EuGH Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, S. I-6307 - Ministero delle Finanze / IN.CO.GE.'90 u.a.
 
Urteil
des Gerichtshofes
vom 22. Oktober 1998
In den verbundenen Rechtssachen
-- C-10/97 bis C-22/97 --
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Pretura Circondariale Rom (Italien) in den bei dieser anhängigen Rechtsstreitigkeiten
Ministero delle Finanze
gegen
IN.CO.GE.'90 Srl (C-10/97), Idelgard Srl (C-11/97), Iris'90 Srl (C-12/97), Camed Srl (C-13/97), Pomezia Progetti Appalti Srl (PPA) (C-14/97), Edilcam Srl (C-15/97), A. Cecchini & C. Srl (C-16/97), EMO Srl (C-17/97), Emoda Srl (C-18/97), Sappesi Srl (C-19/97), Ing. Luigi Martini Srl (C-20/97), Giacomo Srl (C-21/97), Mafar Srl (C-22/97) vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Folgen der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht
erläßt
Der Gerichtshof unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodriguez Iglesias, der Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), G. Hirsch und P. Jann sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, D. A. O. Edward, H. Ragnemalm, L. Sevon, M. Wathelet, R. Schintgen und K. M. Ioannou, Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer, Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, Beistand: Avvocato dello Stato Francesca Quadri, der französischen Regierung, vertreten durch Kareen Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Gautier Mignot, Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte, der Regierung des Vereinigten Königreichs, zunächst vertreten durch Lindsey Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister Rhodri Thompson, sodann durch Stephanie Ridley, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister Rhodri Thompson, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Enrico Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von IN.CO.GE.'90 Srl, Idelgard Srl, Iris'90 Srl und Sappesi Srl, vertreten durch Rechtsanwalt Gianni Manca, Rom, der italienischen Regierung, vertreten durch Avvocato dello Stato Ivo M. Braguglia, der französischen Regierung, vertreten durch Gautier Mignot, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Barrister Rhodri Thompson, und der Kommission, vertreten durch Enrico Traversa, in der Sitzung vom 19. März 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 1998 folgendes
 
Urteil
1. Die Pretura circondariale Rom hat mit 13 Beschlüssen vom 17. Dezember 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach den Folgen der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Ministero delle Finanze (Finanzministerium) und der IN.CO.GE.'90 und zwölf anderen Gesellschaften mit beschränkter Haftung (im folgenden: IN.CO.GE.'90 u.a.) wegen der Modalitäten der Erstattung der staatlichen Konzessionsabgaben für die Eintragung von Gesellschaften im Unternehmensregister (im folgenden: Konzessionsabgabe).
3. Die Konzessionsabgabe wurde durch das Dekret Nr. 641 des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972 (GURI Nr. 292 vom 11. November 1972, Supplemento Nr. 3; im folgenden: Dekret Nr. 641/72) eingeführt. Sie wurde, soweit sie die Eintragung der Gesellschaftsgründung im Register betrifft, hinsichtlich ihrer Höhe und ihres Fälligkeitszeitraums wiederholt geändert.
4. Die Konzessionsabgabe wurde zunächst wesentlich erhöht durch das Decreto-legge Nr. 853 vom 19. Dezember 1984 (GURI Nr. 347 vom 19. Dezember 1984), in ein Gesetz umgewandelt durch Gesetz Nr. 17 vom 17. Februar 1985 (GURI Nr. 41 a vom 17. Februar 1985), nach dem die Abgabe künftig nicht nur bei der Eintragung der Gründung der Gesellschaft in das Register zu entrichten war, sondern auch am 30. Juni jedes folgenden Jahres. Die Abgabensätze wurden dann erneut 1988 und 1989 anders festgesetzt. 1989 belief sie sich auf 12 Millionen LIT für Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, auf 3,5 Millionen LIT für Gesellschaften mit beschränkter Haftung und auf 500 000 LIT für die übrigen Gesellschaften.
5. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 20. April 1993 in den Rechtssachen C-71/91 und C-178/91 (Ponente Carni und Cispadana Costruzioni, Slg. 1993, I-1915), in dem es um die Konzessionsabgabe ging, entschieden, daß Artikel 10 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) so auszulegen ist, daß er es vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Ausnahmen verbietet, eine jährliche Abgabe wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften zu erheben, und zwar auch dann, wenn der Ertrag dieser Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der mit der Führung des für die Eintragung von Gesellschaften bestimmten Registers betraut ist. Der Gerichtshof hat außerdem für Recht erkannt, daß Artikel 12 der Richtlinie 69/335 so auszulegen ist, daß die in Absatz 1 Buchstabe e genannten Abgaben mit Gebührencharakter Abgaben sein können, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die Eintragung von Kapitalgesellschaften, erhoben werden. Die Höhe dieser Abgaben, die je nach der Gesellschaftsform verschieden sein kann, muß nach den Kosten des Vorgangs, die pauschal ermittelt werden können, berechnet sein.
6. Infolge dieses Urteils wurde die Konzessionsabgabe durch das Decreto-legge Nr. 331 vom 30. August 1993 (GURI Nr. 203 vom 30. August 1993), das durch das Gesetz Nr. 427 vom 29. Oktober 1993 (GURI Nr. 255 vom 29. Oktober 1993) in ein Gesetz umgewandelt wurde, für alle Gesellschaften auf 500 000 LIT gesenkt und ihre jährliche Erhebung abgeschafft.
7. IN.CO.GE.'90 u.a. erwirkten gemäß den Artikeln 633 ff. der italienischen Zivilprozeßordnung bei der Pretura Rom Mahnbescheide, mit denen dem Finanzministerium aufgegeben wurde, ihnen die Beträge zu erstatten, die sie in den vorangegangenen Jahren als Konzessionsabgabe gezahlt hatten.
8. Das Finanzministerium erhob Einspruch gegen die Mahnbescheide der Pretura Rom, mit denen es zwei Einreden geltend machte: Die Pretura sei für Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten nicht zuständig, und der Erstattungsanspruch der Klägerinnen sei, soweit es sich um mehr als drei Jahre vor Stellung des Erstattungsantrags entrichtete Beträge handele, gemäß Artikel 13 des Dekrets Nr. 641/72 erloschen.
9. Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß diesen Einreden zusammen stattzugeben ist oder daß sie zusammen zurückzuweisen sind, da sie beide damit zusammenhängen, ob der Rechtsstreit eine Abgaben- oder aber eine Zivilrechtsangelegenheit betrifft. Betrifft er nämlich eine Abgabenangelegenheit, so ist die Pretura dafür unzuständig und hat folglich die Einrede der Erlöschung des Anspruchs nicht zu prüfen. Betrifft der Rechtsstreit dagegen keine Abgabenangelegenheit, sondern fällt unter die zivilrechtliche Regelung der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge, so ist es nicht nur Sache des vorlegenden Gerichts, ihn zu entscheiden, sondern ist auch die dreijährige Frist des Artikels 13 des Dekrets Nr. 641/72 für das Erlöschen eines Anspruchs nicht anwendbar.
10. Die Pretura Rom weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Corte suprema di cassazione (Vereinigte Kammern) in ihrem Urteil Nr. 3458 vom 23. Februar 1996 entschieden habe, daß die Erstattung der Konzessionsabgabe unter die letztgenannte Vorschrift falle, da diese auf alle ohne Rechtsgrund entrichteten Abgaben unabhängig davon anwendbar sei, weshalb die rechtsgrundlose Zahlung erfolgt sei.
11. Das vorlegende Gericht stimmt dieser Auffassung jedoch nicht zu und weist darauf hin, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes das nationale Gericht gehalten sei, jede  auch spätere  dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, ohne daß es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte (Urteil vom 4. Juni 1992 in den Rechtssachen C-13/91 und C-113/91, Debus, Slg. 1992, I-3617). Im vorliegenden Fall hätte die völlige Nichtanwendung des italienischen Gesetzes, durch das die Konzessionsabgabe eingeführt worden sei, notwendigerweise zur Folge, daß es sich bei den Rechtsbeziehungen, die durch die Zahlung der streitigen Beträge zwischen dem Finanzministerium und den klagenden Firmen entstünden, nicht um eine Abgabenangelegenheit handeln würde. Da diese Beträge für eine nicht existierende Abgabe erhoben worden seien, d.h. ohne daß ein abgabenrechtlicher Anspruch des Staates bestanden habe, falle ihre Rückzahlung unter die allgemeine Regelung der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge, für die die zehnjährige Verjährungsfrist der Zivilprozeßordnung gelte.
12. Aus diesen Gründen hat die Pretura Rom das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
    Führt die Unvereinbarkeit des Artikels 3 Absätze 18 und 19 des Decreto-legge Nr. 853 vom 19. Dezember 1984, in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 17 vom 17. Februar 1985, mit Artikel 10 der Richtlinie 335/69/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 in der Auslegung des Gerichtshofes im Urteil vom 20. April 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-71/91 und C-178/91 aufgrund der vom Gerichtshof selbst aufgestellten Kriterien der Integration der nationalen Vorschriften und der Gemeinschaftsvorschriften zur vollständigen Unanwendbarkeit des Artikels 3 Absätze 18 und 19? Bedeutet diese insbesondere, daß das nationale Gericht diese innerstaatlichen Vorschriften auch bei der Qualifizierung des Rechtsverhältnisses unberücksichtigt lassen muß, in dessen Rahmen der Bürger eines Mitgliedstaats von der Finanzverwaltung die Erstattung der entgegen Artikel 10 der Richtlinie 335/69 gezahlten Beträge verlangt?
 
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
13. Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, daß der Gerichtshof für die Beantwortung der von der Pretura Rom gestellten Frage nicht zuständig sei, da sich diese auf die Auslegung des italienischen und nicht des Gemeinschaftsrechts beziehe. Denn die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von gerichtlichen Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, sei Sache der einzelnen Mitgliedstaaten (Urteile vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, und in der Rechtssache 45/76, Comet, Slg. 1989, 2043).
14. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist es nämlich Sache jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind. Unter diesem Vorbehalt ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofes, bei der Lösung von Zuständigkeitsfragen mitzuwirken, die die Qualifizierung bestimmter, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhender Rechtslagen im Bereich der nationalen Gerichtsbarkeit aufwerfen kann (Urteile vom 9. Juli 1985 in der Rechtssache 179/84, Bozzetti, Slg. 1985, 2301, Randnr. 17; vom 18. Januar 1996 in der Rechtssache C-446/93, SEIM, Slg. 1996, I-73, Randnr. 32, und vom 17. September 1997 in der Rechtssache C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 40).
15. Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem nationalen Gericht die Kriterien des Gemeinschaftsrechts aufzuzeigen, die zur Lösung der Zuständigkeitsfrage, die sich diesem Gericht stellt, beitragen können (Urteile Bozzetti, Randnr. 18, und SEIM, Randnr. 33). Zu diesem Zweck kann er gegebenenfalls der Vorlagefrage und den Darlegungen des einzelstaatlichen Gerichts die fraglichen Gesichtspunkte entnehmen (vgl. insbesondere Urteil vom 4. Dezember 1980 in der Rechtssache 54/80, Wilner, Slg. 1980, 3673, Randnr. 4).
16. Insoweit geht aus dem Vorlagebeschluß hervor, daß die Pretura Rom sich fragt, welche Konsequenzen sich aus der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht ergeben. Dabei stützt sie ihre Überzeugung, daß die bei ihr anhängigen Rechtsstreitigkeiten keine Abgabenangelegenheit beträfen, sondern im italienischen Recht unter die allgemeine Regelung der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge fielen, aufden Umstand, daß eine derartige Unvereinbarkeit dadurch, daß sie zur völligen Nichtanwendung der betreffenden nationalen Bestimmungen führe und der fraglichen Abgabe jede rechtliche Existenz nehme, notwendigerweise darauf hinauslaufe, daß diese "Abgabe" keine Abgabenangelegenheit mehr sei.
17. Daraus folgt, daß der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage zuständig ist.
 
Zur Vorlagefrage
18. Die Kommission erinnert daran, daß der Gerichtshof im Urteil vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106/77 (Simmenthal, Slg. 1978, 629) insbesondere entschieden habe, daß die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhältnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten nicht nur zur Folge hätten, daß jede zuwiderlaufende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar werde, sondern auch, daß ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert werde, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären. Die Kommission leitet daraus her, daß ein Mitgliedstaat völlig unzuständig dafür sei, eine abgabenrechliche Bestimmung zu erlassen, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sei, und daß demzufolge eine solche Bestimmung und die entsprechende abgabenrechtliche Verpflichtung als inexistent anzusehen seien.
20. Der Gerichtshof war in der Rechtssache Simmenthal insbesondere danach gefragt worden, welche Konsequenzen sich aus der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ergeben, wenn diese einer später erlassenen Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht. Ohne zwischen früher oder später ergangenem Recht zu unterscheiden, hatte er jedoch bereits in seiner früheren Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1253) ausgeführt, daß es einem Mitgliedstaat verwehrt sei, einer innerstaatlichen Vorschrift Vorrang vor einer entgegenstehenden Gemeinschaftsnorm einzuräumen. So hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal entschieden, daß jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet läßt (Urteil Simmenthal, Randnrn. 21 und 24). Diese Rechtsprechung ist mehrfach bestätigt worden (vgl. z.B. Urteil Debus, Randnr. 32; Urteile vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-158/91, Levy, Slg. 1993, I-4287, Randnr. 9, und vom 5. März 1998 in der Rechtssache C-347/96, Solred, Slg. 1998, I-937, Randnr. 30).
21. Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann deshalb aus dem Urteil Simmenthal nicht hergeleitet werden, daß die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht dazu führt, daß diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (vgl. Urteil vom 4. April 1968 in der Rechtssache 34/67, Lück, Slg. 1968, 364).
22. Offen steht noch die Frage, ob die durch ein Urteil des Gerichtshofes veranlaßte Nichtanwendung einer innerstaatlichen Regelung, durch die eine gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist, dazu führt, daß diese nachträglich ihren Abgabencharakter verliert und es sich daher bei den Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung dieser Abgabe zwischen der nationalen Finanzverwaltung und den steuerpflichtigen Gesellschaften entstanden sind, nicht mehr um eine Abgabenangelegenheit handelt.
23. Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 des Vertrages vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteile vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79, Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Randnr. 16, und vom 2. Dezember 1997 in der Rechtssache C-188/95, Fantask u.a., Slg. 1997, I-6783, Randnr. 37).
24. Nach dieser Rechtsprechung ist das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erhoben hat, Folge und Ergänzung der Rechte, die den einzelnen aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zustehen, die solche Abgaben verbieten. Der Mitgliedstaat ist somit grundsätzlich verpflichtet, die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Gebühren zu erstatten (Urteil Fantask u.a., Randnr. 38).
25. Diese Erstattung kann jedoch mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung nur unter Beachtung der in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen verlangt werden, wobei diese jedoch nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. insbesondere Urteile vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-312/93, Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 12, und vom 8. Februar 1996 in der Rechtssache C-212/94, FMC u.a., Slg. 1996, I-389, Randnr. 71).
26. So muß die Verpflichtung des nationalen Gerichts, die Erstattung einer gemeinschaftswidrig erhobenen innerstaatlichen Abgabe sicherzustellen, vorbehaltlich der Beachtung der beiden in der Rechtsprechung des Gerichtshofes aufgestellten Voraussetzungen gemäß dem innerstaatlichen Recht erfüllt werden. Demnach bestimmen sich die Festsetzung der Modalitäten der Erstattung und die zu diesem Zweck vorgenommene Qualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung dieser Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den in diesem Staat ansässigen Gesellschaften entstehen, nach nationalem Recht.
27. Außerdem steht, wie der Gerichtshof kürzlich entschieden hat, das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich Vorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die neben einer allgemeinen Verjährungsfrist, die für Klagen gegen Private auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge gilt, bei Steuern und sonstigen Abgaben besondere Beschwerde- und Klagemodalitäten vorsehen (Urteile vom 15. September 1998 in der Rechtssache C-231/96, Edis, Randnr. 37, und in der Rechtssache C-260/96, Spac, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 21).
28. Der so vom Gerichtshof anerkannten Befugnis, diese besonderen Modalitäten auch auf die Erstattung von für gemeinschaftsrechtswidrig befundenen Steuern und sonstigen Abgaben anzuwenden, würde jedoch jede Wirkung genommen, wenn, wie die Kommission geltend macht, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer nationalen Abgabe zwangsläufig dazu führen würde, daß diese ihren Abgabencharakter verliert und es sich bei den Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung der Abgabe zwischen der nationalen Finanzverwaltung und den Abgabepflichtigen entstehen, nicht mehr um Abgabenangelegenheiten handelt.
29. Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß das nationale Gericht aufgrund seiner Verpflichtung, eine innerstaatliche Regelung, durch die eine gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist, unangewendet zu lassen, Anträgen auf Erstattung dieser Abgabe grundsätzlich stattgeben muß. Die Erstattung ist gemäß den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts zu gewährleisten, wobei diese nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen; auch dürfen sie die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Eine eventuelle Neuqualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung einer später für gemeinschaftsrechtswidrig befundenen nationalen Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Gesellschaften in diesem Staat entstanden sind, unterliegt somit dem innerstaatlichen Recht.
 
Kosten
30. Die Auslagen der italienischen und der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof auf die ihm von der Pretura circondariale Rom mit Beschluß vom 17. Dezember 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Das nationale Gericht muß aufgrund seiner Verpflichtung, eine innerstaatliche Regelung, durch die eine gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist, unangewendet zu lassen, Anträgen auf Erstattung dieser Abgabe grundsätzlich stattgeben. Die Erstattung ist gemäß den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts zu gewährleisten, wobei diese nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen; auch dürfen sie die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Eine eventuelle Neuqualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung einer später für gemeinschaftsrechtswidrig befundenen nationalen Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Gesellschaften in diesem Staat entstanden sind, unterliegt somit dem innerstaatlichen Recht.
Rodriguez Iglesias, Kapteyn, Puissochet, Hirsch, Jann, Mancini, Moitinho de Almeida, Gulmann, Murray, Edward, Ragnemalm, Sevon, Wathelet, Schintgen, Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Oktober 1998.
R. Grass (Der Kanzler), G. C. Rodriguez Iglesias (Der Präsident)