BGE 141 III 401
 
54. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. und Stadtgemeinde Zürich (Beschwerde in Zivilsachen)
 
5A_634/2014 vom 3. September 2015
 
Regeste
Art. 276 ZGB, Kindesunterhalt; Art. 3 Abs. 2 lit. b PAVO, kantonale Richtlinien für die Festsetzung von Pflegegeldern.
Die in Anwendung von Art. 3 Abs. 2 lit. b PAVO erlassenen kantonalen Pflegegeld-Richtlinien sind als Verwaltungsverordnungen zu qualifizieren. Eine Abweichung von den Richtlinien bedarf einer Begründung (E. 4-4.2.3).
 
Sachverhalt


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A. A. (Beschwerdeführer) und D. sind die nicht miteinander verheirateten Eltern der 2008 geborenen B. Der Mutter wurde von der

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damals zuständigen Vormundschaftsbehörde die elterliche Obhut entzogen. Durch Vermittlung der F. GmbH wurde das Kind bei der Pflegefamilie G. in U. (TG) untergebracht, wo es heute noch lebt.
B. Mit Urteil vom 19. Juli 2013 verpflichtete das Einzelgericht am Bezirksgericht Zürich A., seiner Tochter (Beschwerdegegnerin 1) für den Zeitraum vom 22. Mai 2008 bis 14. Mai 2009 Unterhalt zu bezahlen. Zudem wurde er verpflichtet, kraft Subrogation der Stadtgemeinde Zürich (Sozialdepartement, Beschwerdegegnerin 2), für einen Teil des Jahres 2009 sowie die Jahre 2010 bis 2012 Unterhaltsbeiträge zu erstatten. Den Unterhalt ab 2013 setzte das Bezirksgericht auf Fr. 3'200.- pro Monat zuzüglich allfälliger Kinder- oder Ausbildungszulagen fest. Gegen dieses Urteil erhoben A. Berufung und B. sowie die Stadtgemeinde Zürich Anschlussberufung beim Obergericht des Kantons Zürich.
C. Das Obergericht verpflichtete A., soweit nachfolgend relevant, mit Urteil vom 17. Juni 2014, der Stadtgemeinde Zürich vom 1. Januar 2013 bis zur Rechtskraft des obergerichtlichen Urteils monatlich Fr. 2'600.- zuzüglich allfälliger Kinder- oder Ausbildungszulagen zu bezahlen. Ab Rechtskraft des Urteils sollte er der Tochter ebenfalls monatlich Fr. 2'600.- plus Zulagen bezahlen, dies bis zur Mündigkeit oder darüber hinaus bis zum Abschluss der Ausbildung.
D. Gegen das Urteil vom 17. Juni 2014 gelangt A. mit Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht. Er verlangt unter anderem eine Herabsetzung der ab dem 1. Januar 2013 für die fremdplatzierte Tochter geschuldeten Unterhaltsbeiträge auf monatlich Fr. 2'000.- zuzüglich Kinderzulagen. Die Beschwerdegegnerin 2 beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdegegnerin 1 hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist die Angelegenheit zur Neufestsetzung des ab dem 1. Januar 2013 geschuldeten Unterhaltsbeitrags an das Obergericht des Kantons Zürich zurück.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
4. Die Eltern haben für den Unterhalt des Kindes aufzukommen, inbegriffen die Kosten von Erziehung, Ausbildung und Kindesschutzmassnahmen (Art. 276 ZGB). Das Kind wurde fremdplatziert. Die daraus entstehenden Kosten gelten deshalb als Kosten von

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Kindesschutzmassnahmen und gehören zum Unterhaltsanspruch des Kindes (PETER BREITSCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 22 zu Art. 276 ZGB; CYRIL HEGNAUER, Kindesrecht, 5. Aufl. 1999, N. 20.21; ROELLI/MEULI-LEHNI, in: Personen- und Familienrecht inkl. Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2. Aufl. 2012, N. 4 zu Art. 276 ZGB; vgl. auch Urteil 8D_4/2013 vom 19. März 2014 E. 4.1).
Die Eltern haben zusammen für den ganzen Unterhalt des Kindes aufzukommen, jeder nach seinen Kräften (vgl. auch Urteil 5A_179/2015 vom 29. Mai 2015 E. 6.1 im Bereich des Volljährigenunterhalts). Im Grundverhältnis besteht dabei von Gesetzes wegen Solidarität. Ist ein Elternteil gestorben oder leistungsunfähig, so trägt der andere die Unterhaltslast alleine (CYRIL HEGNAUER, Berner Kommentar, 1997, N. 64-66 zu Art. 276 ZGB). Staatliche Unterstützung ist nur dann nötig, wenn kein Elternteil in der Lage ist, für den gebührenden Unterhalt des Kindes aufzukommen. Einzig das Existenzminimum ist dem unterhaltspflichtigen Elternteil in jedem Fall zu belassen (BGE 135 III 66 E. 2 S. 67). Dass in sein Existenzminimum eingegriffen werde, bringt der Beschwerdeführer nicht vor. Damit ist er grundsätzlich unterhaltspflichtig.
4.2.1 Wie aus den vorstehenden Erwägungen (nicht publ. E. 3.2) erhellt, liegt der Tagessatz von Fr. 70.- deutlich über den Richtlinien sowohl des Kantons Zürich als auch des Kantons Thurgau, welche beide rund Fr. 56.- inkl. Arbeitgeberbeiträge vorsehen (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, Pflegegeld-Richtlinien für Dauer- und Wochenpflegeplätze, gültig ab 1. Januar 2008, abrufbar unter: www.ajb.zh.ch/internet/bildungsdirektion/ajb/de/kinder_jugendhilfe/pflegefamilien/formulare.html; Richtlinien des Departementes für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau zur Bemessung des Pflegegeldes für

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Kinder und Jugendliche in privaten Pflegefamilien, Fassung vom Januar 2010, abrufbar unter: www.djs.tg.ch/xml_23/internet/de/application/d2741/f2746.cfm). Das Obergericht sprach demgegenüber Fr. 70.- zuzüglich Arbeitgeberbeiträge zu.
Die Vorinstanz hat zur Abweichung von der Richtlinie lediglich angefügt, die Tarife seien gemäss Angaben von J., Co-Leiterin F., 2013 angepasst worden. Die Entschädigung der Pflegeeltern betrage neu Fr. 70.-. Als Folge der höheren Grundentschädigung würden ab 1. Januar 2013 zudem höhere Arbeitgeberbeiträge anfallen (nicht publ. E. 3.2).
4.2.2 Nach Art. 294 Abs. 1 ZGB haben Pflegeeltern Anspruch auf ein angemessenes Pflegegeld, sofern nichts Abweichendes vereinbart ist oder sich eindeutig aus den Umständen ergibt. Das Gesetz schweigt sich darüber aus, was unter einem angemessenen Pflegegeld zu verstehen ist. Gestützt auf Art. 3 Abs. 2 lit. b der Pflegekinderverordnung vom 19. Oktober 1977 (PAVO; SR 211.222.338) können die Kantone zur Förderung des Pflegekinderwesens Richtlinien für die Festsetzung von Pflegegeldern erlassen. Von dieser Möglichkeit haben die Kantone Zürich und Thurgau Gebrauch gemacht. Bei diesen Empfehlungen handelt es sich um sogenannte Verwaltungsverordnungen (KARIN ANDERER, Das Pflegegeld in der Dauerfamilienpflege und die sozialversicherungsrechtliche Rechtsstellung der Pflegeeltern, 2012, N. 132).
Verwaltungsverordnungen richten sich an die Behörden; verpflichtende Wirkung entfalten sie grundsätzlich nur im verwaltungshierarchischen Verhältnis zwischen übergeordneter und untergeordneter Verwaltungseinheit, d.h. es können nicht allein gestützt auf sie Verwaltungsrechtsverhältnisse zum Bürger geregelt werden und sie sind für Gerichte nicht verbindlich (vgl. z.B. TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, § 41 N. 11 ff.; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, N. 123-128). Die Unterart der vollzugslenkenden Verwaltungsverordnungen können namentlich dazu dienen, eine einheitliche Handhabung des Verwaltungsermessens sicherzustellen (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., N. 124; TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, a.a.O., § 41 N. 13 und 16; GIOVANNI BIAGGINI, Die vollzugslenkende Verwaltungsverordnung: Rechtsnorm oder Faktum?, ZBl 98/1997 S. 1 ff., 4 und 15 ff.). Das Bundesgericht hat Verwaltungsverordnungen als blosse "Meinungsäusserungen" der Behörde über die Auslegung der anwendbaren Verfassungs-, Gesetzes- und

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Verordnungsbestimmungen bezeichnet (BGE 123 II 16 E. 7 S. 30; BGE 121 II 473 E. 2b S. 478). Obwohl für das Gericht nicht verbindlich, sind Verwaltungsweisungen aber zu berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen. Damit können Verwaltungsverordnungen die Rechtsstellung des Bürgers indirekt mitprägen und Aussenwirkung entfalten (BGE 133 V 346 E. 5.4.2 S. 352; BGE 131 V 42 E. 2.3 S. 45 f.; BGE 130 V 163 E. 4.3.1 S. 171 f.; je mit Hinweisen; hierzu auch TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, a.a.O., § 41 N. 16). In der Lehre wird diese Rechtsprechung mit Unterscheidung von Innen- und Aussenwirkung aber kritisiert. Soweit sich vollzugslenkende Verwaltungsverordnungen im Rahmen von Verfassung und Gesetz halten, seien diese auch für Gerichte und Private massgebend; sie erschienen damit als gerichtlich überprüfbare Rechtsquellen (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., N. 133 f.; ausführlich der vom Grundsatz der allseitigen Verbindlichkeit der vollzugslenkenden Verwaltungsverordnung ausgehende BIAGGINI, a.a.O., S. 17 ff.; vgl. auch TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, a.a.O., § 41 N. 29 ff. mit Hinweis auf weitere Autoren).
Spezifisch im Zusammenhang mit den kantonalen Pflegegeldrichtlinien wirft KARIN ANDERER die Frage auf, ob Behörden oder Mandatsträger ohne besondere Begründung von diesen abweichen können. Sie weist darauf hin, dass die Publikation im Internet es den Pflegeeltern erlaube, die Pflegegeldansätze zu konsultieren. Diese Transparenz dürfte ihrer Ansicht nach vertrauensbildend sein (ANDERER, a.a.O., N. 134).
4.2.3 Vor diesem Hintergrund ist eine Abweichung von den Richtlinien nicht gänzlich ausgeschlossen. Die thurgauische Richtlinie selbst sieht die Möglichkeit vor, in besonderen Einzelfällen den Betrag für die Betreuung angemessen zu erhöhen. Dies setzt voraus, dass eine entsprechende Einigung erzielt bzw. eine Kostengutsprache erteilt worden ist. Explizit genannt werden Fälle ausserordentlichen Betreuungsmehraufwands oder SOS-Platzierungen. Gemäss Zürcher Richtlinien kann die Entschädigung in besonderen Fällen (bei ausgewiesenem erheblichem Mehraufwand oder besonderer

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Qualifikation der Pflegeeltern) bis zu maximal 20 % höher angesetzt werden. In jedem Fall setzt eine Abweichung von den Richtlinien aber eine Begründung voraus. Ebenso zu begründen wäre die zusätzliche Zusprechung der Arbeitgeberbeiträge, welche gemäss Richtlinien in der Grundentschädigung inbegriffen sind.
Da die Zuständigkeit vorliegend bei den Behörden des Kantons Zürich liegt, sind die Richtlinien dieses Kantons massgebend. Da allerdings die Beschwerdegegnerin 1 im Kanton Thurgau platziert wurde, sind auch die dortigen Richtlinien insofern heranzuziehen, als kantonal unterschiedlichen Lebenshaltungskosten Rechnung zu tragen ist. Mit anderen Worten dürfen dem Beschwerdeführer nicht Kosten gemäss Zürcher Richtlinien auferlegt werden, wenn im Kanton Thurgau tatsächlich tiefere Kosten anfallen. Bei der Festlegung des Pflegegeldes und damit des Unterhaltsbeitrags ist auf diese besonderen Umstände hinzuweisen.
Im vorinstanzlichen Urteil wurden nun die Kosten wesentlich höher angesetzt als in beiden Richtlinien vorgesehen. Dennoch lässt sich dem Urteil kein Wort entnehmen, weshalb die Kosten höher sein sollten, als von den Richtlinien vorgesehen ist und bis Ende 2012 offenbar angemessen war. Eine Begründung mit entsprechenden tatsächlichen Feststellungen fehlt. Lediglich auf eine von der Platzierungsorganisation geltend gemachte Erhöhung der Tagespauschale (von Fr. 50.- auf Fr. 70.-) zu verweisen, reicht nicht. Es müssten konkrete Umstände dargetan werden, welche einen höheren Ansatz rechtfertigen. Mangels dessen verfällt die Vorinstanz in Willkür.