BGE 142 III 612
 
76. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
5A_991/2015 vom 29. September 2016
 
Regeste
Art. 176 Abs. 3 ZGB; Streit um die alleinige oder alternierende Obhut im Eheschutzprozess.
 
Sachverhalt


BGE 142 III 612 (613):

A. A. (geb. 1975) und B. (geb. 1982) sind die verheirateten Eltern von C. (geb. 2007). Mit Eingabe vom 17. Oktober 2014 ersuchte die Mutter das Bezirksgericht Kreuzlingen um Erlass von Eheschutzmassnahmen. Soweit vor Bundesgericht noch relevant, verlangten beide Eltern je die alleinige elterliche Obhut über ihren Sohn. Der Vater stellte ausserdem den Eventualantrag, die wechselseitige Obhut über C. beiden Parteien in dem Sinne zuzusprechen, dass sich das Kind jede alternierende Woche bei einem der beiden Elternteile aufhalten soll.
B. Mit Blick auf weitere Abklärungen vertraute das Bezirksgericht C. am 13. Januar 2016 "superprovisorisch" der Obhut der Mutter an, verbunden mit einem Besuchsrecht für den Vater. Sowohl den Antrag des Vaters, die wechselseitige Obhut anzuordnen, als auch denjenigen der Mutter, das Besuchsrecht vorläufig auszusetzen, wies das Bezirksgericht ab. Im Eheschutzverfahren regelte es mit Entscheid vom 15. Juni 2015 das Getrenntleben und übertrug die Obhut über C. der Mutter. Das Besuchs- und Ferienrecht des Vaters bestand darin, dass der Sohn zwei von drei Wochenenden sowie die Zeit von Mittwochabend bis Donnerstagvormittag (Schulbeginn) beim Vater verbringen sollte. Auf Berufung des Vaters hin bestätigte das Obergericht des Kantons Thurgau am 21. Oktober 2015 den bezirksgerichtlichen Entscheid.
C. Vor Bundesgericht hält A. (Beschwerdeführer) an der alternierenden Obhut fest. Er stellt ein ausführliches Begehren zur Art und Weise, wie die wöchentlichen Betreuungszeiten, die Ferien und die Feiertage zu regeln seien. Ferner stellt er Anträge betreffend seine Unterhaltspflicht. Eventualiter verlangt er, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. B. (Beschwerdegegnerin) und die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
(Zusammenfassung)
 


BGE 142 III 612 (614):

Aus den Erwägungen:
4.1 Haben die Eltern, die zur Regelung des Getrenntlebens das Gericht anrufen, minderjährige Kinder, so trifft das Gericht gemäss Art. 176 Abs. 3 ZGB nach den Bestimmungen über die Wirkungen des Kindesverhältnisses die nötigen Massnahmen. Zu regeln ist namentlich die Obhut über das Kind, der persönliche Verkehr mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil, die Beteiligung jedes Elternteils an der Betreuung und der Unterhaltsbeitrag. Was die Obhut angeht, ist vorweg in Erinnerung zu rufen, dass am 1. Juli 2014 die revidierten Bestimmungen des Zivilgesetzbuches über die elterliche Sorge in Kraft getreten sind (AS 2014 357). Neu ist die gemeinsame elterliche Sorge unabhängig vom Zivilstand der Eltern der Regelfall (Art. 296 Abs. 2 ZGB). Die alleinige elterliche Sorge bleibt zum Wohl des Kindes und ohne konkrete Gefährdung des Kindeswohls möglich. Sie soll aber die eng begrenzte Ausnahme sein (BGE 142 III 1 E. 3.3 S. 5 f. mit Hinweis). Von der elterlichen Sorge ist die Obhut zu unterscheiden. Unter der Herrschaft des alten Rechts war das "Obhutsrecht" Bestandteil des elterlichen Sorgerechts. "Obhut" im Rechtssinne bedeutete das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes und die Modalitäten seiner Betreuung zu bestimmen (BGE 128 III 9 E. 4a S. 9 f.). Im neuen Recht umfasst die elterliche Sorge auch das "Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen" (s. Art. 301a Abs. 1 ZGB). Die Bedeutung der "Obhut" reduziert sich - losgelöst vom Sorgerecht - auf die "faktische Obhut", das heisst auf die Befugnis zur täglichen Betreuung des Kindes und auf die Ausübung der Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit seiner Pflege und laufenden Erziehung (MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, 5. Aufl. 2014, Rz. 462 S. 308 und Rz. 466 S. 311; SCHWENZER/COTTIER, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 4 zu Art. 298 ZGB; DE WECK-IMMELÉ, in: Droit matrimonial, 2016, N. 195 zu Art. 176 ZGB).
4.2 Auch wenn die gemeinsame elterliche Sorge nunmehr die Regel ist (Art. 296 Abs. 2 ZGB) und grundsätzlich das Recht einschliesst, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (Art. 301a Abs. 1 ZGB; BGE 142 III 56 E. 3 S. 62 f., BGE 142 III 1 E. 3.3 S. 5 mit Hinweis), geht damit nicht notwendigerweise die Errichtung einer alternierenden Obhut einher (Urteile 5A_266/2015 vom 24. Juni 2015 E. 4.2.2.1; 5A_46/2015

BGE 142 III 612 (615):

vom 26. Mai 2015 E. 4.4.3). Unabhängig davon, ob sich die Eltern auf eine alternierende Obhut geeinigt haben, muss der mit dieser Frage befasste Richter prüfen, ob dieses Betreuungsmodell möglich und mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist (vgl. Urteil 5A_527/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 4). Denn nach der Rechtsprechung gilt das Kindeswohl als oberste Maxime des Kindesrechts (BGE 141 III 328 E. 5.4 S. 340); es ist für die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses demnach immer der entscheidende Faktor, während die Interessen und Wünsche der Eltern in den Hintergrund zu treten haben (BGE 131 III 209 E. 5 S. 212). Wohl finden sich in der Kinderpsychologie verschiedene Meinungen zum Thema, die sich mehr oder weniger absolut für oder gegen dieses Betreuungsmodell aussprechen. Allein aus kinderpsychologischen Studien lassen sich für die Beurteilung im konkreten Fall indessen kaum zuverlässige Schlüsse ziehen. Denn naturgemäss integrieren die verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen nicht alle Parameter, die im Einzelfall eine Rolle spielen (s. dazu JOSEPH SALZGEBER, Die Diskussion um die Einführung des Wechselmodells als Regelfall der Kindesbetreuung getrennt lebender Eltern aus Sicht der Psychologie, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht [FamRZ] 2015 S. 2018 ff.). Ob die alternierende Obhut überhaupt in Frage kommt und ob sie sich mit dem Kindeswohl verträgt, hängt demnach von den konkreten Umständen ab. Das bedeutet, dass der Richter gestützt auf festgestellte Tatsachen der Gegenwart und der Vergangenheit eine sachverhaltsbasierte Prognose darüber zu stellen hat, ob die alternierende Obhut als Betreuungslösung aller Voraussicht nach dem Wohl des Kindes entspricht.
4.3 Unter den Kriterien, auf die es bei dieser Beurteilung ankommt, ist zunächst die Erziehungsfähigkeit der Eltern hervorzuheben, und zwar in dem Sinne, dass die alternierende Obhut grundsätzlich nur dann in Frage kommt, wenn beide Eltern erziehungsfähig sind. Weiter erfordert die alternierende Obhut organisatorische Massnahmen und gegenseitige Informationen. Insofern setzt die praktische Umsetzung einer alternierenden Betreuung voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in den Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Allein aus dem Umstand, dass ein Elternteil sich einer alternierenden Betreuungsregelung widersetzt, kann indessen nicht ohne Weiteres auf eine fehlende Kooperationsfähigkeit der Eltern geschlossen werden, die einer alternierenden Obhut im Wege steht. Ein derartiger Schluss könnte nur dort in Betracht fallen,

BGE 142 III 612 (616):

wo die Eltern aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Feindseligkeiten auch hinsichtlich anderer Kinderbelange nicht zusammenarbeiten können, mit der Folge, dass sie ihr Kind im Szenario einer alternierenden Obhut dem gravierenden Elternkonflikt in einer Weise aussetzen würden, die seinen Interessen offensichtlich zuwiderläuft. Zu berücksichtigen ist ferner die geographische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern, und die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. In diesem Sinne fällt die alternierende Obhut eher in Betracht, wenn die Eltern das Kind schon vor ihrer Trennung abwechselnd betreuten. Weitere Gesichtspunkte sind die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen, das Alter des Kindes, seine Beziehungen zu (Halb- oder Stief-)Geschwistern und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld (vgl. Urteile 5A_46/2015 vom 26. Mai 2015 E. 4.4.2 und 4.4.5; 5A_345/2014 vom 4. August 2014 E. 4.2). Auch dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken, selbst wenn es bezüglich der Frage der Betreuungsregelung (noch) nicht urteilsfähig ist. Der Richter, der den Sachverhalt von Amtes wegen erforscht (Art. 296 Abs. 1 ZPO bzw. Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art. 446 ZGB), wird im konkreten Fall entscheiden müssen, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht Hilfe von Sachverständigen erforderlich ist, um die Aussagen des Kindes zu interpretieren, insbesondere um erkennen zu können, ob diese seinem wirklichen Wunsch entsprechen. Während die alternierende Obhut in jedem Fall die Erziehungsfähigkeit beider Eltern voraussetzt, sind die weiteren Beurteilungskriterien oft voneinander abhängig und je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls von unterschiedlicher Bedeutung. So spielen das Kriterium der Stabilität und dasjenige der Möglichkeit zur persönlichen Betreuung des Kindes bei Säuglingen und Kleinkindern eine wichtige Rolle. Geht es hingegen um Jugendliche, kommt der Zugehörigkeit zu einem sozialen Umfeld grosse Bedeutung zu. Die Kooperationsfähigkeit der Eltern wiederum verdient besondere Beachtung, wenn das Kind schulpflichtig ist oder die geografische Entfernung zwischen den Wohnorten der Eltern ein Mehr an Organisation erfordert.
4.5 Wie die vorigen Erwägungen zeigen, ist der Sachrichter, der die Parteien und die weitere Umgebung des Kindes am besten kennt, beim Entscheid über die Anordnung einer alternierenden Obhut in vielfacher Hinsicht auf sein Ermessen verwiesen (BGE 115 II 317 E. 2 und 3 S. 319; Urteile 5A_848/2014 vom 4. Mai 2015 E. 2.1.2; 5A_976/2014 vom 30. Juli 2015 E. 2.4; 5A_266/2015 vom 24. Juni 2015 E. 4.2.2.2). Bei der Überprüfung dieses Ermessensentscheids auferlegt sich das Bundesgericht Zurückhaltung. Es schreitet nur ein, wenn die kantonale Instanz von ihrem Ermessen offensichtlich falschen Gebrauch gemacht hat. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die keine Rolle hätten spielen dürfen, wenn sie umgekehrt rechtserhebliche Umstände ausser Acht gelassen hat oder wenn sich der Ermessensentscheid im Ergebnis als offensichtlich unbillig oder ungerecht erweist (BGE 136 III 278 E. 2.2.1 S. 279; BGE 135 III 121 E. 2; BGE 133 III 201 E. 5.4 S. 211). Was das vorliegende Verfahren angeht, ist überdies zu beachten, dass der Beschwerdeführer nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen kann (nicht publ. E. 2). (...)