BGE 68 II 377 - Tschechische Zwangsverwaltung
 
56. Urteil der I. Zivilabteilung
vom 22. Dezember 1942 i.S. Böhmische Unionbank gegen Heynau.
 


BGE 68 II 377 (377):

Regeste
Ordre public.
Die Zwangsverwaltung im Sinne der tschechischen Regierungsverordnung vom 21. März 1939 kommt einer entschädigungslosen Enteignung gleich und widerspricht dem schweizerischen ordre public. Verfügungen des Zwangsverwalters über das Vermögen des Eigentümers kann der schweizerische Richter nicht anerkennen.
 
Sachverhalt:
 
A.
Der Kläger Heynau ist Alleininhaber der Malzfabrik Ed. Hamburger & Sohn in Olmütz (Mähren). Diese Firma schloss am 3. Oktober 1938 mit einer Brauerei in Gossau (St. Gallen) einen Malzlieferungsvertrag ab.
Am 15. März 1939 besetzten die deutschen Truppen Böhmen und Mähren. Der Kläger befand sich zu dieser

BGE 68 II 377 (378):

Zeit auf Geschäftsreise in der Schweiz. Da er nach den deutschen Gesetzen als "Nicht-Arier" gilt, kehrte er nicht mehr nach Olmütz zurück. Er hält sich seither in der Schweiz auf.
Am 12. April 1939 setzte der Sonderbeauftragte für die Wirtschaft beim Chef der Zivilverwaltung in Prag den Angestellten Swrschek als Treuhänder der Firma Ed. Hamburger & Sohn ein. Swrschek erhielt insbesondere den Auftrag, den Einzug der Auslandsguthaben durch den Kläger zu verhindern. Am 10. Juni 1939 bezeichnete das Ministerium für Industrie, Handel und Gewerbe in Prag Swrschek als Zwangsverwalter der Firma. Diese Anordnung stützte sich auf § 1 Abs. 1 der Regierungsverordnung vom 21. März 1939 über die Verwaltung von wirtschaftlichen Unternehmungen und die Aufsicht über dieselben.
Am 18. August 1939 lieferte die Firma Ed. Hamburger & Sohn vertragsgemäss das verkaufte Malz und stellte der Käuferin für Fr. 5253.35 Rechnung. Am gleichen Tag zedierte der Zwangsverwalter die Kaufpreisforderung an die Beklagte, die Böhmische Unionbank, Filiale Olmütz, in Olmütz. Sowohl der Kläger wie die Beklagte verlangten von der Käuferin die Bezahlung des Kaufpreises. Diese hinterlegte daher den geschuldeten Betrag, der sich nach Abzug der Frachtauslagen noch auf Fr. 4273.- belief, am 25. September 1939 im Sinne von Art. 96 OR beim Gemeindeamt Gossau.
 
B.
Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger, die Hinterlage von Fr. 4273.- sei ihm unbeschwert herauszugeben. Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und verlangte mit einer Widerklage die Hinterlage für sich heraus.
Das Bezirksgericht Gossau hiess die Klage mit Urteil vom 29. Juni 1942 gut und wies das Gemeindeamt Gossau an, dem Kläger den Betrag von Fr. 4273.- unbeschwert herauszugeben. Auf Appellation der Beklagten hin bestätigte das Kantonsgericht des Kantons St. Gallen am

BGE 68 II 377 (379):

8. Oktober 1942 dieses Urteil. Das Kantonsgericht erklärte ausserdem die Widerklage als verspätet und trat auf sie nicht ein.
 
C.
Gegen das Urteil des Kantonsgerichtes hat die Beklagte Berufung eingereicht mit dem Antrag, die Klage sei abzuweisen. Der Kläger beantragt die Abweisung der Berufung.
 
Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
Die Forderung wurde mit der Lieferung des Malzes fällig. In diesem Zeitpunkt stand die Firma bereits unter dem Zwangsverwalter, der auch die Lieferung anordnete. Ein Wechsel in der Person des Gläubigers der Kaufpreisforderung trat deswegen nicht ein. Der Zwangsverwalter hat mit der schuldnerischen Firma nicht etwa einen neuen Vertrag abgeschlossen. Er handelte für die Firma Ed. Hamburger & Sohn, die nach wie vor weiterbestand, und erfüllte deren Vertragsschuld. Alleininhaber dieser Firma und somit Gläubiger aller ihr zustehenden Forderungen war auch in diesem Zeitpunkt der Kläger. Etwas anderes behauptet der Beklagte nicht.
Das Gläubigerrecht des Klägers ging nach der Darstellung der Beklagten erst unter mit der Abtretung der Kaufpreisforderung an die Beklagte. Diese nahm nicht der Kläger, sondern der Zwangsverwalter am 18. August 1939 vor. Der Kläger bringt an, der Zwangsverwalter sei dazu nicht berechtigt gewesen. Dieser behauptet auch nicht,

BGE 68 II 377 (380):

vom Kläger zur Abtretung ermächtigt worden zu sein. Er stützt sich einzig und allein auf die ihm als staatlich eingesetztem Zwangsverwalter eingeräumten Befugnisse. Es frägt sich, ob diese Tatsache ausreicht, um seine gegen den Willen des Klägers vorgenommene Verfügung über dessen Forderung anzuerkennen.
 
Erwägung 2
2. Nach der Feststellung der Vorinstanz sind die Befugnisse des Zwangsverwalters umfassend. Die Verfügung des Ministeriums für Industrie, Handel und Gewerbe vom 10. Juni 1939 erklärt ihn als berechtigt und verpflichtet, alles anzuordnen, was zum ordentlichen Betrieb der Unternehmung notwendig ist. Der Zwangsverwalter ist insbesondere berechtigt, an Stelle des Besitzers sämtliche Erträgnisse und Einnahmen aus der verwalteten Unternehmung einzuziehen und überhaupt alle die Unternehmung betreffenden Rechtshandlungen vorzunehmen. Dritte, die gegen den Besitzer der Unternehmung Verpflichtungen haben, die aus dem Betrieb der Unternehmung entstanden sind, hat der Zwangsverwalter dem Besitzer auszuhändigen, aber erst nach Genehmigung der Abrechnung durch den Stadtrat. Der Zwangsverwalter ist zudem ermächtigt, den Reinertrag unter Genehmigung durch den Stadtrat zum weitern Betrieb der Unternehmung, zum Ersatz eines Ausfalles oder zur Verbesserung der Betriebseinrichtungen zu verwenden.
Mit der Zwangsverwaltung verliert also der Eigentümer vollständig die Verfügungsmacht über seine Unternehmung und die dazu gehörenden Vermögenswerte, und zwar auf unbestimmte Zeit. Dem Eigentümer entgeht auch die Nutzung seines Vermögens. Allerdings soll ihm der Reinertrag zukommen. Aber die zahlreichen Befugnisse, die dem Zwangsverwalter und dem Stadtrat mit Bezug auf die Verwendung des Reinertrages zustehen, machen den grundsätzlich anerkannten Anspruch des Eigentümers auf den Reinertrag tatsächlich unwirksam. Wie die Vorinstanz

BGE 68 II 377 (381):

feststellte, hat denn auch der Kläger in den dreieinhalb Jahren, seit denen die Zwangsverwaltung besteht, weder eine Abrechnung noch eine Zahlung des Zwangsverwalters erhalten.
Die Zwangsverwaltung berührt somit das Eigentumsrecht nicht unmittelbar, kommt aber in ihrer Wirkung einer vollständigen und dauernden Enteignung gleich. Für diesen schwerwiegenden und umfassenden Eingriff in seine Rechte wird der Eigentümer nicht im geringsten entschädigt. Der Eingriff dient auch nicht etwa dem Schutz privater Rechte, etwa jener des Eigentümers selbst, seiner Angehörigen oder Gläubiger. Wie den Akten entnommen werden muss, wurde die Zwangsverwaltung über die Unternehmung des Klägers einzig deshalb angeordnet, weil er "Nicht-Arier" ist. Etwas anderes behauptet auch die Klägerin nicht.
 
Erwägung 3
3. Der Zwangsverwalter war somit zur Verfügung über das Vermögen des Klägers durch eine staatliche Anordnung ermächtigt. Ob die Zwangsverwaltung auch die in Frage stehende Forderung erfasste, -- was die Vorinstanz verneinte -- braucht nicht untersucht zu werden. Denn auch wenn dies zutrifft, kann die Abtretung nicht anerkannt werden, weil die staatliche Anordnung, auf der die Zwangsverwaltung beruht, dem schweizerischen ordre public zuwiderläuft. Diese Anordnung missachtet das Eigentumsrecht des Klägers so vollständig, dass sie zu den Grundlagen des schweizerischen Rechtes im schroffsten Gegensatz steht. Sie widerspricht sowohl dem Grundsatz der Anerkennung des Privateigentums, der die entschädigungslose Enteignung durch den Staat ausschliesst, als auch dem Grundsatz der Rechtsgleichheit, der einen Eingriff in das Vermögensrecht einer Person einzig wegen ihrer Rasse nicht zulässt.
Die Beklagte bringt vor, das schweizerische Konkursrecht beschränke die Verfügungsmacht des konkursiten Eigentümers ebenfalls sehr weitgehend. Daher könne die Zwangsverwaltung an sich nicht dem schweizerischen

BGE 68 II 377 (382):

Rechtsempfinden widersprechen; höchstens von einzelnen ihrer Wirkungen könnte dies gesagt werden. Allein dieser Einwand ist schon deshalb unhaltbar, weil die Missachtung des Eigentums nicht in der Verfügungsbeschränkung an sich, sondern in der entschädigungslosen Beschränkung liegt. Davon ist im Konkursrecht nicht die Rede. Der Konkursit wird nur deshalb in seiner Verfügungsmacht beschränkt, weil seinem Eigentumsrecht die Ansprüche der Gläubiger auf sein Vermögen entgegenstehen. Die Verfügungsbeschränkung tritt somit ein zugunsten von Verpflichtungen, die der Eigentümer selbst mit freiem Willen aus seinem Vermögen zu erfüllen versprochen hat. Der Konkurs bezweckt also nur die Durchsetzung privater Rechte und die möglichste Verwirklichung des vom Eigentümer selbst Versprochenen. Er hat somit nichts gemein mit der Zwangsverwaltung, die keinen andern erkennbaren Zweck hat als den, einen rechtmässigen Eigentümer wider seinen Willen und entschädigungslos um sein Vermögen zu bringen.
Für den schweizerischen Richter ist eine solche Massnahme nicht beachtlich, da sie mit dem schweizerischen Rechtsempfinden in unverträglichem Widerspruch steht. Den auf Grund einer solchen staatlichen Anordnung getroffenen Verfügungen über das Vermögen des Eigentümers muss daher die Anerkennung versagt werden. Ob der schweizerische ordre public gegenüber einem derartigen Eingriff nur dann anzuwenden sei, wenn eine "Binnenbeziehung" des Streitverhältnisses zum schweizerischen Recht gegeben ist, kann dahingestellt bleiben. Denn eine solche Beziehung ist bei der in Frage stehenden Forderung jedenfalls gegeben. Die schuldnerische Firma hat ihren Sitz in der Schweiz; der Kläger hat sich in der Schweiz niedergelassen, bevor die Forderung fällig wurde; der hinterlegte Betrag befindet sich bei einer schweizerischen Amtsstelle.
 
Erwägung 4
4. Die Beklagte führt als Zessionarin noch an, wenn die Zwangsverwaltung an sich dem schweizerischen ordre public zuwiderlaufe, so könne dies von der Abtretung der

BGE 68 II 377 (383):

Forderung nicht gesagt werden. Diese stelle ein ordentliches Rechtsgeschäft zwischen zwei mährischen Firmen dar, das die schweizerische Ordnung nicht verletze. Nach dem schweizerischen Recht könne zudem ein gutgläubiger Besitzer von einem nicht verfügungsberechtigten Veräusserer Eigentum erwerben; der wahre Eigentümer verliere durch den gutgläubigen Erwerb des Besitzers sein Eigentum. Wenn auch das schweizerische Obligationenrecht einen ähnlichen gutgläubigen Rechtserwerb bei Forderungen nicht kenne, so könne doch ein Rechtserwerb an einer abgetretenen Forderung, bei dem der bisherige Eigentümer seines Rechts verlustig gehe, in Anbetracht der Regelung des schweizerischen Sachenrechtes nicht als gegen den schweizerischen ordre public verstossend angesehen werden.
Allein wenn die Zwangsverwaltung gegen den ordre public verstösst, so gilt das Gleiche, wie bereits dargelegt wurde, ohne weiteres für alle sich auf die Zwangsverwaltung stützenden Verfügungen über das verwaltete Vermögen, also auch für die Abtretung einer Forderung. Auch der Zessionar muss sich diesen Mangel der Abtretung vor dem schweizerischen Richter entgegenhalten lassen. Sonst wäre die Durchsetzung des schweizerischen ordre public überhaupt nicht möglich. Dem Zwangsverwalter, der die Forderung in der Schweiz wegen des ordre public selbst nicht einbringen kann, darf nicht gestattet werden, dieses Ziel auf dem Umweg über die Abtretung zu erreichen.
Ob der Hinweis der Beklagten auf die Ordnung des Sachenrechtes in bezug auf den gutgläubigen Erwerb dann beachtet werden müsste, wenn die Beklagte als Zessionarin gutgläubig wäre, kann dahingestellt bleiben, weil sie einen solchen Sachverhalt selbst nicht behauptet. Die Verhältnisse, die für die Anwendung des ordre public massgebend sind, waren ihr bekannt. Sie stand mit der Firma Ed. Hamburger & Sohn seit jeher in Geschäftsbeziehung.
Wie die Vorinstanz feststellte, wusste sie, dass sich der Kläger in der Schweiz niederliess, und musste nach den

BGE 68 II 377 (384):

Umständen auch wissen, dass er die Zwangsverwaltung und die Abtretung der Forderung nicht anerkenne.
 
Dispositiv
Demgemäss erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichtes des Kantons St. Gallen vom 8. Oktober 1942 bestätigt.