BGE 72 II 154 - Simulierter Erbvertrag
 
25. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung
vom 12. April 1946 i.S. Ortler gegen Ortler.
 


BGE 72 II 154 (154):

Regeste
Simulierte Erbvertrräge sind nichtig (Art. 18 OR). Art. 519 ff. ZGB sind darauf nicht anwendbar.
Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts bei Simulation: Tat- und Rechtsfrage (Art. 63 OG).
Solidarhaftung der Erben (Art. 603 ZGB) für Schulden des Erblassers gegenüber einem Erben?
 
Sachverhalt:
Aus dem Tatbestand:
Am 21. Januar 1926 schloss Witwe Maria Ortler-Baumann, die Inhaberin eines Handelsgeschäftes, das dank der Mitarbeit ihres Sohnes Hans einen starken Aufschwung genommen hatte, mit ihren Töchtern Maria Barbara Cuny-Ortler und Elisabeth Ortler (Klägerin) folgenden Erbvertrag:
    "Frau Maria Barbara Cuny geb. Ortler und Fräulein Elisabeth Ortler verzichten hiermit auf ihr gesetzliches Erbrecht gegenüber ihrer Mutter, im Sinne von Art. 495 des schweiz. Zivilgesetzbuches.
    Der Verzicht erfolgt, weil Frau Maria Barbara Cuny

    BGE 72 II 154 (155):

    geb. Ortler und Fräulein Elisabeth Ortler bereits für ihre künftigen Erbteile abgefunden worden sind.
    Der vorstehende Erbverzichtsvertrag soll nur Geltung haben, wenn Frau Witwe Maria Ortler Baumann vor ihrem Sohn Hans Ortler stirbt. Sollte sie dagegen ihren Sohn Hans Ortler überleben, so fällt der vorstehende Erbverzichtsvertrag mit dessen Tod ohne weiteres dahin."
Witwe Ortler starb im November 1927. Das Erbschaftsamt behandelte auf Grund der vorliegenden Erbverzichte Hans Ortler als ihren einzigen Erben. Dieser liquidierte das mütterliche Geschäft im Jahre 1930 und lebte in der Folge zeitweise bei der Klägerin. Nach der endgültigen Aufhebung der Hausgemeinschaft verlangte die Klägerin von ihm anfangs 1938 Abrechnung über das ererbte Vermögen, das er für sie verwalte, und forderte ihn auf, sich mit ihr finanziell auseinanderzusetzen. Der Beklagte antwortete zunächst ausweichend und wies dann die Ansprüche der Klägerin in umfangreichen Denkschriften als unbegründet zurück, ohne den Erbverzicht zu erwähnen. Erst im Mai 1939 liess er ihr durch seinen Anwalt mitteilen, ihren Ansprüchen stehe der Erbverzichtsvertrag vom 21. Januar 1926 entgegen. Hierauf klagte die Klägerin auf Feststellung, dass dieser Vertrag simuliert sei. Ferner belangte sie den Beklagten u.a. auf Rückzahlung eines Darlehens. Das Bundesgericht schützt das erste Begehren in Übereinstimmung mit der Vorinstanz, weist dagegen die Darlehensforderung in diesem Verfahren ab.
 
Erwägungen:
 
Erwägung 2
2. Ein Rechtsgeschäft ist simuliert, wenn beide Parteien darüber einig sind, dass die Rechtswirkungen, die dem objektiven Sinn ihrer Erklärungen entsprechen, nicht eintreten sollen, wenn sie also nur den Schein eines Geschäftes begründen wollen. In Lehre und Rechtsprechung ist unbestritten, dass solche Geschäfte im allgemeinen gemäss dem übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien (Art. 18 Abs. 1 OR) rechtlich unwirksam, nichtig

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sind. Dass ein Rechtsgeschäft wegen Simulation unverbindlich sei, kann also auf dem Wege der (Feststellungs-)Klage oder der Einrede jederzeit geltend gemacht werden. Dies gilt auch für formbedürftige Geschäfte (BGE 52 II 67). Aus dem Umstande, dass bei einem Geschäfte ausser dem Abschluss auch die Aufhebung einer Form bedarf, wie es gemäss Art. 513 ZGB für den Erbvertrag zutrifft, ist entgegen der Auffassung v. TUHRS (v. TUHR-SIEGWART OR I 266) nicht zu schliessen, dass das betreffende Geschäft der Simulation unzugänglich. sei, m.a.W. dass es gültig sei, selbst wenn es nur zum Schein vorgenommen wurde; die Frage, auf welchem Wege ein ernstgemeintes, formbedürftiges Geschäft nachträglich soll rückgängig gemacht werden können, hat nichts gemein mit der Frage, wie ein formbedürftiges Geschäft zu behandeln sei, dessen Inhalt die Parteien von allem Anfang an nicht wollten. Die Klägerin konnte sich demnach, wenn der Erbvertrag vom 21. Januar 1926 wirklich nur zum Schein abgeschlossen worden war, zu beliebiger Zeit darauf berufen, dass der darin ausgesprochene Verzicht sie nicht binde, es wäre denn, dass die Vorschriften des ZGB über die Ungültigkeit der Verfügungen von Todes wegen für die Geltendmachung der Simulation beim Erbvertrag eine Besonderheit begründen.
Die Bestimmungen von Art. 519 ff. ZGB, die eine befristete Klage auf Ungültigerklärung der Verfügungen von Todes wegen vorsehen, sind nicht nur auf letztwillige Verfügungen, sondern auch auf Erbverträge anwendbar (BGE 53 II 102). Der Fall der Simulation, der nicht bei allen Verfügungen von Todes wegen, sondern nur beim Erbvertrag eintreten kann, wird darin nicht erwähnt. Gleichwohl will ihn TUOR (bei dem der Beklagte ein Rechtsgutachten eingeholt hat) unter Art. 519 ZGB ziehen, da er mit dem Fall des mangelhaften Willens (Art. 519 Ziff. 2 ZGB) verwandt sei. TUOR nimmt an, es handle sich hier wie dort um authentische Verfügungen von Todes wegen, in welchen ein dem äussern Schein nach wahrer

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Wille des Erblassers zum Ausdruck komme, und es entspreche der ratio legis, dass derartige Verfügungen zunächst als rechtskräftig angesehen werden, und dass sie nur dann keine Wirkungen entfalten, wenn sie vom Richter auf rechtzeitige Klage hin für ungültig erklärt werden. Nichtigkeit liegt nach seiner Auffassung bei den Verfügungen von Todes wegen nur dort vor, wo auch der äussere Tatbestand einer solchen Verfügung fehlt, weil sich das Geschäft als etwas anderes, z.B. als Schenkung unter Lebenden qualifiziert, oder wo zwar der äussere Tatbestand vorliegt, die Urheberschaft des Erblassers aber nicht gegeben ist (unterschobene Verfügung, Zusatz von fremder Hand), oder wo eine vom Erblasser herrührende Verfügung von Todes wegen ihre Gültigkeit nachträglich einbüsst wie z.B. beim Vorversterben eines Erben oder im Falle der Aufhebung (Kommentar N. 7 ff. vor Art. 519 bis 521 ZGB).
Die Verfügungen, die Art. 519 ZGB ausdrücklich der Ungültigkeitsklage unterwirft, entsprechen jedoch nicht nur dem äussern Scheine nach dem Willen des Erblassers, sondern ihr Inhalt ist wirklich gewollt, nur ist der Wille nach dem Gesetz aus irgendeinem Grunde nicht beachtlich. Dies gilt auch im Falle des Zwanges (Art. 519 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 469 Ab. 1 ZGB), mit dem TUOR beweisen will, dass auch bei gänzlich fehlendem Willen blosse Anfechtbarkeit vorliegen könne. Unter "Zwang" kann in Art. 469 ZGB nur der psychische, nicht auch der physische Zwang verstanden sein, da eine Verfügung, die mittels körperlicher Überwältigung des Erblassers (durch Führen seiner Hand) zustandegebracht worden ist, überhaupt nicht als vom Erblasser errichtet (Art. 469 Abs. 1 ZGB) gelten kann. In der Expertenkommission hat denn auch der Referent (HUBER) erklärt, die Begriffe Zwang und Drohung "gehören zusammen und entsprechen der Furcht des OR" (Prot. Exp. Kom. I & II 538), welch letztere den Fall des physischen Zwanges nicht umfasst. Eine Verfügung, die unter dem Einfluss von psychischem

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Zwange entstanden ist, ist aber als vom Erblasser schliesslich gewollt anzusehen (coactus voluit). Im Gegensatz dazu ist der Inhalt eines simulierten Erbvertrages von keiner Partei gewollt. Wegen dieses entscheidenden Unterschiedes geht es nicht an, Art. 469 und 519 ZGB auf den Fall der Simulation entsprechend anzuwenden und demgemäss den simulierten Erbvertrag entgegen der allgemeinen, im Wesen der Simulation begründeten Regel als rechtsbeständig zu behandeln, wenn er nicht innert Frist angefochten wird.
Die Behauptung, dass der Erbverzichtsvertrag vom 21. Januar 1926 simuliert sei, ist daher zu hören, obschon die Klägerin nicht innert der Frist des Art. 521 ZGB auf Ungültigerklärung geklagt hat.
 
Erwägung 3
Das Bezirksgericht, dem die Vorinstanz in diesem Punkte folgt, hat nun festgestellt, dass die Klägerin entgegen dem Vertragswortlaut nichts vorempfangen habe, dass der Beklagte für seine Arbeit im Geschäft reichlich entlöhnt worden sei, sodass kein Anlass bestanden habe, ihn erbrechtlich zu begünstigen, und dass er (der über den Erbverzichtsvertrag von allem Anfang an unterrichtet war) nach dem Tode der Mutter geäussert habe, die Klägerin habe noch viel zugut. Aus diesen nicht aktenwidrigen Feststellungen und aus der Tatsache, dass der Beklagte in seinen einlässlichen Denkschriften vom Sommer 1938 den Erbverzicht überhaupt nicht erwähnte, konnten die kantonalen Instanzen ohne Verletzung von bundesrechtlichen Beweisvorschriften den Schluss ziehen, dass die

BGE 72 II 154 (159):

Parteien den Erbverzichtsvertrag vom 21. Januar 1926 nicht ernst gemeint haben. Ihren tatsächlichen Feststellungen darf ferner entnommen werden, dass die Parteien diese ihre Willensmeinung einander kundgegeben haben. Bei dieser Sachlage ist die Annahme, dass der erwähnte Vertrag simuliert sei, bundesrechtlich nicht anfechtbar.
Der Beklagte macht freilich geltend, die kantonalen Instanzen haben von den tatsächlichen Behauptungen, die er gegen die Annahme eines Scheingeschäftes ins Feld geführt und unter Beweis gestellt habe, mehrere überhaupt nicht berücksichtigt. Diese Vorbringen betreffen jedoch ausschliesslich die Lage und das Verhalten von Frau Cuny, über deren Rechtsstellung im vorliegenden Prozess nicht zu befinden ist. Für die Beurteilung der Frage, ob der zwischen Witwe Ortler und der Klägerin vereinbarte Erbverzicht simuliert sei oder nicht, sind sie belanglos, sodass eine Aktenergänzung nicht geboten ist. [...]
Das Urteil der Vorinstanz ist demgemäss zu bestätigen, soweit es die Ungültigkeit des Erbverzichts der Klägerin und ihren Anspruch auf Teilung des mütterlichen Erbes feststellt.
 
Erwägung 5
5. Wie die Klägerin selber erklärt, hat der Beklagte die streitigen Darlehen von ihr nicht für sich persönlich, sondern für das der Mutter gehörende Geschäft erhoben. Schuldner wurde also nicht der Beklagte, sondern die Mutter, und Schuldner ist nach deren Tod die Erbschaft. Wenn der Beklagte im Prozess die persönliche Schuldpflicht für den Betrag von Fr. 14,000.- unter Vorbehalt der Verjährungseinrede zunächst anerkannte, so hing dies offenkundig mit seiner Behauptung zusammen, dass er der einzige Erbe von Mutter Ortler sei. Nachdem festgestellt ist, dass er Mutter Ortler nicht allein beerbt, darf er also bei seinem Zugeständnis nicht mehr behaftet werden. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ergibt sich die persönliche Haftung des Beklagten für die seinerzeit an Mutter Ortler gewährten Darlehen auch nicht etwa aus

BGE 72 II 154 (160):

Art. 603 ZGB. Die Solidarhaftung der Erben für die Schulden des Erblassers besteht nur zugunsten von Gläubigern, die nicht ihrerseits Erben sind; die Forderungen, die einzelne Erben gegen den Nachlass besitzen, sind im Teilungsverfahren zu liquideren (BGE 71 II 222). Wollte man übrigens davon ausgehen, dass Art. 603 ZGB auch für Schulden des Erblassers gegenüber einem Erben gelte (in diesem Sinne ausser der Vorinstanz auch ESCHER N. 7 zu Art. 610 ZGB), so wäre der Gläubiger, der zugleich Erbe ist, in gleicher Weise wie seine Miterben als Solidarschuldner der betreffenden Forderung anzusehen. Er könnte also den einzelnen Miterben nur für dessen oder allerhöchstens (vgl. BGE 71 II 222) für den um seinen (des Gläubigers) Kopfteil verminderten Forderungsbetrag belangen. Welches der Kopfteil des Beklagten bezw. der Klägerin sei, lässt sich aber nicht ermitteln, solange nicht feststeht, ob Frau Cuny Miterbin sei oder nicht. Selbst wenn Art. 603 ZGB auf das streitige Darlehen grundsätzlich anwendbar wäre, könnte also die Klägerin ihre Forderung im vorliegenden Prozess nicht durchsetzen.