EuGH Rs. C-120/95, Slg. 1998, S. I-1831 - Decker ./. Caisse de maladie des employés privés
 
Urteil
des Gerichtshofes
vom 28. April 1998
In der Rechtssache
-- C-120/95 --
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom luxemburgischen Conseil arbitral des assurances sociales in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit Nicolas Decker
gegen
Caisse de maladie des employés privés
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag
erläßt
Der Gerichtshof unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodriguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann und H. Ragnemalm (Berichterstatter) sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann,Generalanwalt: G. Tesauro Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Nicolas Decker, vertreten durch Rechtsanwälte Andrée Braun und Serge Wagner, Luxemburg, der luxemburgischen Regierung, vertreten durch den Inspecteur de la sécurité sociale première classe Claude Ewen, Ministerium der sozialen Sicherheit, als Bevollmächtigten, der belgischen Regierung, vertreten durch den Directeur d'administration Jan Devadder, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Assessor Gereon Thiele, Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte, der spanischen Regierung, vertreten durch den Generaldirektor für rechtliche und institutionelle Koordinierung in Gemeinschaftsfragen Alberto Navarro González und durch Abogado del Estado Gloria Calvo Diaz als Bevollmächtigte, der französischen Regierung, vertreten durch die Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Catherine de Salins und durch den Sekretär für auswärtige Angelegenheiten Philippe Martinet, ebenda, als Bevollmächtigte, der niederländischen Regierung, vertreten durch Rechtsberater Adriaan Bos als Bevollmächtigten, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Lindsey Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister Philippa Watson, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Hendrik van Lier und den zum Juristischen Dienst abgeordneten nationalen Beamten Jean-Francis Pasquier als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Nicolas Decker, vertreten durch Rechtsanwalt Serge Wagner, der Caisse des employés privés, vertreten durch Rechtsanwalt Albert Rodesch, Luxemburg, der luxemburgischen Regierung, vertreten durch Claude Ewen, der deutschen Regierung, vertreten durch Ernst Röder, der spanischen Regierung, vertreten durch Gloria Calvo Diaz, der französischen Regierung, vertreten durch Philippe Martinet, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Philippa Watson, und der Kommission, vertreten durch Jean-Francis Pasquier, in der Sitzung vom 2. Juli 1996,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 1997, folgendes
 
Urteil
1. Der Conseil arbitral des assurances sociales hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 5. April 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Decker, einem luxemburgischen Staatsangehörigen, und der Caisse de maladie des employés privés (Krankenkasse), in dem es um einen Antrag auf Erstattung der Kosten für eine Brille mit Korrekturgläsern geht, die bei einem Optiker in Arlon (Belgien) auf Verschreibung eines Augenarztes erworben wurde, der in Luxemburg niedergelassen ist.
3. Mit Schreiben vom 14. September 1992 teilte die Krankenkasse dem Kläger mit, sie lehne die Kostenerstattung für diese Brille ab, da sie ohne ihre vorherige Genehmigung im Ausland erworben worden sei.
4. Der Kläger wandte sich gegen diesen Bescheid, wobei er sich u.a. auf die Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Warenverkehr berief. Auf einen Widerspruch hin hielt die Krankenkasse mit Beschluß ihres Leitungsausschusses vom 22. Oktober 1992 an ihrer Auffassung fest und wies den klägerischen Antrag ab.
5. Daraufhin erhob der Kläger Klage zum Conseil arbitral des assurances sociales, die dieser mit Beschluß vom 24. August 1993 abwies.
6. Mit Schriftsatz vom 8. September 1993 erhob der Kläger gegen diesen Beschluß Einspruch zum Conseil arbitral des assurances sociales. Dieser Einspruch wurde mit Urteil vom 20. Oktober 1993 u.a. mit der Begründung zurückgewiesen, die Sache habe Bezug nicht zum freien Warenverkehr, sondern zum Recht der sozialen Sicherheit, also zu der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (durch die Verordnung [EG] Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, ABl. 1997, L 28, S. 1, geänderte und aktualisierte Fassung).
7. Der Kläger legte Kassation ein. Mit Urteil vom 12. Januar 1995 wurde das Urteil des Conseil arbitral des assurances sociales kassiert und für nichtig erklärt; die Sache ging an den Conseil arbitral des assurances sociales zurück, der mit Urteil vom 5. April 1995 entschied, daß Artikel 60 des Code des assurances sociales und Artikel 58 der Satzung der Union des caisses de maladie des salariés Anwendung fänden.
8. Artikel 60 des luxemburgischen Code des assurances sociales sieht in seiner maßgeblichen Fassung folgendes vor:
    "Der Versicherte kann sich an einen Arzt, Zahnarzt, Apotheker, an ein Krankenhaus oder an eine ärztliche Hilfsperson seiner Wahl wenden.
    Im Großherzogtum dürfen Behandlungen und Leistungen nur erbringen:
    1. Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Hebammen und ärztliche Hilfspersonen, die zur Ausübung ihres Berufes im Großherzogtum oder einem Teil davon zugelassen sind;
    2. ausländische Ärzte, die mit Zustimmung des behandelnden Arztes und des Vertrauensarztes zur Konsultation im Großherzogtum hinzugezogen werden, vorbehaltlich weitergehender völkerrechtlicher Vereinbarungen.
    Der Versicherte kann sich im Ausland nur mit Genehmigung seiner Krankenkasse behandeln lassen, soweit es sich nicht um erste Hilfe im Falle eines im Ausland eingetretenen Unfalls oder einer dort aufgetretenen Krankheit handelt.
    Die Genehmigung der Krankenkasse darf nicht versagt werden, wenn der behandelnde Arzt des Versicherten und der Vertrauensarzt eine Behandlung im Ausland empfehlen oder wenn die erforderliche Behandlung im Großherzogtum nicht möglich ist."
9. Zur fraglichen Zeit war die Übernahme von Brillengestellen und Korrekturgläsern in Artikel 78 der Satzung der Union des caisses de maladie und in der Kollektivvereinbarung vom 30. Juni 1975 geregelt, die gemäß Artikel 308 bis des Code des assurances sociales zwischen der Union des caisses de maladie und dem Berufsverband der Optiker geschlossen worden war (Kollektivvereinbarung).
10. Artikel 78 der Satzung der Union des caisses de maladie sieht vor:
    "Die Kosten für Brillen und andere Sehhilfen übernimmt die Krankenkasse nach Maßgabe der Vereinbarungen nach Artikel 308 bis des Code des assurances sociales oder entsprechender Regelungen."
11. Nach Artikel 2 der Kollektivvereinbarung vom 30. Juni 1975 erfolgt die Abgabe von Brillen an die Versicherten, soweit diese in Luxemburg ihren Wohn- oder Aufenthaltsort haben, durch Optiker, die in die luxemburgische Handwerksrolle eingetragen und im Großherzogtum niedergelassen sind, soweit nicht gemeinschafts- und völkerrechtliche Vorschriften über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihnen gleichgestellter Personen etwas anderes vorsehen.
12. Nach diesen Bestimmungen werden Kosten für Brillengestelle pauschal mit einem Satz von 1 600 LFR erstattet.
13. Der Tarif für die Erstattung von Korrekturgläsern ist im Anhang A zur Kollektivvereinbarung festgesetzt. Nach Artikel 12 der Kollektivvereinbarung werden die in Anhang A festgesetzten erstattungsfähigen Beträge für Korrekturgläser durch Bezugnahme auf die Preislisten der Firmen Zeiss und American Optical herauf- oder herabgesetzt.
14. Der Code des assurances sociales und die Satzung der Union des caisses de maladie wurden 1992 erheblich geändert. Der Grundsatz des bisherigen Artikels 60 des Code des assurances sociales über die vorherige Genehmigung der Krankenkasse für jede ärztliche Behandlung im Ausland wurde jedoch in den neuen Artikel 20 dieses Code übernommen.
15. Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
    "(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt und
    (...)
    c) der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, hat Anspruch auf:
    i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; die Dauer der Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates;
    ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.
    (2) (...)
    Die nach Absatz 1 Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert werden, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet der Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetracht seines derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit diese Behandlung nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlungen in dem Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.
    (3) Die Absätze 1 und 2 finden entsprechend auf die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers oder Selbständigen Anwendung.
    (...)"
16. Der Conseil arbitral des assurances sociales hatte Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Artikeln 30 und 36 EG-Vertrag. Er hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
    Ist Artikel 60 des luxemburgischen Code des assurances sociales, nach dem ein Träger der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats A einem Versicherten, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats A ist, die Erstattung der Kosten für eine Brille mit Brillengläsern zur Korrektur eines Sehfehlers, die von einem in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Arzt verordnet, aber bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Optiker gekauft wurde, mit der Begründung verweigern kann, daß eine medizinische Behandlung im Ausland zuvor von diesem Träger der sozialen Sicherheit genehmigt werden muß, mit den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag vereinbar, soweit er allgemein die Einfuhr von Arzneimitteln oder, wie im vorliegenden Fall, von Brillen aus anderen Mitgliedstaaten durch Privatpersonen mit einem Nachteil belegt?
17. Der Kläger und die Kommission sind der Auffassung, daß eine nationale Regelung, kraft deren einem Versicherten die Erstattung von Kosten für üblicherweise erstattete Erzeugnisse versagt wird, soweit keine vorherige Genehmigung des zuständigen Trägers der sozialen Sicherheit vorliegt, eine nicht gerechtfertigte Behinderung des freien Warenverkehrs darstellt.
18. Hingegen machen die luxemburgische, die belgische, die französische und die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, daß eine Regelung der streitigen Art nicht in den Bereich der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag fällt, da sie die soziale Sicherheit betrifft. Hilfsweise machen sie geltend, die Beibehaltung einer solchen Regelung verstoße nicht gegen diese Bestimmungen. Die letztgenannte Auffassungteilen die deutsche, die niederländische und die spanische Regierung.
 
Die Anwendung des elementaren Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der sozialen Sicherheit
20. Die luxemburgische, die belgische, die französische und die Regierung des Vereinigten Königreichs machen geltend, die streitige Regelung über die Erstattung von Behandlungskosten falle nicht unter Artikel 30 EG-Vertrag, da sie einen Teilbereich der sozialen Sicherheit betreffe.
21. Nach ständiger Rechtsprechung läßt das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt (Urteile vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 238/82, Duphar u.a., Slg. 1984, 523, Randnr. 16, und vom 17. Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95, Sodemare u.a., Slg. 1997, I-3395, Randnr. 27).
22. In Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bestimmt somit das Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen zum einen ein Recht auf Anschluß an ein System der sozialen Sicherheit oder eine Verpflichtung hierzu (Urteile vom 24. April 1980 in der Rechtssache 110/79, Coonan, Slg. 1980, 1445, Randnr. 12, und vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87, Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 15) und zum anderen ein Anspruch auf Leistung (Urteil vom 30. Januar 1997 in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95, Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511, Randnr. 36) besteht.
23. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in den Nummern 17 und 25 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht beachten.
24. So unterliegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die sich auf den Absatz medizinischer Erzeugnisse und mittelbar auf deren Einfuhrmöglichkeiten auswirken können, den Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Warenverkehr (Urteil Duphar u.a., Randnr. 18).
25. Daß die streitige Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt daher die Anwendung des Artikels 30 EG-Vertrag nicht aus.
 
Die Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71
26. Nach Auffassung der luxemburgischen Regierung stellt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 den Grundsatz auf, daß für jede Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat eine vorherige Genehmigung erforderlich ist. Die Angriffe gegen die nationalen Bestimmungen über die Übernahme im Ausland erlangter Leistungen richteten sich letztlich auch gegen die Gültigkeit der entsprechenden Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71.
27. Der Umstand, daß eine nationale Maßnahme möglicherweise einer Bestimmung des abgeleiteten Rechts -- hier dem Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 -- entspricht, hat nicht zur Folge, daß sie nicht an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen wäre.
28. Zudem soll Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie der Generalanwalt in den Nummern 55 und 57 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, dem Versicherten, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, insbesondere dann erlauben, ohne zusätzliche Kosten Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers nach den Rechtsvorschriften des Staates zu erhalten, in dem die Leistungen erbracht werden, wenn dies wegen seines Gesundheitszustands erforderlich ist.
29. Bei zweckgerichteter Auslegung regelt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 hingegen nicht den Fall, daß die Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung erbrachte Behandlung zu den Sätzen erstattet werden, die im Versicherungsstaat gelten, und hindert die Mitgliedstaaten daher nicht an einer solchen Erstattung.
30. Somit ist zu prüfen, ob eine Regelung der streitigen Art mit den Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Warenverkehr vereinbar ist.
 
Die Anwendung der Bestimmungen über den freien Warenverkehr
31. Zu erörtern ist, ob eine Regelung der streitigen Art den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindern kann (Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Randnr. 5).
32. Nach Auffassung des Klägers und der Kommission stellt es eine Beschränkung des freien Warenverkehrs im Sinne des Artikels 30 EG-Vertrag dar, daß die Übernahme medizinischer Erzeugnisse nach den Modalitäten des Rechts des Versicherungsstaats von der vorherigen Genehmigung des Trägers dieses Staates abhängig gemacht wird, wenn diese Erzeugnisse in einem anderen Mitgliedstaat abgegeben werden.
33. Die Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, machen geltend, daß eine Regelung der streitigen Art eine Beschränkung des Handelsverkehrs weder bezwecke noch bewirke, sondern nur die Bedingungen für eine Erstattung von Krankheitskosten regele. Sie führe nicht zu einem Einfuhrverbot von Brillen und wirke sich auch nicht unmittelbar auf die Möglichkeit aus, Brillen im Ausland zu erwerben. Schließlich verbiete sie es luxemburgischen Optikern nicht, Brillen und Korrekturgläser aus anderen Mitgliedstaaten zu importieren, sie zu bearbeiten und zu verkaufen.
34. Die streitige Regelung veranlaßt die luxemburgischen Sozialversicherten dazu, ihre Brillen bei Optikern im Großherzogtum und nicht in anderen Mitgliedstaaten zu erwerben und montieren zu lassen.
35. Zwar hindert die streitige Regelung die Versicherten nicht daran, medizinische Erzeugnisse in einem anderen Mitgliedstaat zu erwerben. Sie macht aber die Erstattung von Kosten, die in diesem Mitgliedstaat angefallen sind, von einer vorherigen Genehmigung abhängig, und versagt sie den Versicherten, die keine Genehmigung haben. Kosten, die im Versicherungsstaat anfallen, unterliegen hingegen keiner solchen Genehmigung.
36. Eine derartige Regelung stellt ein Hindernis für den freien Warenverkehr dar, da sie die Sozialversicherten dazu veranlaßt, diese Erzeugnisse im Großherzogtum und nicht in anderen Mitgliedstaaten zu erwerben, und daher geeignet ist, die Einfuhr in diesen Staaten montierter Brillen zu hemmen (Urteil vom 7. Mai 1985 in der Rechtssache 18/84, Kommission/Frankreich, Slg. 1985, 1339, Randnr. 16).
37. Die luxemburgische Regierung trägt freilich vor, daß der freie Warenverkehr nicht absolut zu setzen sei und die streitige Regelung, die der Kontrolle der verbindlich zu erstattenden Gesundheitskosten dienen solle, aus diesem Grund gerechtfertigt sei.
38. Der Kläger hält dem entgegen, bei Erstattung seines Kaufes werde das Budget der Krankenkasse in gleicher Höhe belastet, da diese nur einen Pauschalbetrag erstatte, der sowohl das Gestell wie die Korrekturgläser erfasse, die ein Optiker verkaufe. Dieser Pauschalbetrag sei unabhängig von den tatsächlichen Kosten festgesetzt. Daher habe die Krankenkasse keinen objektiven Grund, die Erstattung zu versagen, wenn der Kauf bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt sei. Die streitige Regelung könne daher nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, die Gesundheitskosten müßten kontrolliert werden.
39. Rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Warenverkehrs nicht rechtfertigen. Jedoch kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.
40. Wie die luxemburgische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofes anerkannt hat, hat die Pauschalerstattung für in anderen Mitgliedstaaten gekaufte Brillen und Korrekturgläser keine Auswirkungen auf die Finanzierung oder das Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit.
41. Die belgische, die deutsche und die niederländische Regierung machen weiter geltend, das Recht der Versicherten auf Zugang zu ordnungsgemäßer Behandlung rechtfertige die fragliche Regelung aus Gründen des Gesundheitsschutzes nach Artikel 36 EG-Vertrag. Die belgische Regierung fügt hinzu, die Abgabe von Brillen sei Personen vorbehalten, die dazu rechtlich befugt seien. Würden die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbracht, werde die Kontrolle ihrer ordnungsgemäßen Ausführung erheblich beeinträchtigt, wenn nicht gar unmöglich.
42. Die Bedingungen des Zugangs zu geregelten Berufen und ihrer Ausübung sind Gegenstand der Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG (ABl. L 209, S. 25) und der Richtlinie 95/43/EG der Kommission vom 20. Juli 1995 zur Änderung der Anhänge C und D der Richtlinie 92/51 (ABl. L 184, S. 21).
43. Daher bietet der Kauf einer Brille bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat Garantien, die denen gleichwertig sind, die beim Kauf einer Brille bei einem Optiker im Inland gegeben sind (vgl. zum Kauf von Arzneimitteln in einem anderen Mitgliedstaat die Urteile vom 7. März 1989 in der Rechtssache 215/87, Schumacher, Slg. 1989, 617, Randnr. 20, und vom 8. April 1992 in der Rechtssache C-62/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-2575, Randnr. 18).
44. Zudem erfolgte der Kauf der Brille im Ausgangsverfahren aufgrund augenärztlicher Verschreibung, was die Sicherung des Gesundheitsschutzes gewährleistet.
45. Eine Regelung der streitigen Art kann daher nicht unter Berufung auf Gründe des Gesundheitsschutzes damit gerechtfertigt werden, daß die Qualität in anderen Mitgliedstaaten gelieferter medizinischer Erzeugnisse gewährleistet werden müsse.
46. Zu antworten ist daher, daß eine nationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hat, mit der Begründung versagt, daß der Erwerb medizinischer Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigung bedarf, gegen die Artikel 30 und 36 EG-Vertrag verstößt.
 
Kosten
47. Die Auslagen der luxemburgischen, der belgischen, der deutschen, der französischen, der niederländischen, der spanischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof auf die ihm vom Conseil arbitral des assurances sociales mit Urteil vom 5. April 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Eine nationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaates einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hat, mit der Begründung versagt, daß der Erwerb medizinischer Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigung bedarf, verstößt gegen die Artikel 30 und 36 EG-Vertrag.
Rodriguez Iglesias, Gulmann, Ragnemalm, Mancini, Moitinho de Almeida, Kapteyn, Murray, Edward, Puissochet, Hirsch, Jann
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. April 1998.
R. Grass (Der Kanzler), G. C. Rodriguez Iglesias (Der Präsident)