BGE 145 IV 359
 
41. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_375/2018 vom 12. August 2019
 
Regeste
Art. 431 Abs. 2 StPO; Anrechnung der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft auf ambulante Massnahmen.
Eine Entschädigung und Genugtuung wegen Überhaft können nur in Frage kommen, wenn sich ex post zeigen sollte, dass das Gesamtmass des mit der ambulanten Behandlung einhergehenden Freiheitsentzugs von der Dauer her im Einzelfall kürzer ist als die erstandene Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft (E. 2.8).
 
Sachverhalt


BGE 145 IV 359 (359):

A. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland führte gegen X. ein Strafverfahren wegen mehrfachen, teilweise geringfügigen Diebstahls, Hehlerei, mehrfachen Hausfriedensbruchs, mehrfacher Sachbeschädigung, Hinderung einer Amtshandlung, Lenken eines Motorfahrzeugs ohne Berechtigung und Nichttragens eines Schutzhelms. Im

BGE 145 IV 359 (360):

Rahmen dieses Verfahrens verbrachte X. insgesamt 292 Tage in Untersuchungshaft. Am 22. November 2016 stellte die Staatsanwaltschaft dem Bezirksgericht Winterthur den Antrag auf Anordnung einer Massnahme für schuldunfähige Personen gemäss Art. 374 Abs. 1 StPO.
B. Mit Urteil vom 10. Februar 2017 sprach das Bezirksgericht Winterthur X. vom Vorwurf der Hehlerei frei. Weiter stellte es fest, dass dieser die übrigen ihm vorgeworfenen Straftatbestände im Zustand der nicht selbstverschuldeten Schuldunfähigkeit erfüllt habe. Es sah gestützt auf Art. 19 Abs. 1 StGB von einer Strafe ab und ordnete eine ambulante Massnahme im Sinne von Art. 63 Abs. 1 StGB (Behandlung von psychischen Störungen und Suchtbehandlung) verbunden mit Bewährungshilfe (Art. 93 StGB) an. Des Weiteren sprach es X. für die erstandene Haft einen Betrag von Fr. 14'600.- zuzüglich Zins von 5 % ab dem 20. September 2016 als Genugtuung zu.
Auf Berufung der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 27. Februar 2018 das bezirksgerichtliche Urteil, soweit dieses nicht in Rechtskraft erwachsen war.
C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts Zürich vom 27. Februar 2018 sei wegen Verletzung von Art. 431 Abs. 2 StPO aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei das Urteil aufzuheben und gestützt auf Art. 431 Abs. 2 StPO sei die ambulante Massnahme anzurechnen.
D. Das Obergericht des Kantons Zürich hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. X. liess sich innert Frist nicht vernehmen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
 
Aus den Erwägungen:
2.7 Zu prüfen bleibt indes, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Anrechnung von Haft auf freiheitsentziehende Massnahmen nicht bloss auf stationäre therapeutische Massnahmen nach Art. 59 StGB (BGE 141 IV 236), sondern auch auf ambulante Massnahmen im Sinne von Art. 63 StGB anwendbar ist. Soweit ersichtlich

BGE 145 IV 359 (361):

hat sich das Bundesgericht hierzu noch nicht geäussert. Es rechtfertigt sich daher, dies hier zu prüfen und eine Auslegung nach dem Wortlaut, dem historischen Willen des Gesetzgebers und dem Zweck ambulanter Massnahmen vorzunehmen.
In Art. 431 Abs. 2 StPO ist ausdrücklich von Sanktionen die Rede, welche Grundlage der Anrechnung bilden können. Unter Sanktionen als Rechtsfolgen eines Delikts werden neben den Strafen nicht nur stationäre, sondern auch ambulante Massnahmen verstanden (JOSITSCH/EGE/SCHWARZENEGGER, Strafen und Massnahmen, 9. Aufl. 2018, § 2 S. 24 und 33). Der Gesetzeswortlaut spricht daher für eine Anrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf ambulante Massnahmen.
Die Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts führt zu Art. 439 Abs. 2 E-StPO, dem Vorgänger von Art. 431 Abs. 2 StPO sodann aus, dass die Anrechnung auf die freiheitsentziehenden Massnahmen zu erfolgen habe, wobei es Aufgabe der Rechtsprechung sein werde, von Fall zu Fall eine angemessene Anrechnung vorzunehmen (vgl. BBl 2006 1330 Ziff. 2.10.3.1 zu Art. 439). Dass einer ambulanten Massnahme freiheitsentziehende Wirkung zukommen kann, ergibt sich bereits aus Art. 63b Abs. 4 StGB. Gemäss dieser Bestimmung entscheidet das Gericht darüber, inwieweit der mit der ambulanten Behandlung verbundene Freiheitsentzug auf die Strafe angerechnet wird. Die ambulante Massnahme ist in dem Masse anrechenbar, "wie eine tatsächliche Beschränkung der persönlichen Freiheit vorliegt" (BGE 124 IV 1 E. 2b S. 4 mit Hinweis; Urteil 6B_382/2018 vom 19. September 2018 E. 2.2 mit Hinweisen). Die ambulante Massnahme ist damit - je nach konkreter Ausgestaltung und soweit ihr freiheitsentziehende Wirkung zukommt - unter die freiheitsentziehenden Massnahmen zu subsumieren.
Gleich wie bei der stationären Massnahme wird bei Anordnung einer ambulanten Massnahme an die Rückfallgefahr angeknüpft. Die Massnahme stellt auch hier ein Mittel dar, mit welchem die Verhinderung oder Verminderung künftiger Straftaten erreicht werden soll (BGE 124 IV 246 E. 3b S. 250 f. mit Hinweisen). In diesem Sinne bedeutet jede Behandlung und Besserung eines Täters im Rahmen einer ambulanten Massnahme gleichzeitig auch Sicherung für die Zeit der Behandlung. Entsprechend hält Art. 63 Abs. 1 lit. b StGB fest, eine ambulante Massnahme sei nur anzuordnen, wenn und soweit zu erwarten ist, dass sich dadurch der Gefahr weiterer Straftaten begegnen lässt. Mit anderen Worten muss die ambulante Behandlung - wie

BGE 145 IV 359 (362):

bei einer stationären Massnahme - im Hinblick auf die Deliktsprävention Erfolg versprechen, wobei oberstes Ziel die Reduktion des Rückfallrisikos bzw. die künftige Straflosigkeit des Täters ist (BGE 124 IV 246 E. 3b S. 250 f. mit Hinweisen). Der mit der ambulanten Massnahme verfolgte Zweck - die Verhinderung von weiteren Straftaten zum Schutze der Allgemeinheit - kann auch der strafprozessualen Untersuchungs- und Sicherheitshaft zugrunde liegen (vgl. BGE 141 IV 236 E. 3.8 S. 242 mit Hinweisen). Wenn und soweit ein Täter in diesem Sinne gefährlich ist, von ihm also die Gefahr weiterer Straftaten ausgeht, handelt es sich sowohl bei Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft als auch bei der ambulanten Massnahme letztlich um eine Freiheitsbeschränkung zum Schutze der Allgemeinheit. Somit steht auch der Massnahmezweck einer Anrechnung an ambulante Massnahmen nicht entgegen.
Als Zwischenfazit ist daher festzuhalten, dass Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft, welche während des Strafverfahrens, das zum Massnahmenentscheid führte, verbüsst wurde, auf eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB im oben dargelegten Sinne (vgl. nicht publ. E. 2.6) anzurechnen ist, soweit dieser im konkreten Einzelfall freiheitsentziehende Wirkung zukommt.
 
Erwägung 2.8
2.8.1 Das Bundesgericht hat sich zu der Frage, wie die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an die freiheitsentziehende Massnahme im Sinne von Art. 59 ff. StGB anzurechnen ist, nicht geäussert. Der Botschaft lässt sich in dieser Hinsicht nichts Genaueres entnehmen. Sie weist lediglich darauf hin, dass es Aufgabe der Rechtsprechung sein werde, von Fall zu Fall eine angemessene Anrechnung vorzunehmen (vgl. BBl 2006 1330 Ziff. 2.10.3.1 zu Art. 439). Während es bei stationären Massnahmen als richtig erscheint, die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB im gleichen Umfang wie an eine Freiheitsstrafe anzurechnen (vgl. Urteil 6B_385/2014 vom 23. April 2015 E. 4, nicht publ. in: BGE 141 IV 236), bietet es sich im Bereich der ambulanten Massnahmen nach Art. 63 StGB an, die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Anrechnung der ambulanten Massnahme auf die Strafe beizuziehen.
2.8.2 Gemäss Art. 63b Abs. 4 StGB entscheidet das Gericht darüber, inwieweit der mit der ambulanten Behandlung verbundene Freiheitsentzug auf die Strafe angerechnet wird. Die ambulante Massnahme

BGE 145 IV 359 (363):

ist in dem Masse anrechenbar, wie eine tatsächliche Beschränkung der persönlichen Freiheit vorliegt. Von Bedeutung ist hierfür im Wesentlichen, mit welchem Zeit- und Kostenaufwand die Massnahme für den Betroffenen verbunden war. Wegen der grundsätzlichen Verschiedenheit von ambulanter Massnahme und Strafvollzug kommt in der Regel nur eine beschränkte Anrechnung der ambulanten Behandlung in Frage. Dem Gericht steht beim Entscheid, ob und in welchem Umfang die Behandlung anzurechnen ist, ein erheblicher Ermessensspielraum zu (BGE 124 IV 1 E. 2b S. 4; BGE 122 IV 51 E. 3a S. 54; Urteil 6B_382/2018 vom 19. September 2018 E. 2.2; je mit Hinweisen). Ein fester Umrechnungsmassstab besteht nicht (TRECHSEL/PAUEN BORER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 5 zu Art. 63b StGB, mit Hinweisen).
Auf einen dem Beschuldigten infolge Überhaft zustehenden Entschädigungsanspruch bezogen bedeutet dies, dass eine Genugtuung demnach nur in Frage kommen kann, wenn sich ex post zeigen sollte, dass das Gesamtmass des mit der ambulanten Behandlung einhergehenden Freiheitsentzugs von der Dauer her im Einzelfall kürzer ist, als die erstandene Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft.