboten worden ist, dennoch eine Privatschule, kann der Kanton die Übernahme der Kosten ablehnen (E. 11.4 und 11.5).  
 
Sachverhalt
 
BGE 129 I, 35 (36)A.- M.X. (geb. 1984) besuchte im Herbst 2000 die dritte Realklasse der Oberstufe Lindenhof in Wil/SG. Kurz nach Beginn der Herbstschulferien, am späten Abend des 2. Oktober 2000 (ca. 22.15 Uhr), kam es auf dem Areal der Schulanlage Lindenhof zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Hauswart und M.X. sowie drei weiteren Schülern. Der Hauswart wollte nach Reklamationen aus der Nachbarschaft die sich dort aufhaltende Gruppe von lärmenden Schülern vom Schulareal wegweisen. Im Verlauf der Auseinandersetzung schlug M.X. den Hauswart heftig mit der Faust ins Gesicht, worauf dieser verletzt zu Boden stürzte.
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B.- Gestützt auf eine Strafanzeige des Hauswartes eröffnete die Jugendanwaltschaft des Untersuchungsamtes Gossau ein Strafverfahren gegen M.X. wegen einfacher Körperverletzung.
2
C.- Der Präsident des Schulrates der Stadt Wil schloss am 18. Oktober 2000 im Sinne einer vorsorglichen Massnahme M.X. ab dem 23. Oktober 2000 bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Strafverfahrens vom Besuch des Schulunterrichts aus.
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Von Oktober 2000 bis Juli 2001 beendete M.X. das 10. Schuljahr im privaten Bildungszentrum Ortega in Wil (Schulkosten für beide Semester Fr. 9'500.-).
4
BGE 129 I, 35 (37)D.- Am 27. April 2001 verfügte der Schulrat der Stadt Wil gestützt auf Art. 55 des Volksschulgesetzes des Kantons St. Gallen (VSG/SG) den definitiven Schulausschluss von M.X. aus disziplinarischen Gründen, unter Benachrichtigung der Vormundschaftsbehörde. Weiter wurde ihm das Betreten des Schulareals Lindenhof untersagt.
5
Mit Rekurs vom 15. Mai 2001 wandte sich M.X. gegen diesen Entscheid an den Bezirksschulrat des Bezirkes Wil. Dieser trat am 5. September 2001 auf den Rekurs nicht ein bzw. wies diesen ab. Abgewiesen wurde insbesondere der Antrag auf Übernahme der Kosten für eine (Privat-)Schule.
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Den gegen diesen Entscheid gerichteten Rekurs wies der Erziehungsrat des Kantons St. Gallen mit Beschluss vom 27. Februar 2002 ab.
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E.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. April 2002 beantragt M.X., den Beschluss des Erziehungsrates des Kantons St. Gallen aufzuheben. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
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Das Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
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Der Schulrat der Stadt Wil und der Bezirksschulrat des Bezirkes Wil beantragen sinngemäss, die Beschwerde abzuweisen.
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Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen:
 
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Nach Art. 62 BV sorgen die für das Schulwesen zuständigen Kantone für den ausreichenden, allen Kindern offen stehenden, an öffentlichen Schulen unentgeltlichen obligatorischen Grundschulunterricht.
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7.3 Die Anforderungen, die Art. 19 BV an den obligatorischen Grundschulunterricht stellt ("ausreichend"), belässt den Kantonen bei der Regelung des Grundschulwesens einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Die auf Grund von Art. 19 BV geschuldete Grundschulung ist daher grundsätzlich durch ein Gesetz festzulegen (JÖRG PAUL MÜLLER, Allgemeine Bemerkungen zu den Grundrechten, § 39 N. 52, in: Verfassungsrecht der Schweiz, Hrsg. Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller, Zürich 2001). Die Ausbildung muss aber auf jeden Fall für den Einzelnen angemessen und geeignet sein (BGE 117 Ia 27 E. 6a) und genügen, um die Schüler angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten; dies bedingt auch eine Mindestdauer der Schulpflicht, wobei sich die Kantone auf eine Mindestdauer von neun Jahren geeinigt haben (Art. 2 lit. b des Konkordates vom 29. Oktober 1970 über die Schulkoordination, vom Bundesrat genehmigt am 14. Dezember 1970, dem der Kanton St. Gallen 1971 beigetreten ist [SR 411.9]). Der Unterricht muss grundsätzlich am Wohnort der Schüler erteilt werden; die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Schulort darf den Zweck der ausreichenden Grundschulausbildung nicht gefährden. Behinderte Kinder haben ebenfalls Anspruch auf eine kostenlose, ihren Fähigkeiten angepasste Schulung (ULRICH MEYER-BLASER/THOMAS GÄCHTER, a.a.O., § 34 N. 32 ff.). Damit ergibt sich aus Art. 19 BV BGE 129 I, 35 (39)ein Anspruch auf eine den individuellen Fähigkeiten des Kindes und seiner Persönlichkeitsentwicklung entsprechende unentgeltliche Grundschulbildung (vgl. BGE 117 Ia 27 E. 5b, 6). Der Anspruch wird verletzt, wenn die Ausbildung des Kindes in einem Masse eingeschränkt wird, dass die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt ist bzw. wenn es Lehrinhalte nicht vermittelt erhält, die in der hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten (BGE 119 Ia 178 E. 8a S. 194 f.).
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7.4 Art. 19 BV bezieht sich nur auf die (öffentliche) Grundschule (d.h. Mittelschulen [bspw. Untergymnasium] ausgenommen) während der obligatorischen Schulzeit (vgl. Urteil 1P.277/2000 vom 26. Oktober 2000, E. 3b; vgl. REGINA KIENER, Bildung, Forschung und Kultur, in: Verfassungsrecht der Schweiz, § 57 N. 7; PETER SALADIN/MARTIN AUBERT, Sozialverfassung, in: Walter Kälin/Urs Bolz, Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 97 f.; HERBERT PLOTKE, Bildung und Schule in den kantonalen Verfassungen, in: Strukturen des schweizerischen Bildungswesens, Beiheft zur ZSR, Basel 1994, S. 65; PIUS GEBERT, Das Recht auf Bildung nach Art. 13 des UNO-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Diss. St. Gallen 1996, S. 374; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, Bern 1999, S. 651 f.; vgl. BGE 103 Ia 394 E. 2a). Nicht vom verfassungsrechtlichen Anspruch erfasst werden die an die obligatorische Schulzeit anschliessenden Bildungsstufen beispielsweise an Mittelschulen oder Seminarien (vgl. URS BOLZ, in: Walter Kälin/Urs Bolz, Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, N. 12 zu Art. 29 BV, S. 318).
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Art. 19 BV gewährleistet somit jedem Kind eine unentgeltliche, seinen Fähigkeiten entsprechende Grundschulbildung während der obligatorischen Schulzeit von mindestens neun Jahren (vgl. PETER SALADIN/MARTIN AUBERT, Sozialverfassung, in: Walter Kälin/Urs Bolz, Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, S. 97 f.).
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7.5.1 Im angefochtenen Entscheid wird dazu ausgeführt, dem Beschwerdeführer stehe grundsätzlich ein Anspruch auf neun Jahre BGE 129 I, 35 (40)staatlich bezahlten Volksschulunterricht zu; dieser könne unter den Voraussetzungen von Art. 36 BV beschränkt werden. Aus der Begründung ergibt sich jedoch weiter, dass der Erziehungsrat den Umstand, dass der Beschwerdeführer die Volksschule bereits während mehr als neun Jahren besucht hatte, nicht berücksichtigt hat.
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7.5.2 Das Erziehungsdepartement des Kantons St. Gallen hat in seinen Vernehmlassungen ausgeführt, der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht werde bezüglich seiner Dauer im Kanton St. Gallen durch Art. 48 VSG/SG konkretisiert. Danach dauere die Schulpflicht - und damit auch der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Volksschulunterricht - grundsätzlich bis zum Abschluss der dritten Oberstufenklasse. Die Schulpflicht gelte jedoch nicht absolut. Nach Art. 49 und 50 VSG/SG könne unter bestimmten Voraussetzungen die vorzeitige Entlassung bzw. Befreiung von der Schulpflicht verfügt werden. Der disziplinarische Ausschluss von der öffentlichen Volksschule nach Art. 55 Abs. 2 VSG/SG beende demgegenüber die Schulpflicht nicht. Da in letzterem Fall die Vormundschaftsbehörde zu benachrichtigen sei, gehe aber die Verantwortung für das Wohl des Kindes und für dessen Beschulung vom Träger der öffentlichen Volksschule auf die Vormundschaftsbehörde über. Diese habe nach den Vorschriften des Schweizerischen Zivilgesetzbuches abzuklären, ob geeignete Kindesschutzmassnahmen vorzunehmen seien; allenfalls habe die Jugendstaatsanwaltschaft geeignete Massnahmen zu treffen. Im Vordergrund stehe bei einem noch schulpflichtigen Kind die Einweisung in eine stationäre Struktur, namentlich ein Schulheim.
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Unter dem Kapitel "IV. Schüler, 1. Schulpflicht", Randtitel "Dauer" bestimmt zunächst Art. 48 VSG/SG unter "a) allgemein", dass die Schulpflicht bis zum Abschluss der dritten Oberstufenklasse dauere. Unter dem Randtitel "b) vorzeitige Entlassung" kann davon aus wichtigen Gründen abgewichen werden, sofern ein Schüler neun Jahre die Schule besucht hat. Gemäss Art. 55 VSG/SG kann der BGE 129 I, 35 (41)Schulrat gegen Schüler, deren Verhalten zu Beanstandungen Anlass gibt, als schwerste Disziplinarmassnahme den Ausschluss von der Schule verfügen; in diesem Fall ist nach Art. 13 der kantonalen Verordnung über den Volksschulunterricht vom 11. Juni 1996 (Volksschulverordnung, VVU/SG) die Vormundschaftsbehörde zu benachrichtigen.
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Die Schulgemeinden sind Träger der öffentlichen Volksschule (Art. 4 Abs. 1 VSG/SG). Der kommunale Schulrat organisiert und führt die Schule (Art. 111 VSG/SG). Die Zuständigkeit des Schulrates beschränkt sich somit auf den Bereich der jeweiligen Schulgemeinde. Dies hat zur Folge, dass der Ausschluss zwar nur für die betreffende Schulgemeinde gilt; ein ausgeschlossener Schüler muss aber erst durch eine andere Schulgemeinde aufgenommen werden, bevor er weiter zur Schule gehen kann, was grundsätzlich einen Wechsel des Aufenthaltsortes voraussetzt (vgl. Art. 52 f. VSG/SG).
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BGE 129 I, 35 (42)Diese Konsequenz unterstreicht zwar die Schwere der Massnahme, hat indessen keine direkten rechtlichen Auswirkungen. Insofern enthält der Entscheid der kantonalen Behörden keine einzelfallbezogene anfechtbare Anordnung, sondern orientiert bloss über die sich aus dem Gesetz ergebenden Folgen eines Ausschlusses.
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Erwägung 8
 
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Der Beschwerdeführer bestreitet dies sinngemäss, indem er geltend macht, er habe einen absoluten Anspruch auf unentgeltlichen Volksschulunterricht bis zum Abschluss der dritten Oberstufenklasse.
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8.2 Art. 36 BV, welcher die kumulativ erforderlichen Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten aufzählt, ist im Wesentlichen auf Freiheitsrechte zugeschnitten. Bei den Sozialrechten kommen nach der neueren Lehre die Bestimmungen über die Einschränkung von Grundrechten nicht zur Anwendung. Rechtliche Einschränkungen sozialer Grundrechte als Mindeststandards und damit auch des Anspruches auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht sind somit grundsätzlich ausgeschlossen. Soziale Grundrechte bedürfen jedoch regelmässig der Konkretisierung durch den Gesetzgeber und den Richter. Solche Konkretisierungen schliessen zwangsläufig auch gewisse Einschränkungen mit ein. Ihre Grenze, die auch bei der Konkretisierung durch den Richter zu beachten ist, finden die verfassungsrechtlich gewährleisteten sozialen Minimalansprüche namentlich in der Leistungsfähigkeit des Staates (vgl. BGE 129 I 12 E. 6.2 f. S. 19 mit Hinweisen auf die Lehre).
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Stehen konkretisierende Einschränkungen von sozialen Grundrechtsansprüchen in Frage, ist im Einzelfall in sinngemässer Anwendung von Art. 36 BV zu prüfen, ob die Erfordernisse der gesetzlichen Basis (Art. 36 Abs. 1 BV), des überwiegenden öffentlichen oder privaten Interesses (Abs. 2) sowie der Verhältnismässigkeit (Abs. 3) erfüllt sind, wobei - analog zu den Freiheitsrechten - der Kernbereich des Verfassungsanspruches in jedem Fall gewahrt bleiben muss. Ist in solchem Zusammenhang eine Abwägung zwischen den in Frage stehenden öffentlichen Interessen und den Individualinteressen vorzunehmen, kann dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit mitunter die Funktion eines Untermassverbotes zukommen (vgl. BGE 129 I 12 E. 6.4 S. 20).
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BGE 129 I, 35 (43)Der Schulausschluss auf unbestimmte Dauer stellt einen schweren Eingriff in das verfassungsmässige Recht auf unentgeltlichen Grundschulunterricht dar. Das Bundesgericht prüft deshalb auch die Auslegung und Anwendung des einschlägigen kantonalen Rechts grundsätzlich mit freier Kognition (BGE 123 I 313 E. 2b S. 317; BGE 121 I 326 E. 2b S. 329; BGE 106 Ia 100 E. 6c S. 106; je analog). Den kantonalen Behörden steht bei der Wahl von Disziplinarmassnahmen jedoch ein Ermessensspielraum zu, geht es dabei doch um die Würdigung besonderer persönlicher Umstände und schulischer Verhältnisse, die die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken. Das Bundesgericht übt deshalb eine gewisse Zurückhaltung und greift nur ein, wenn die kantonalen Behörden diesen Spielraum überschritten haben (vgl. BGE 101 Ia 172 E. 3).
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Erwägung 9
 
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Auf Grund des Obligatoriums des Grundschulunterrichts besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einem geordneten Schulbetrieb und der regelmässigen Erfüllung der Schulpflicht. Dieses öffentliche Interesse überwiegt in aller Regel die privaten Interessen der einzelnen Schüler und rechtfertigt gewisse Einschränkungen, insbesondere Disziplinarmassnahmen. Dabei sind nicht nur Disziplinarmassnahmen zulässig, die zum Ziel haben, einen geordneten Schulbetrieb unmittelbar sicherzustellen; sie können auch präventiv-erzieherische Zwecke verfolgen. Sie dürfen jedoch nicht dazu dienen, schlechte Leistungen der Benutzer zu ahnden (BGE 129 I 12 E. 8.3 S. 22).
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Die Schule erbringt ihre Leistungen nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse der Schüler. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben hat eine öffentliche Schule von einer Gesamtsicht auszugehen. Sowohl in der Vermittlung des Lehrstoffes als auch bei ihrer Organisation muss sie sich an einen möglichst breiten gemeinsamen Nenner halten, und sie hat die Kohärenz der Schulklassen und des Unterrichts zu gewährleisten. Die Berücksichtigung von Interessen einzelner Schüler findet daher dort ihre Schranken, wo ein geordneter und effizienter Schulbetrieb nicht mehr aufrechterhalten werden kann und dadurch der Ausbildungsauftrag der Schule in Frage gestellt wird. Die Ausübung des Anspruches auf einen den BGE 129 I, 35 (44)individuellen Fähigkeiten entsprechenden Grundschulunterricht durch einen Schüler wird insoweit durch den entsprechenden Anspruch der anderen Schüler begrenzt. Wird der geordnete Schulbetrieb durch einen Schüler derart gestört, dass dadurch der Bildungsauftrag der Schule gegenüber anderen Schülern der Klasse oder des betreffenden Schulhauses in Frage gestellt wird, liegt der vorübergehende Ausschluss des Störers vom Unterricht sowohl im öffentlichen Interesse als auch im (überwiegenden) privaten Interesse der übrigen Schüler an einer genügenden unentgeltlichen Schulbildung (BGE 129 I 12 E. 8.4 S. 23).
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9.2 Im angefochtenen Entscheid wird dargelegt, dass der Beschwerdeführer - nebst dem Faustschlag ins Gesicht des Schulhauswartes - innerhalb und ausserhalb des Unterrichts immer wieder zu Beanstandungen Anlass gegeben habe; aus den Akten gehe zudem hervor, dass der Schulrat ihm gegenüber in den Jahren 1999 und 2000 mehrere schriftliche Beanstandungen sowie ein Skilagerverbot als Folge nicht akzeptablen Verhaltens habe aussprechen müssen. Erschwerend falle in Betracht, dass er durch seinen tätlichen Übergriff auch die Ordnungs- und Kontrollfunktion des Schulhauswartes grob missachtet habe. Dieser übe faktisch eine Disziplinargewalt gegenüber den Schülern aus; er sei befugt, Personen vom Schulareal wegzuweisen und die Einhaltung der Vorschriften über die Benützung der Schulanlagen durch Dritte zu überwachen. Dass sich der Vorfall mit dem Schulhauswart in der schulfreien Zeit ereignet habe, sei unerheblich. Denn die Schüler hätten sich gemäss Art. 54 VSG/SG in Schule und Öffentlichkeit anständig und rücksichtsvoll zu verhalten. Die Schule könne daher gestützt auf ihren erzieherischen Auftrag auch Verhaltensfehler, schlechte Gewohnheiten und unanständiges Benehmen eines Schülers ausserhalb der Schule sanktionieren. Der in Frage stehende Vorfall habe sich auf dem Schulareal abgespielt und der Beschwerdeführer sei als Schüler der Disziplinargewalt des Schulrates Wil unterstanden, womit zwischen dem disziplinarrelevanten Ereignis und der öffentlichen Volksschule in zeitlicher, räumlicher und persönlicher Hinsicht ein hinreichender Anknüpfungspunkt bestanden habe. Durch sein disziplinarisch auffälliges Verhalten habe der Beschwerdeführer dazu beigetragen, den Bildungsanspruch seiner Mitschüler zu schmälern.
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BGE 129 I, 35 (45)9.4 Er verkennt damit, dass sich der Ausschluss insbesondere auch auf sein früheres Verhalten stützt, welches unbestrittenermassen bereits mehrmals zu Beanstandungen Anlass gegeben hat. So habe er den Unterricht und die Konzentration der Mitschüler der Klasse oft gestört, sei er gegenüber Lehrkräften oder Mitschülern übellaunig aufgetreten, habe er oft den Unterricht boykottiert oder gestört. Er habe sich kaum an Regeln und Pflichten gehalten, die im Klassenzimmer und in der Schule gelten. Beispielsweise könne er problemlos weiterschwatzen, auch wenn man ihn zwei- oder dreimal ermahne. Drohe man ihm mit Strafen oder anderen Massnahmen, könne die Situation relativ schnell eskalieren; er lasse sich nichts befehlen.
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Das Verhalten des Beschwerdeführers wurde bereits am 10. März 1999 schriftlich beanstandet und ein weiteres Mal am 25. März 1999. Aus demselben Grund wurde am 25. November 1999 ein Skilagerverbot ausgesprochen. Am 31. Mai und 6. Juni 2000 beanstandete der Schulrat das Verhalten des Beschwerdeführers erneut schriftlich.
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Erwägung 10
 
Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit ist nach Möglichkeit zunächst die jeweils weniger einschneidende Massnahme zu treffen (vgl. BGE 122 II 193 E. 3b/bb S. 200). Der Ausschluss aus disziplinarischen Gründen ist daher erst zulässig, wenn weniger weit gehende Massnahmen, verbunden mit der Androhung des Ausschlusses, nicht den gewünschten Erfolg gezeigt haben, es sei denn, der Disziplinarverstoss sei so schwer, dass der fehlbare Schüler untragbar für die Schule geworden ist und diese, sofern der Schüler nicht entfernt wird, ihre Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen kann (BGE 87 I 337 E. 4b S. 341). Der Ausschluss kommt somit nur als letzte und schärfste Massnahme (ultima ratio) in Frage. Auch seine Dauer muss der Situation angemessen sein.
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Erwägung 11
 
Der Beschwerdeführer macht dazu geltend, er habe auch bei einem Ausschluss vom öffentlichen Schulbesuch Anspruch auf staatlich bezahlten Abschluss der dritten Oberstufenklasse bzw. auf staatlich bezahlten Ersatzunterricht. Wenn die zuständige Behörde einen Schüler während der Anspruchsdauer ausschliesse, müsse sie einen staatlich finanzierten Ersatz anbieten. Ein Ausschluss, der nicht durch bezahlten Ersatzunterricht kompensiert werde, verletze Art. 19 BV.
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Damit ist davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer nach dem Schulausschluss ersatzweise ein Schulunterricht in einer anderen staatlichen Einrichtung angeboten worden ist, der - wie grundsätzlich jeder Schulbesuch in einem Erziehungs- oder Schulheim - jedenfalls als ausreichend im Sinne von Art. 19 BV zu bezeichnen ist. Der Beschwerdeführer hat jedoch auf das ihm unterbreitete, nach dem Vorgefallenen zumutbare Angebot verzichtet.
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