BGE 143 III 42
 
8. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
5A_819/2015 vom 24. November 2016
 
Regeste
Art. 9 BV, Art. 179 Abs. 1 ZGB und Art. 317 Abs. 1 ZPO; Kindesunterhalt als Eheschutzmassnahme; Verhältnis des Novenrechts in der Berufung zum Abänderungsverfahren.
 
Sachverhalt


BGE 143 III 42 (42):

Die Ehegatten A. (Beschwerdeführer) und B. (Beschwerdegegnerin) leben seit 1. Juli 2012 getrennt. Sie sind die Eltern von C., geboren 2001, und D., geboren 2005. Auf Gesuch der Beschwerdegegnerin regelte das Kantonsgericht das Getrenntleben. Es verurteilte den Beschwerdeführer, der Beschwerdegegnerin an den Unterhalt der Kinder einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von je Fr. 2'000.- ab 1. Juli 2012 bis 31. Mai 2013 und von je Fr. 3'300.- ab 1. Juni 2013 zu bezahlen. Der Beschwerdeführer legte Berufung ein mit den Begehren, die monatlichen Unterhaltsbeiträge für die Kinder auf je Fr. 1'200.- ab 1. Juli 2012 bis 30. Juni 2014 und auf je Fr. 450.- ab 1. Juli 2014 festzusetzen. Das Obergericht lehnte es ab, die vom Beschwerdeführer neu geltend gemachte Arbeitslosigkeit seit 1. Juli 2014 zu berücksichtigen, und wies die Berufung ab. Dem Bundesgericht beantragt der Beschwerdeführer, den Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid unter Berücksichtigung seiner Arbeitslosigkeit seit 1. Juli 2014 an das Obergericht zurückzuweisen. Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die

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Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Die Parteien erstatteten Replik und Duplik. Alle weiteren Eingaben wurden den Parteien je zur Kenntnisnahme mitgeteilt. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache an das Obergericht zurück.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
4.1 Im Berufungsverfahren werden neue Tatsachen und Beweismittel gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden (lit. a) und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (lit. b). Praxisgemäss ist zwischen echten und unechten neuen Vorbringen (sog. Noven) zu unterscheiden. Echte Noven sind Tatsachen und Beweismittel, die (erst) nach dem Ende der Hauptverhandlung des erstinstanzlichen Verfahrens entstanden sind. Sie sind im Berufungsverfahren grundsätzlich immer zulässig, wenn sie ohne Verzug nach ihrer Entdeckung vorgebracht werden. Unechte Noven sind Tatsachen und Beweismittel, die bereits bei Ende der erstinstanzlichen Hauptverhandlung entstanden waren. Ihre Zulassung wird im Berufungsverfahren weitergehend insofern eingeschränkt, als sie ausgeschlossen sind, wenn sie bei Beachtung zumutbarer Sorgfalt bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können (Urteil 4A_662/2012 vom 7. Februar 2013 E. 3.3, in: SZZP 2013 S. 253). Im Falle unechter Noven hat der Beschwerdeführer namentlich die Gründe detailliert darzulegen, weshalb er die Tatsache oder das Beweismittel nicht schon vor erster Instanz hat vorbringen können (Urteil 4A_334/2012 vom 16. Oktober 2012 E. 3.1, in: SJ 135/2013 I S. 311; vgl. Urteil 5A_456/2016 vom 28. Oktober 2016 E. 4.1.1).
(...)
5.1 Nach der Rechtsprechung können neue Tatsachen und Beweismittel, die bis zum Beginn der oberinstanzlichen Beratungsphase entstehen, unter den Voraussetzungen von Art. 317 Abs. 1 ZPO noch im Berufungsprozess vorgebracht werden. Nachher können solche

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Noven nur noch im Rahmen einer Revision nach Art. 328 Abs. 1 lit. a ZPO geltend gemacht werden. Demgegenüber können Tatsachen und Beweismittel, die erst nach Beginn der oberinstanzlichen Beratungsphase entstehen, auch mittels Revision nicht mehr geltend gemacht werden: Art. 328 Abs. 1 lit. a Satz 2 ZPO, wonach Tatsachen und Beweismittel, "die erst nach dem Entscheid entstanden sind", als Revisionsgrund ausgeschlossen sind, bezieht sich richtig gelesen auf solche Tatsachen, die nach dem Zeitpunkt entstanden sind, in dem sie nach den anwendbaren Verfahrensregeln im früheren Verfahren zum letzten Mal vorgebracht werden konnten, im Berufungsverfahren also nach Beginn der Beratungsphase. Solche Tatsachen, die weder im laufenden Berufungsprozess nach Art. 317 Abs. 1 ZPO noch in einem allfälligen Revisionsprozess nach Art. 328 Abs. 1 lit. a ZPO vorgebracht werden können, können nur mittels neuer Klage erneut gerichtlich geltend gemacht werden (BGE 142 III 413 E. 2.2.6 S. 418 f.).
5.2 Die Abänderungsklage ist eine neue Klage im Sinne dieser Rechtsprechung. Spiegelbildlich hält das Bundesgericht dazu seit jeher fest, dass Grundlage des ehe- und kindesrechtlichen Abänderungsprozesses - im Unterschied zum Rechtsmittel der Revision - nur echte Noven sein können, d.h. Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Zeitpunkt eingetreten oder verfügbar geworden sind, in dem im früheren, durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahren letztmals neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorgebracht werden konnten. Die Praxis anerkennt als "echte" Noven auch Tatsachen, die zwar im früheren Verfahren bereits bestanden haben und der sich darauf berufenden Partei bekannt waren, von dieser aber damals zufolge fehlender Möglichkeit des Beweises nicht geltend gemacht worden sind (Urteile 5C.84/2005 vom 21. Juni 2005 E. 2.1, in: FamPra.ch 2005 S. 917; 5A_721/2007 vom 29. Mai 2008 E. 3.2, zusammengefasst in: FamPra.ch 2008 S. 949). Die Praxis blieb - soweit ersichtlich - unwidersprochen (SIMEONI, in: Droit matrimonial, 2016, N. 19, und SPYCHER/GLOOR, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 24a, je zu Art. 129 ZGB, mit Hinweisen).
5.3 Aus der unterschiedlichen Novenrechtslage hat die Praxis geschlossen, dass neue Vorbringen, mit denen geänderte Verhältnisse behauptet und belegt werden, nicht einfach in das Abänderungsverfahren (Art. 129 ZGB) verwiesen werden dürfen, sondern im Rahmen der Berufung gegen das Scheidungsurteil zu prüfen und zu berücksichtigen sind, wenn und soweit sie sich nach Art. 317 Abs. 1 ZPO

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als zulässig erweisen (mit freier Prüfung bejaht im Verfahren der Berufung gegen die Genehmigung einer Vereinbarung über die Scheidungsfolgen: Urteil 5A_121/2016 vom 8. Juli 2016 E. 4 und 5, in: FamPra.ch 2016 S. 1007 ff.). Umgekehrt sind neue Vorbringen, mit denen geänderte Verhältnisse behauptet und belegt werden, im Abänderungsverfahren (Art. 179 ZGB) nicht zu berücksichtigen, wenn und soweit sie gestützt auf Art. 317 Abs. 1 ZPO bereits mit Berufung gegen den Eheschutzentscheid hätten vorgebracht werden können (unter Willkürgesichtspunkten bejaht im Verfahren auf Abänderung von Eheschutzmassnahmen: Urteil 5A_22/2014 vom 13. Mai 2014 E. 4.3, in: SJ 137/2015 I 19 und SZZP 2014 S. 458 f.). Die Lehre schliesst sich der Praxis vorbehaltlos an (vgl. OMBLINE DE PORET BORTOLASO, Le calcul des contributions d'entretien, SJ 138/2016 II 141 S. 168) oder hält mit Rücksicht auf die wenig strengen Anforderungen an die Abänderung von Eheschutzmassnahmen (vgl. BGE 141 III 376 E. 3.3.1 S. 378) dafür, dass jedenfalls vor Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannte Abänderungsgründe im Rechtsmittelverfahren gerügt und korrigiert werden können (vgl. SUSANNE BACHMANN, Die Regelung des Getrenntlebens nach Art. 176 und 179 ZGB sowie nach zürcherischem Verfahrensrecht, 1995, S. 229; ISENRING/KESSLER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 4 zu Art. 179 ZGB).
5.4 Das neue Vorbringen des Beschwerdeführers ist in der Berufung rechtzeitig und als echtes Novum gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO zulässig. Gleichwohl und entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der Lehre hat das Obergericht das neue Vorbringen in das Abänderungsverfahren gemäss Art. 179 ZGB verwiesen. Es hat sein Vorgehen damit gerechtfertigt, dass es gelte, dem Beschwerdeführer den doppelten Instanzenzug zu gewährleisten. Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, verwirklicht Art. 75 Abs. 2 BGG den Grundsatz des doppelten Instanzenzugs, wonach das obere kantonale Gericht als Rechtsmittelinstanz entschieden haben muss und sich nicht mit einer Streitsache befassen darf, bevor diese von der unteren Instanz beurteilt worden ist (BGE 99 Ia 317 E. 4a S. 322; BGE 106 II 106 E. 1a S. 110). Der Grundsatz schliesst indessen nicht aus, dass die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt ergänzt und neu entscheidet, soweit die Sache nicht gemäss Art. 318 Abs. 1 lit. c ZPO an die erste Instanz zurückzuweisen ist, weil ein wesentlicher Teil der Klage nicht beurteilt wurde (Ziff. 1) oder weil der Sachverhalt in wesentlichen Teilen zu vervollständigen ist (Ziff. 2; vgl. REETZ/HILBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung

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[ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 8, 24 und 36 zu Art. 318 ZPO). Der Grundsatz des doppelten Instanzenzugs ist damit gewährleistet und rechtfertigt keine Verweisung zulässiger neuer Vorbringen im Berufungsverfahren in einen anderen Prozess. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer - seinen Angaben zufolge bloss vorsorglich - bereits ein Abänderungsverfahren angehoben hat, läuft er doch Gefahr, dass seine gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO im Rahmen der Berufung gegen den Eheschutzentscheid zulässigen Vorbringen im Abänderungsverfahren gemäss Art. 179 Abs. 1 ZGB nicht berücksichtigt werden und sich diesbezüglich eine Rechtsschutzlücke öffnet.