BGE 145 I 282
 
18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Verein Referendum gegen Versicherungsspitzelei gegen Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) sowie Bundeskanzlei (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
1C_389/2018 und andere vom 8. August 2019
 
Regeste
Art. 34 Abs. 1 und 2 BV, Art. 82 lit. c und Art. 89 Abs. 3 BGG, Art. 10a und Art. 77 Abs. 2 BPR; Interventionen eines Bundesamts sowie einer öffentlich-rechtlichen Anstalt in den Abstimmungskampf im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. November 2018 über die Änderung des ATSG.
 
Sachverhalt


BGE 145 I 282 (283):

A. Am 16. März 2018 beschloss die Bundesversammlung eine Änderung des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) unter dem Titel "Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten" (BBl 2018 1491 ff.). Dagegen ergriff der Verein "Referendum gegen Versicherungsspitzelei" das Referendum. Am 16. Juli 2018 stellte die Bundeskanzlei das Zustandekommen des Referendums fest (BBl 2018 4543 f.).
B. Bereits am 26. Juni 2018 veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) unter Hinweis auf die Gesetzesänderung vom 16. März 2018 auf seiner Website ein Dokument mit dem Titel "Fragen und Antworten: Gesetzliche Grundlagen für die Überwachung von Versicherten". Am 5. Juli 2018 publizierte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) auf ihrer Website ein Dokument mit dem Titel "Faktencheck zum Observationsgesetz".
Am 23. Juli 2018 erhob der Verein "Referendum gegen Versicherungsspitzelei" Abstimmungsbeschwerde an den Regierungsrat des Kantons Zürich. Er beantragte, das BSV und die Suva seien anzuweisen, die Dokumente mit den Titeln "Fragen und Antworten: Gesetzliche Grundlagen für die Überwachung von Versicherten" bzw. "Faktencheck zum Observationsgesetz" von ihren Internetseiten zu entfernen, und es sei festzustellen, dass es sich dabei um irreführende Informationen handle. Eventualiter seien das BSV und die Suva zu verpflichten, keine irreführenden Informationen zum Abstimmungsgegenstand mehr zu verbreiten, es sei klarzustellen, dass es sich bei den erwähnten Publikationen um die Meinung des BSV bzw. der Suva handle, und es sei dem Referendumskomitee die Möglichkeit zu geben,

BGE 145 I 282 (284):

in den erwähnten Dokumenten im gleichen Umfang seine Sicht zum Abstimmungsgegenstand darzulegen.
Mit Entscheid vom 2. August 2018 verfügte der Präsident des Regierungsrats für den Regierungsrat Nichteintreten auf die Beschwerde, da die gerügten Akte kantonsübergreifende Auswirkungen hätten. Ob die Beschwerdeerhebung rechtzeitig erfolgte, liess der Entscheid offen. Gegen den Entscheid des Regierungsrats vom 2. August 2018 hat der Verein "Referendum gegen Versicherungsspitzelei" am 13. August 2018 Beschwerde an das Bundesgericht erhoben (...). Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und wiederholt die vor der Vorinstanz in der Sache gestellten Anträge.
(...)
D. Am 25. November 2018 fand die eidgenössische Volksabstimmung über die Änderung vom 16. März 2018 des ATSG statt. Gemäss vorläufigem amtlichem Ergebnis wurde die Vorlage bei einer Stimmbeteiligung von 47,5 % mit 1'666'844 Ja-Stimmen (64,7 %) zu 910'326 Nein-Stimmen (35,3 %) angenommen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
 
2. (...)
(...)
2.2.2 Bei den vom Beschwerdeführer kritisierten Dokumenten des BSV sowie der Suva handelt es sich um Akte, die im Sinne von Art. 82 lit. c BGG Gegenstand einer Beschwerde in Stimmrechtssachen sein können. Daran ändert unter den gegebenen Umständen die Tatsache nichts, dass die Dokumente publiziert wurden, noch bevor die Bundeskanzlei das Zustandekommen des Referendums feststellte. Die beanstandeten Informationen waren unbestritten auch zum Zeitpunkt des Zustandekommens des Referendums und darüber hinaus auf der Internetseite des BSV bzw. der Suva abrufbar. Sie waren

BGE 145 I 282 (285):

sodann darauf ausgelegt, die Stimmberechtigten im Hinblick auf die (wahrscheinlich) bevorstehende Referendumsabstimmung bei der Willensbildung zu unterstützen. Damit sind die beiden kritisierten Publikationen als Interventionen in den Abstimmungskampf zu betrachten, die den entsprechenden gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen hatten.
2.2.3 Nachdem die eidgenössische Volksabstimmung über die Änderung des ATSG am 25. November 2018 stattgefunden hat, ist die Beschwerde gegenstandslos geworden, soweit der Beschwerdeführer damit die weitere Verbreitung von bestimmten Dokumenten verhindern wollte. Allerdings werden gegen Vorbereitungshandlungen von Abstimmungen gerichtete Beschwerden als gegen die Abstimmung gerichtet verstanden, wenn der Urnengang in der Zwischenzeit stattgefunden hat (Urteil 1C_216/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 1, nicht publ. in: BGE 145 I 175; Urteile 1C_163/2018 / 1C_239/2018 vom 29. Oktober 2018 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 145 I 1; 1C_632/ 2017 vom 5. März 2018 E. 1.1 mit Hinweisen). In diesem Sinne ist die Beschwerde (...) entgegenzunehmen, zumal der Beschwerdeführer an einer Aufhebung des Resultats der Volksabstimmung über die Änderung des ATSG ein aktuelles praktisches Interesse hat, nachdem die Vorlage gemäss vorläufigem amtlichem Endergebnis von den Stimmberechtigten angenommen wurde. Zulässig ist auch der Antrag auf Feststellung einer Verletzung von Art. 34 BV, weil das Bundesgericht im Rahmen von Art. 107 Abs. 2 BGG unter bestimmten Umständen eine Verletzung der politischen Rechte förmlich feststellen kann, ohne den betreffenden Urnengang aufzuheben (vgl. Urteile 1C_213/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 1.2 sowie 1C_511/2015 vom 12. Oktober 2016 E. 1.4, nicht publ. in: BGE 143 I 92).
(...)
3. Der Beschwerdeführer erhob die erste Abstimmungsbeschwerde an den Regierungsrat am 23. Juli 2018, nachdem er die Verfügung der Bundeskanzlei über das Zustandekommen des Referendums am

BGE 145 I 282 (286):

18. Juli 2018 zur Kenntnis genommen hatte. Die Vorinstanz liess in ihrem Nichteintretensentscheid vom 2. August 2018 ausdrücklich offen, ob die Beschwerde vom 23. Juli 2018 im Sinne von Art. 77 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1) rechtzeitig innert drei Tagen seit Entdeckung des Beschwerdegrundes eingereicht worden sei. In ihrer Vernehmlassung ans Bundesgericht wirft auch die Bundeskanzlei die Frage auf, ob die Beschwerdeerhebung am 23. Juli 2018 rechtzeitig erfolgte, nachdem die beanstandeten Informationen bereits am 26. Juni bzw. 5. Juli 2018 publiziert worden seien und der Bundesrat unter Vorbehalt des Zustandekommens des Referendums den Termin für die Abstimmung über die Änderung des ATSG bereits am 4. Juli 2018 festgelegt habe.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Mängel im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen sofort zu rügen. Diese Praxis bezweckt, dass Mängel möglichst noch vor der Wahl oder Abstimmung behoben werden können und der Urnengang nicht wiederholt zu werden braucht. Unterlässt dies der Stimmberechtigte, so verwirkt er im Grundsatz das Recht zur Anfechtung der Wahl oder Abstimmung (BGE 140 I 338 E. 4.4 S. 341 mit Hinweisen). In BGE 140 I 338 hat das Bundesgericht im Rahmen einer Beschwerde im Vorfeld einer eidgenössischen Volksinitiative die Frage offengelassen, ob von den Stimmberechtigten verlangt werden kann, Unregelmässigkeiten mit Abstimmungsbeschwerde innert drei Tagen zu beanstanden, wenn zwar das Zustandekommen der Volksinitiative feststeht, aber der Abstimmungstermin noch nicht amtlich bekannt ist (a.a.O., E. 4.4).
Von den Stimmberechtigten kann jedenfalls nicht verlangt werden, Unregelmässigkeiten im Vorfeld einer Referendumsabstimmung mit Abstimmungsbeschwerde innert drei Tagen zu beanstanden, bevor nur schon das Zustandekommen des Referendums feststeht. Die für den Beschwerdeführer für die Anfechtung der beanstandeten Akte massgebliche Frist von drei Tagen gemäss Art. 77 Abs. 2 BPR lief somit frühestens ab Kenntnisnahme der Verfügung der Bundeskanzlei vom 16. Juli 2018 über das Zustandekommen des Referendums und somit ab dem 18. Juli 2018. Unter Berücksichtigung des Wochenendes vom 21./22. Juli 2018 hat der Beschwerdeführer die Frist von Art. 77 Abs. 2 BPR mit seiner Eingabe an den Regierungsrat vom 23. Juli 2018 gewahrt.
4. Der Beschwerdeführer rügt, verschiedene behördliche Interventionen im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. November

BGE 145 I 282 (287):

2018 über die Änderung vom 16. März 2018 des ATSG stünden im Widerspruch zur in Art. 34 Abs. 2 BV verankerten Abstimmungsfreiheit.
4.1 Die in der Bundesverfassung verankerte Garantie der politischen Rechte (Art. 34 Abs. 1 BV) schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe (Art. 34 Abs. 2 BV). Geschützt wird namentlich das Recht der Stimmberechtigten, weder bei der Bildung noch bei der Äusserung des politischen Willens unter Druck gesetzt oder in unzulässiger Weise beeinflusst zu werden. Die Stimmberechtigten sollen ihre politische Entscheidung gestützt auf einen gesetzeskonformen sowie möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen können. Die Abstimmungsfreiheit gewährleistet die für den demokratischen Prozess und die Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen erforderliche Offenheit der Auseinandersetzung (BGE 145 I 1 E. 4.1 S. 5, BGE 145 I 207 E. 2.1 S. 215; BGE 143 I 78 E. 4.3 S. 82; BGE 140 I 338 E. 5 S. 341 f. mit Hinweisen).
Aus Art. 34 Abs. 2 BV wird namentlich eine Verpflichtung der Behörden auf korrekte und zurückhaltende Information im Vorfeld von Abstimmungen abgeleitet. Aus Art. 34 Abs. 2 BV ergeben sich im Vorfeld von Abstimmungen sodann auch Einschränkungen für Unternehmen, die - unabhängig von ihrer Organisationsform - direkt oder indirekt unter dem bestimmenden Einfluss eines Gemeinwesens stehen (BGE 145 I 1 E. 4.1 S. 5; BGE 140 I 338 E. 5.2 f. S. 342 f.).
4.2 Selbst wenn Mängel vor einer Abstimmung oder bei deren Durchführung festzustellen sind, ist die Abstimmung nach der Rechtsprechung nur dann aufzuheben, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben können. Die Beschwerdeführer müssen in einem solchen Fall zwar nicht nachweisen, dass sich der Mangel auf das Ergebnis der Abstimmung entscheidend ausgewirkt hat. Es genügt, dass nach dem festgestellten Sachverhalt eine derartige Auswirkung im Bereich des Möglichen liegt. Erscheint allerdings die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den Mangel anders ausgefallen wäre, nach den gesamten Umständen als derart gering, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht fällt, so kann von der Aufhebung der Abstimmung abgesehen werden (BGE 145 I 1 E. 4.2 S. 5, BGE 145 I 207 E. 4.1 S. 222; BGE 141 I 221 E. 3.3 S. 225; BGE 138 I 61 E. 4.7.2 S. 78; BGE 135 I 292 E. 4.4 S. 301; Urteil des Bundesgerichts 1C_641/2013 vom 24. März 2014 E. 4.3, in: ZBl 115/2014 S. 612; je mit Hinweisen).


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4.3 Der Beschwerdeführer kritisiert einerseits eine Publikation des BSV und damit einer Bundesbehörde. Darauf ist in Erwägung 5 einzugehen. Andererseits beanstandet er eine Publikation der Suva. Darauf ist in Erwägung 6 zurückzukommen.
5.1 Bei Sachabstimmungen im eigenen Gemeinwesen kommt den Behörden eine gewisse Beratungsfunktion zu. Diese nehmen sie mit der Redaktion der Abstimmungserläuterungen, aber auch in anderer Form wahr. Die Behörden sind dabei nicht zur Neutralität verpflichtet und dürfen eine Abstimmungsempfehlung abgeben. In Einzelfällen ergibt sich aus Art. 34 Abs. 2 BV sogar eine Pflicht der Behörden zur Information (BGE 145 I 1 E. 5.2.1 S. 9, BGE 145 I 175 E. 5.1 S. 177; BGE 143 I 78 E. 4.4 S. 82 f. mit Hinweisen). Informationen im Vorfeld einer Abstimmung unterliegen den Geboten der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit. Behördliche Informationen zu eigenen Vorlagen müssen geeignet sein, zur offenen Meinungsbildung beizutragen, und dürfen nicht in dominanter und unverhältnismässiger Art im Sinne eigentlicher Propaganda eine freie Willensbildung der Stimmberechtigten erschweren oder geradezu verunmöglichen (BGE 145 I 1 E. 5.2.1 S. 9 f., BGE 145 I 175 E. 5.1 S. 177; BGE 140 I 338 E. 5.1 S. 342 mit Hinweisen). Das Gebot der Sachlichkeit verbietet, über den Zweck und die Tragweite einer Vorlage falsch zu orientieren, für die Meinungsbildung bedeutende Gegebenheiten zu verschweigen oder Argumente von gegnerischen Referendums- oder Initiativkomitees falsch wiederzugeben. Bei negativen Bewertungen (z.B. von Argumenten des Referendumskomitees) müssen hierfür gute Gründe bestehen (BGE 140 I 338 E. 7.3 S. 348 mit Hinweisen).
Für Abstimmungen auf Bundesebene sieht Art. 10a BPR vor, dass der Bundesrat die Stimmberechtigten kontinuierlich über die

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eidgenössischen Abstimmungsvorlagen informiert (Abs. 1), wobei er die Grundsätze der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit beachtet (Abs. 2), die wichtigsten im parlamentarischen Entscheidungsprozess vertretenen Positionen darlegt (Abs. 3) und keine von der Haltung der Bundesversammlung abweichende Abstimmungsempfehlung vertritt (Abs. 4). Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung nimmt vor diesem Hintergrund an, dass nicht die Frage der Zulässigkeit einer behördlichen Intervention im Vordergrund steht, sondern vielmehr deren Art und Wirkung (vgl. BGE 145 I 1 E. 5.2.1 S. 10, BGE 145 I 175 E. 5.1 S. 177; BGE 143 I 78 E. 4.4 S. 83 mit Hinweisen).
5.2 Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) untersteht dem Departement des Innern (EDI) und ist die Fachbehörde des Bundes für die soziale Sicherheit (Art. 11 Abs. 1 der Organisationsverordnung vom 28. Juni 2000 für das Eidgenössische Departement des Innern [OV-EDI; SR 172.212.1]). Die Departemente informieren über ihre Tätigkeit in Absprache und Zusammenarbeit mit der Bundeskanzlei und regeln die Informationsaufgaben der ihnen untergeordneten Einheiten (Art. 23 Abs. 1 und 2 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998 [RVOV; SR 172.010.1] i.V.m. Art. 40 RVOG [SR 172.010]). Zu den Funktionen des BSV gehört unter anderem, für die Politik Entscheidgrundlagen und Dokumentationen über die soziale Sicherheit bereitzustellen und im Bereich der Sozialversicherungen zu informieren sowie zu beraten (Art. 11 Abs. 3 lit. b und c OV-EDI).
Zu Recht bestreitet der Beschwerdeführer nicht, dass das BSV zuständig und berechtigt war, unter der Führung des EDI über den Inhalt und die Bedeutung der Änderung des ATSG zu informieren. Dabei hatte das BSV im Hinblick auf die bevorstehende Referendumsabstimmung die in Art. 34 Abs. 2 BV verankerte Abstimmungsfreiheit zu beachten und sich insbesondere an den in Art. 10a BPR für den Bundesrat explizit festgehaltenen Informationsgrundsätzen zu orientieren.


BGE 145 I 282 (290):

Das BSV verschweige auch, dass der Wortlaut des Gesetzes nicht nur technische Geräte zur Standortbestimmung zulasse, sondern auch Nachtsichtgeräte, Richtmikrofone oder Drohnen, und diese sogar ohne richterliche Genehmigung.
Das BSV habe sodann nicht darüber informiert, dass die Versicherungsträger selber entscheiden könnten, wann und wo überwacht werde sowie dass das aus einer Observation stammende Material auch von einem anderen Versicherungsträger verwendet werden dürfe. Ausserdem werde aus der Information des BSV nicht klar, wogegen sich ein Versicherter vor dem Richter nachträglich genau wehren könne. Der Beschwerdeführer stört sich sodann an der Formulierung, wonach Observationen lediglich als ultima ratio vorgesehen seien.
Weiter kritisiert der Beschwerdeführer die Aussage, wonach die Polizei nur Straftatbestände kläre, während die Klärung von Voraussetzungen zur Ausrichtung von Versicherungsleistungen ausserhalb ihrer Kompetenz liege. Richtig sei, dass der objektive Tatbestand von Art. 148a StGB alle Formen des unerlaubten Bezugs von Sozialversicherungsleistungen umfasse. Daneben bleibe kein Platz für eine spezifisch sozialversicherungsrechtliche Sichtweise. Ausserdem verschweige das BSV, dass die Kompetenzen der Versicherer weiter gingen als diejenigen der Polizei. Das BSV übergehe, dass Versicherte gemäss den neuen Bestimmungen auch in Privaträumen gefilmt werden dürften, soweit sich die observierende Person auf öffentlichem Grund befinde und die Privaträume von dort aus frei einsehbar seien.
 
Erwägung 5.4
5.4.1 Im Gegensatz zur Ansicht des Beschwerdeführers hat das umstrittene Dokument die interessierten Stimmberechtigten in sachlich gehaltener Form und Sprache über die neuen Bestimmungen des ATSG orientiert. Es ist nicht zu beanstanden, dass sich das BSV im Dokument "Fragen und Antworten" nicht zu allen vom Beschwerdeführer angesprochenen Details der Gesetzesvorlage geäussert hat. Dies gilt umso mehr, als es sich beim Dokument "Fragen und Antworten" lediglich um einen Ausschnitt der gesamten Informationen zur Gesetzesänderung auf der Internetseite des BSV handelt. Dieses Dokument bildete Bestandteil einer umfangreicheren Dokumentation zur Revision des ATSG mit dem Titel "Observation durch die Sozialversicherungen". Die Dokumentation bestand aus einem einleitenden Text, einem ausführlicheren Hintergrunddokument vom 8. August

BGE 145 I 282 (291):

2018, dem bereits erwähnten Dokument "Fragen und Antworten" vom 25. Juni 2018 sowie weiterführenden Hinweisen ("Links"). Unter anderem wurde im einleitenden Text sowie im Hintergrunddokument vom 8. August 2018 ausdrücklich erklärt, dass der Geltungsbereich der neuen Bestimmungen grundsätzlich alle Sozialversicherungen des Bundes umfasse, d.h. auch Versicherungen, bei denen bisher keine Observationen durchgeführt wurden.
Etwas störend mag sein, dass das Hintergrunddokument vom 8. August 2018 nicht gleichzeitig mit dem Dokument "Fragen und Antworten" auf der Internetseite des BSV publiziert wurde. Im Hinblick auf den Abstimmungstermin vom 25. November 2018 erfolgte die Publikation Anfang August indessen noch früh genug und ist dem BSV nicht vorzuwerfen, dass es den interessierten Stimmberechtigten noch ergänzende Informationen zur Abstimmungsvorlage zur Verfügung gestellt hat.
5.4.2 Die vom Beschwerdeführer erhobene Kritik gründet teilweise darin, dass sich das Dokument "Fragen und Antworten" nicht durchwegs auf den Gesetzeswortlaut alleine bezieht, sondern dass den Antworten teilweise die Auslegung der Gesetzesbestimmungen zu Grunde liegt, wie sie vom Bundesrat sowie der die Gesetzesänderung befürwortenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung im Gesetzgebungsprozess vertreten wurde. Dies gilt beispielsweise für die Aussagen, wonach Richtmikrofone oder Nachtsichtkameras sowie Drohnen bei Observationen nicht erlaubt seien und wonach Vorgänge in geschlossenen, gegen den Einblick Aussenstehender abgeschirmten Räumen und Örtlichkeiten von der Strasse aus nicht fotografiert oder gefilmt werden dürften. Zwar wäre es wünschenswert gewesen, das BSV hätte im Dokument "Fragen und Antworten" darauf hingewiesen, die von ihm vertretene Auffassung ergebe sich nicht durchwegs zwingend aus dem Wortlaut der neuen Bestimmungen, sondern sei mindestens teilweise das dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Ergebnis ihrer Auslegung. Eine irreführende Information der Stimmberechtigten ist in den kritisierten Textpassagen jedoch nicht zu erblicken, zumal der Umstand, dass der Wortlaut der neuen Bestimmungen allenfalls auch anders verstanden werden könnte, die Ausführungen des BSV nicht per se als unsachlich oder irreführend erscheinen lässt.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Entwurf des Bundesrats vom 7. Juni 2019 zu den Änderungen der Verordnung über den Allgemeinen

BGE 145 I 282 (292):

Teil des Sozialversicherungsrechts (E-ATSV; www.bsv.admin. ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/ueberblick/observationen.html, [besucht am 3. Juli 2019]) der vom BSV im Vorfeld der Abstimmung vom 25. November 2018 vertretenen Gesetzesauslegung Rechnung trägt. Namentlich hat der Bundesrat im Verordnungsabschnitt "Durchführung der Observation" im Sinne der vom BSV vertretenen Auffassung detailliert geregelt, an welchen Orten und mit welchen Mitteln Observationen zulässig bzw. unzulässig sind (vgl. Art. 7h und 7i E-ATSV).
6. Die Suva informierte auf ihrer Internetseite im Dokument "Faktencheck zum Observationsgesetz" (nachfolgend: Dokument "Faktencheck") über den Inhalt und die Bedeutung der neu ins ATSG aufgenommenen Bestimmungen. Das Dokument nimmt Bezug auf 15 in der Debatte über die Vorlage vorgebrachte Argumente, unterzieht diese einer Prüfung und bezeichnet die zitierten Argumente jeweils mit kurzer Begründung als richtig (1 mal) oder falsch (13 mal). In einem Fall lässt die Suva offen, ob das gegen die Vorlage vorgebrachte Argument zutreffend sei oder nicht. Neben den Textblöcken war bei den als falsch bezeichneten Aussagen ein umrandetes Kreuz in roter Farbe platziert, beim als richtig bezeichneten Argument ein umrandetes Häkchen in grüner Farbe und beim weder als richtig noch falsch bezeichneten Argument ein oranges Fragezeichen. Der Beschwerdeführer erachtet das von der Suva auf ihrer Internetseite

BGE 145 I 282 (293):

veröffentlichte Dokument "Faktencheck" als unsachlich und irreführend. Darüber hinaus wirft er die Frage auf, ob die Suva als öffentlich-rechtliches Unternehmen überhaupt berechtigt war, in den Abstimmungskampf einzugreifen.
6.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Unternehmen, die - unabhängig von ihrer Organisationsform - direkt oder indirekt unter dem bestimmenden Einfluss eines Gemeinwesens stehen, grundsätzlich zur politischen Neutralität verpflichtet. Eine Stellungnahme im Vorfeld einer Abstimmung ist indessen im Einzelfall zulässig, wenn ein Unternehmen durch die Abstimmung besonders betroffen wird, namentlich in der Umsetzung seines gesetzlichen oder statutarischen Auftrags, und ähnlich einem Privaten in seinen wirtschaftlichen Interessen berührt wird. In diesen Fällen kann sich das Unternehmen grundsätzlich der auch sonst im Abstimmungskampf verwendeten Informationsmittel bedienen, doch muss es sich jedenfalls einer gewissen Zurückhaltung befleissigen. Ist es einem öffentlich beherrschten Unternehmen aufgrund seiner besonderen Betroffenheit erlaubt, in den Abstimmungskampf zu intervenieren, so ist es befugt, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Es hat seine Interessen indessen in objektiver und sachlicher Weise zu vertreten und darf sich keiner verpönter oder verwerflicher Mittel bedienen. Dazu gehört auch, dass es nicht mit unverhältnismässigem Einsatz öffentlicher (z.B. durch die Ausnützung von rechtlichen oder faktischen Monopolen und Zwangstarifen erwirtschafteter) Mittel in den Abstimmungskampf eingreift. Die gebotene Zurückhaltung beurteilt sich damit in ähnlicher Weise, wie sie den Gemeinden aufgegeben ist, wenn sie ausnahmsweise in besonderer Weise betroffen und daher zur Intervention berechtigt sind (vgl. BGE 145 I 1 E. 7.2 S. 22; BGE 140 I 338 E. 5.2 S. 342 f. mit Hinweisen).
6.2 Die Suva ist nach Art. 61 Abs. 1 UVG (SR 832.20) eine autonome Anstalt des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit. Sie betreibt eine obligatorische Unfallversicherung für bestimmte Versichertenkategorien (vgl. Art. 61 Abs. 2 i.V.m. Art. 58 und 66 UVG) und untersteht der durch den Bundesrat ausgeübten Oberaufsicht des Bundes (Art. 61 Abs. 3 UVG). Die Organe der Suva sind der Suva-Rat, die Geschäftsleitung sowie die Revisionsstelle (Art. 62 UVG). Dem Suva-Rat obliegt die Oberleitung der Suva gemäss Art. 63 Abs. 5 UVG. Er besteht aus 16 Vertretern der bei der Suva versicherten Arbeitnehmer, 16 Vertretern der Arbeitgeber, die bei der Suva versicherte Arbeitnehmer beschäftigen, sowie acht Vertretern des

BGE 145 I 282 (294):

Bundes (Art. 63 Abs. 1 UVG). Die Mitglieder des Suva-Rats werden vom Bundesrat gewählt und können von diesem aus wichtigen Gründen abberufen werden (Art. 63 Abs. 2 UVG). Als Trägerin staatlicher Aufgaben ist die Suva an die Grundrechte gebunden (Art. 35 Abs. 2 BV).
Die Suva steht somit unter dem bestimmenden Einfluss des Bundes. Sie war indessen von der Abstimmung über die neuen Bestimmungen des ATSG in der Umsetzung ihres gesetzlichen Auftrags besonders betroffen und ähnlich einem Privaten in ihren wirtschaftlichen Interessen berührt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass in der Vergangenheit die Anzahl pro Jahr durchgeführter Observationen (rund 15) im Verhältnis zur grossen Zahl von jährlich insgesamt beurteilten Unfällen (über 460'000) sehr klein war. Die Stimmberechtigten hatten ein Interesse daran zu wissen, wie sich die vom Abstimmungsgegenstand besonders betroffene Suva zur Gesetzesvorlage stellt. Gleichzeitig war den Stimmberechtigten klar, dass die Suva als von der Vorlage besonders betroffenes Unternehmen ihren eigenen Standpunkt vertritt und nicht politisch neutral ist. Damit war die Suva unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung zu einer Stellungnahme im Vorfeld der Abstimmung vom 25. November 2018 berechtigt. Als öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes hatte sich die Suva im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung in analoger Anwendung von Art. 10a Abs. 2 BPR namentlich an den für den Bundesrat explizit festgehaltenen Informationsgrundsätzen zu orientieren.
Als unsachlich erachtet der Beschwerdeführer die Ausführungen im Dokument "Faktencheck", wonach die Sozialversicherungsdetektive nicht mehr dürften als der Polizei und der Staatsanwaltschaft erlaubt sei. Nicht korrekt seien namentlich die Aussagen, wonach gemäss den neuen Bestimmungen Versicherte in geschlossenen Räumen nicht gefilmt werden dürften und bei der Observation keine Richtmikrofone eingesetzt werden dürften. Als faktenwidrig bezeichnet der Beschwerdeführer sodann verschiedene Ausführungen der Suva zu den

BGE 145 I 282 (295):

Voraussetzungen, die für eine Observation erfüllt sein müssen. In diesem Zusammenhang macht er unter anderem geltend, die Suva verschweige, dass Observationen nicht durch einen Richter, sondern durch Versicherungsdirektoren angeordnet würden.
Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, die Aussagen der Suva, wonach für den Entscheid über die Ausrichtung von Versicherungsleistungen die Ergebnisse einer allfälligen Observation nicht für sich alleine, sondern lediglich zusammen mit den übrigen Fakten wie den medizinischen Unterlagen, Begutachtungen und Gesprächen massgebend seien, entsprächen nur teilweise der Realität bzw. gäben nur die Perspektive der Suva wieder. Der Beschwerdeführer bringt sodann vor, die Aussage der Suva, wonach mehr als 99 % der Leistungsbezüger ehrlich seien und deren Leistungsbezug legitimiert sei bzw. von niemandem in Frage gestellt werde, verschleiere, dass die Möglichkeit, observiert zu werden, auf leistungsberechtigte Personen einen abschreckenden Effekt haben könne. Schliesslich kritisiert der Beschwerdeführer die Passage, in welcher die Suva letztlich offenlässt bzw. es dem Gesetzgeber überlassen will, ob die neuen Bestimmungen im ATSG am richtigen Ort verankert werden oder ob sie stattdessen ins Strafgesetz gehörten.
6.4 Dem Beschwerdeführer ist insofern zuzustimmen, als der Titel des Dokuments der Suva "Faktencheck zum Observationsgesetz" den Eindruck vermitteln kann, es handle sich bei den gemachten Aussagen um rechtlich gesicherte Fakten in dem Sinne, dass die gegenteilige Auffassung mit dem Wortlaut der neuen Gesetzesbestimmungen nicht vereinbar wäre. Verstärkt wird dieser Eindruck, indem die Argumente im Text und mit grafischer Unterstützung als "richtig" oder "falsch" bezeichnet werden. Bei den thematisierten Punkten handelt es sich indessen teilweise nicht um rechtlich gesicherte Fakten, die sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmungen ergeben, sondern insbesondere auch um Prognosen über die konkrete Anwendung der neuen Gesetzesartikel, welche notwendigerweise mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Der Prüfung der Argumente durch die Suva liegt die Auslegung der Gesetzesbestimmungen zu Grunde, wie sie vom Bundesrat, vom BSV sowie von der die Gesetzesänderung befürwortenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung im Gesetzgebungsprozess vertreten wurde (vgl. E. 5.4.2 hiervor), was zwar aus dem gewählten Titel und der gewählten Form des Dokuments nicht hervorgeht, in den entsprechenden Textpassagen von der Suva jedoch ausdrücklich ausgewiesen wird.


BGE 145 I 282 (296):

Die jeweiligen Begründungen, weshalb die im Dokument "Faktencheck" zitierten Argumente in 13 Fällen nicht überzeugend seien, sind sachlich und mit der geforderten Zurückhaltung formuliert. Eindeutig faktenwidrige Aussagen sind den Ausführungen der Suva nicht zu entnehmen und zur politischen Neutralität war die Suva als von der Abstimmung besonders betroffenes Unternehmen nicht verpflichtet. Es ist sodann nicht zu beanstanden, dass sich die Suva nicht zu allen vom Beschwerdeführer angesprochenen Details der Gesetzesvorlage geäussert hat. Ebenfalls nicht unsachlich oder irreführend ist, dass die Suva in einzelnen Textpassagen auf die - ihrer Ansicht nach zurückhaltende - Praxis ihrer eigenen Organe bei Observationen verwiesen hat. Aufgrund der gewählten Formulierung war für den Stimmbürger erkennbar, dass es sich bei den entsprechenden Schilderungen nicht um gesetzlich definierte zwingende Schranken handelt, die für alle Versicherer gelten bzw. von allen Versicherern gleich gehandhabt werden, sondern dass die Suva damit lediglich auf ihre Absicht hinweisen wollte, mit den ihr eingeräumten Möglichkeiten zurückhaltend umzugehen.
6.5 Daran, dass sich der mit dem Dokument "Faktencheck" verbundene Einsatz von finanziellen Mitteln - wie die Suva erklärt - in engen Grenzen hielt, ist nicht zu zweifeln. Gesamthaft betrachtet hat die Suva als von der Abstimmung besonders betroffenes Unternehmen ihre Interessen mit dem Dokument "Faktencheck" trotz des gewählten Titels und der gewählten Form noch in einigermassen objektiver und sachlicher Weise vertreten. Selbst wenn man zum Schluss käme, das von der Suva am 5. Juli 2018 auf ihrer Internetseite veröffentlichte Dokument "Faktencheck zum Observationsgesetz" genüge dem Grundsatz der Sachlichkeit nicht, wäre die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den entsprechenden Mangel anders ausgefallen wäre, namentlich mit Blick auf das deutliche Ergebnis der Abstimmung, jedenfalls derart gering, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht fallen würde. Auch würde es sich unter den gegebenen Umständen nicht rechtfertigen, eine entsprechende Verletzung der Abstimmungsfreiheit im Dispositiv förmlich festzustellen (vgl. BGE 143 I 78 E. 7.3 S. 91).