VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 81 I 52  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG sind die Gründe, auf die ei ...
2. Für die in der Beschwerde aufgeworfene Frage der ört ...
3. Richtig ist, dass das Landgericht Lindau als Sitz der beklagte ...
4. Die Rüge, der Staatsvertrag sei verletzt worden durch Nic ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
10. Urteil vom 6. April 1955 i.S. Bühler-Meyer & Co. gegen Tierzin G.m.b.H. und Obergerichtspräsidium des Kantons Appenzell A.Rh.
 
 
Regeste
 
1. Staatsrechtliche Beschwerde: Die Verweisung auf Rechtsschriften, die im kantonalen Verfahren eingereicht worden sind, ist keine genügende Begründung (Erw. 1).  
3. Art. 4 BV: Ist es willkürlich, in der am Sitz der Hauptniederlassung des Schuldners in der Schweiz eingeleiteten Betreibung für Ansprüche aus dem Betriebe einer deutschen Zweigniederlassung die Rechtsöffnung gestützt auf ein Urteil des deutschen Richters zu erteilen, das sich der Form nach gegen die Zweigniederlassung richtet? (Erw. 3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 81 I, 52 (53)A.- Am 4. Januar 1949 schloss die Beschwerdeführerin, Firma Bühler-Meyer & Co., Lutzenberg (Appenzell A.Rh.), mit der Firma Angora-Wolle-G.m.b.H., Schlehdorf am Kochelsee (Deutschland), die mit der heute im Konkurs befindlichen Tierzin G.m.b.H. identisch ist, einen "Lohn-Fabrikations-Vertrag" ab.
1
Die geschäftlichen Beziehungen auf Grund dieses Vertrages führten zum Prozess. Im Mai 1952 reichte der Verwalter im Konkurs der Tierzin G.m.b.H. beim Landgericht München Klage gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co., Lindau/Bds." ein, wobei er sich auf eine Gerichtsstandsvereinbarung BGE 81 I, 52 (54)berief. Auf Ladung hin, die an die Adresse der in der Klage aufgeführten Beklagten zugestellt wurde, teilte die Beschwerdeführerin dem Landgericht München mit, dass ihre Zweigniederlassung in Lindau/B. mit der Klägerschaft nichts zu tun habe und dass ausserdem die örtliche Zuständigkeit dieses Gerichts bestritten werde, weshalb der Ladung nicht Folge geleistet werde. Am 20. August 1952 erklärte sich das Landgericht München für örtlich unzuständig und verwies auf Antrag des Klägers den Rechtsstreit an das Landgericht Lindau.
2
Am 21. November 1952 schrieb ein Herr Hummel, ehemaliger Vertreter der Lmdauer Zweigniederlassung der Beschwerdeführerin, dem Landgericht Lindau, dass dieser Zweigbetrieb erloschen sei. Hievon in Kenntnis gesetzt, erklärte die Klagepartei dem Gericht, dass die Klage gegen die Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg gerichtet werde. Diese verweigerte die Annahme der ihr daraufhin zugestellten gerichtlichen Ladung. Durch Versäumnisurteil vom 17. April 1953 verpflichtete das Landgericht Lindau sie, dem Kläger DM 4187.38 nebst 5% Zins seit Klageerhebung zu zahlen; ferner wurden ihr die Kosten des Rechtsstreites auferlegt. Die Beschwerdeführerin erhob Einspruch, wobei sie die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau bestritt und ausserdem bemängelte, dass die Vorladung an sie statt an die Filiale in Lindau gerichtet worden sei. Der Ladung zur Verhandlung über den Einspruch gab sie wiederum keine Folge. Am 10. August 1953 fällte das Landgericht Lindau ein zweites Versäumnisurteil, womit es den Einspruch verwarf und der Beklagten auch die Kosten des Einspruchsverfahrens auferlegte.
3
Mit Eingabe vom 16. März 1954 machte die Klagepartei das Landgericht Lindau darauf aufmerksam, dass das erste Versäumnisurteil die Beklagte richtigerweise mit der Adresse Lutzenberg/Schweiz, das zweite dagegen irrtümlich mit der Adresse der früheren Lindauer Niederlassung aufführe; sie beantragte, "der offensichtliche Schreibfehler" sei von Amtes wegen zu berichtigen. Das Gericht BGE 81 I, 52 (55)forderte sie auf, die Voraussetzungen der §§ 21 und 727 ZPO (Gerichtsstand der Niederlassung; Vollstreckungsklausel bei Rechtsnachfolge) nachzuweisen. Schliesslich, am 2. Oktober 1954, ordnete es das Ruhen des Verfahrens an.
4
B.- Inzwischen, am 18. Februar 1954, hatte die Klagepartei beim Betreibungsamt Lutzenberg gegen die Beschwerdeführerin gestützt auf die beiden Versäumnisurteile Betreibung eingeleitet. Der Präsident des Bezirksgerichtes Vorderland (Appenzell A.Rh.) erteilte ihr definitive Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 5360.97 nebst Zins und Kosten.
5
Auf Appellation der Beschwerdeführerin hin bestätigte der Obergerichtspräsident des Kantons Appenzell A.Rh. diesen Entscheid am 4. Dezember 1954. Er führte aus, das Landgericht Lindau sei nach Art. 2 Ziff. 4 des Abkommens zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 2. November 1929 zur Beurteilung der Klage zuständig gewesen, da die Beschwerdeführerin für Ansprüche aus dem Betriebe der dortigen Zweigniederlassung belangt worden sei. Auf den Zeitpunkt der Klageeinleitung komme es nach dem Staatsvertrag nicht an. Dieser sei auch in anderer Beziehung nicht verletzt. Die Zulässigkeit von Klageänderungen in bezug auf Gerichtsstand und Parteiwechsel richte sich ausschliesslich nach deutschem Prozessrecht. Unerheblich sei auch, dass die beiden Versäumnisurteile die Beklagte verschieden anschreiben; es handle sich lediglich um deren Adresse.
6
C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt die Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg, der Entscheid des Obergerichtspräsidenten sei aufzuheben und die definitive Rechtsöffnung für die in Frage stehende Forderung zu verweigern. Sie macht geltend, das Landgericht Lindau habe sich auf das allen prozessualen Regeln widersprechende Begehren der Gegenpartei eingelassen, die ursprünglich BGE 81 I, 52 (56)gegen die deutsche Zweigniederlassung gerichtete Klage in eine solche gegen die "Hauptfirma" in Lutzenberg abzuändern. Das die abgeänderte Klage gutheissende erste Versäumnisurteil verletze die in Art. 59 BV ausgesprochene Garantie des Wohnsitzrichters. Gegen diese Verfassungsbestimmung verstosse es daher auch, gestützt auf jenes Urteil die Rechtsöffnung zu bewilligen. Auf Einsprache der Beschwerdeführerin hin habe das Landgericht Lindau das erste Urteil "einfach von sich aus in willkürlicher Weise in ein zweites Versäumnisurteil vom 10. August 1953 gegen die deutsche Zweigniederlassung abgeändert", die damals gar nicht mehr bestanden habe. Da somit der Gerichtsstand der Zweigniederlassung nicht mehr in Frage gekommen sei, fehle dem zweiten Versäumnisurteil die Grundlage. "Der Staatsvertrag hatte nach der Auflösung der Zweigniederlassung überhaupt keine Bedeutung mehr". Das Abstellen auf die Versäumnisurteile sei willkürlich. Das Vorgehen der deutschen Gerichte widerspreche "allen prozessualen Regeln, welche stillschweigend als Grundlage des Staatsvertrages zu betrachten sind". Der angefochtene Entscheid verletze daher auch den Staatsvertrag. Zur eingehenden Begründung berufe sich die Beschwerdeführerin auf ihre Eingaben im Verfahren vor dem Obergerichtspräsidenten.
7
D.- Der Obergerichtspräsident hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Der Verwalter im Konkurs der Tierzin G.m.b.H. beantragt Abweisung der Beschwerde.
8
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1. Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG sind die Gründe, auf die eine staatsrechtliche Beschwerde gestützt wird, in der Beschwerdeschrift selbst anzuführen. Es genügt nicht, in dieser Eingabe auf Rechtsschriften zu verweisen, die im kantonalen Verfahren eingereicht worden sind. Nach der Rechtsprechung gilt dies jedenfalls dann, wenn die Kognition des Bundesgerichts nicht dieselbe ist wie diejenige der kantonalen Behörde (BGE 71 I 377). Indes besteht BGE 81 I, 52 (57)kein zureichender Grund, solche Verweisungen dort zu berücksichtigen, wo das Bundesgericht, wie hier hinsichtlich der Frage der Verletzung des Art. 59 BV und des Staatsvertrages mit Deutschland vom 2. November 1929 (BGE 77 I 47Erw. 4,BGE 78 I 358Erw. 1), freie Prüfungsbefugnis hat. Auch in solchen Fällen ist dem Staatsgerichtshof nicht zuzumuten, aus kantonalen Rechtsschriften dasjenige zusammenzusuchen, was sich allenfalls zur Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde verwerten liesse (vgl.BGE 71 I 377). Dass Art. 90 Abs. 1 lit. b OG eine "kurz gefasste" Darlegung der Beschwerdegründe verlangt, nötigt den Beschwerdeführer nicht, sich mit Hinweisen auf Eingaben im kantonalen Verfahren zu behelfen. Er kann sich kurz fassen, ohne dem Bundesgericht die Arbeit in unzumutbarer Weise zu erschweren. Auf die vorliegende Beschwerde kann deshalb insoweit, als sie sich auf Eingaben im Verfahren vor dem Obergerichtspräsidenten bezieht, nicht eingetreten werden.
9
10
Hier kommt Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages in Betracht, wonach in vermögensrechtlichen Streitigkeiten die Zuständigkeit der Gerichte des Staates, in dem die Entscheidung gefällt wurde, begründet ist, wenn der Beklagte am Orte seiner geschäftlichen Niederlassung oder Zweigniederlassung für Ansprüche aus dem Betriebe dieser Niederlassung belangt worden ist. Sofern die Voraussetzungen dieser Bestimmung - die unter Berücksichtigung des Art. 59 BV und der einschlägigen Rechtsprechung aufgestellt BGE 81 I, 52 (58)worden ist (BBl. 1929 I S. 534) - erfüllt sind, ist die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau zu bejahen. Die Beschwerdeführerin beruft sich nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, auf den Vorbehalt am Ende des Art. 1 des Staatsvertrages, wonach eine nach Massgabe des Art. 2 begründete Zuständigkeit des Richters des Urteilsstaates im Vollstreckungsstaat nicht anzuerkennen ist, wenn nach dessen Recht für seine Gerichte eine ausschliessliche Zuständigkeit besteht. In der Tat steht der Vorbehalt hier der Zuständigkeit des deutschen Richters nicht im Wege, wenn sie nach Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages gegeben ist. Insbesondere kann die Beschwerdeführerin in diesem Falle aus Art. 59 BV nichts zu ihren Gunsten ableiten. Ist der deutsche Richter nach Art. 2 Ziff. 4 des Abkommens zuständig, so ist er es auch unter dem Gesichtspunkte des Art. 59 BV.
11
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, in Lindau eine Zweigniederlassung im Sinne des Staatsvertrages - und der bundesgerichtlichen Praxis zu Art. 59 BV (BGE 77 I 123) - unterhalten zu haben. Ebensowenig behauptet sie, die Klage betreffe nicht Ansprüche aus dem Betriebe dieser Niederlassung. Dagegen rügt sie, dass das Landgericht Lindau die Abänderung der ursprünglich gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co. in Lindau" gerichteten Klage in eine solche gegen die "Firma Bühler-Meyer & Co. in Lutzenberg" zugelassen habe, nachdem das Erlöschen der Zweigniederlassung gemeldet worden sei. Sie macht indes nicht geltend, dass die Klage erst nach dieser Mitteilung in Lindau eingereicht worden sei. Mit Recht nicht. Die Zweigniederlassung in Lindau bestand noch, als das Landgericht München die bei ihm eingereichte Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit dem Landgericht Lindau zuwies. Im Zeitpunkt, wo der Rechtsstreit dergestalt beim Landgericht Lindau hängig gemacht wurde, war daher der staatsvertragliche Gerichtsstand der Zweigniederlassung für die Belangung der Beschwerdeführerin begründet. Er blieb bestehen, auch nachdem die Zweigniederlassung aufgegeben BGE 81 I, 52 (59)worden war. Es kommt auf die Verhältnisse zur Zeit der Anhängigmachung der Klage an (vgl.BGE 48 I 196,BGE 62 I 87, betreffend Art. 59 BV). Aus dem Staatsvertrage ergibt sich keine andere Lösung; genügt es doch nach Art. 2 Ziff. 1 daselbst für die Begründung der Zuständigkeit der Gerichte des Urteilsstaates, wenn der Beklagte zur Zeit der Klageerhebung (oder der Erlassung der Entscheidung) seinen Wohnsitz oder Sitz in diesem Staate hatte; entsprechend ist Ziff. 4 ebenda, betreffend den Gerichtsstand der Zweigniederlassung, zu verstehen. Dass ursprünglich in der Klage bei der Bezeichnung der Beklagten nicht deren Hauptsitz in Lutzenberg, sondern der Sitz der Zweigniederlassung, Lindau, aufgeführt worden war, ist für die Beurteilung der Frage, ob das Landgericht Lindau nach dem Staatsvertrage zuständig gewesen sei, ohne Bedeutung. Ob es zulässig war, nach Einreichung der Klage in der Anschreibung der Beklagten die Adresse der Zweigniederlassung durch diejenige des Hauptgeschäftes zu ersetzen, ist ausschliesslich eine Frage des deutschen Prozessrechts, dessen Anwendung vom Bundesgericht nicht zu überprüfen ist. Entscheidend ist, dass die Firma Bühler-Meyer & Co. am Orte ihrer deutschen Zweigniederlassung für Ansprüche aus deren Betrieb belangt wurde und dass diese Niederlassung noch bestand, als der Rechtsstreit dort anhängig gemacht wurde. Die Zuständigkeit des Landgerichts Lindau war daher nach Art. 2 Ziff. 4 des Staatsvertrages anzuerkennen.
12
3. Richtig ist, dass das Landgericht Lindau als Sitz der beklagten Firma Bühler-Meyer & Co. im ersten Versäumnisurteil Lutzenberg, im zweiten, auf Einspruch der Beschwerdeführerin erlassenen dagegen Lindau aufgeführt hat. Ob diese Änderung zulässig war, beurteilt sich wiederum nach deutschem Prozessrecht und kann daher vom Bundesgericht nicht nachgeprüft werden, auch nicht auf Willkür. Sie ist hinzunehmen, da sie vom zuständigen Gericht vorgenommen wurde. Dass in der gegen die Beschwerdeführerin eingeleiteten Betreibung gestützt auf ein BGE 81 I, 52 (60)Urteil, das sich der Form nach gegen die - nicht mehr bestehende - Zweigniederlassung richtet, definitive Rechtsöffnung erteilt wurde, mag freilich zunächst als etwas sonderbar erscheinen, ist aber bei näherer Prüfung nicht als willkürlich zu beanstanden. Für Schulden, die von Filialen von Geschäften, welche in der Schweiz domiziliert sind, eingegangen wurden, ist die Betreibung stets am Sitz der Hauptniederlassung zu führen (BGE 39 I 268; JAEGER/DAENIKER, Schuldbetreibungs- und Konkurspraxis 1911-1945, N. 3 zu Art. 46 SchKG). Wenn die von der Zweigniederlassung eingegangene Schuld, wie hier, durch Urteil festgestellt ist, muss daher auch die Möglichkeit bestehen, gegen den Schuldner, den Inhaber der Zweigniederlassung, am Orte seiner Hauptniederlassung in der Schweiz definitive Rechtsöffnung zu erwirken. Da der Filialcharakter der "Firma Bühler-Meyer & Co., Lindau" feststeht und ferner unbestritten ist, dass die im zweiten Versäumnisurteil festgestellte Schuld den Geschäftsbetrieb der Filiale betrifft, macht es nichts aus, ob das Urteil des zuständigen Gerichts auf den Namen des Hauptgeschäfts oder der Zweigniederlassung lautet; in beiden Fällen konnte jedenfalls ohne Willkür in der am Sitz der Hauptniederlassung eingeleiteten Betreibung die Rechtsöffnung erteilt werden.
13
14
Demnach erkennt das Bundesgericht:
15
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
16
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).