BGE 127 I 185 - Unfreiwilligkeitszuschlag Staldenried
 
20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 30. Mai 2001
i.S. R. gegen Munizipalgemeinde Staldenried und Kantonsgericht des Kantons Wallis
(staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Unfreiwilligkeitszuschlag zur kantonalrechtlichen Enteignungsentschädigung; Eigentumsgarantie, Gleichbehandlungsgebot.
Die kantonalen Gerichte sind verpflichtet, auf Verlangen eines Rechtsuchenden das anzuwendende kantonale Recht vorfrageweise auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu prüfen (E. 2).
Art. 6 Abs. 2 der Walliser Kantonsverfassung vom 8. März 1907 räumt dem Enteigneten keine weiter gehende Entschädigungsgarantie ein als Art. 26 BV bzw. Art. 22ter aBV (E. 3).
Der bundesverfassungsmässige Grundsatz der vollen Entschädigung verwehrt es den Kantonen nicht, den Enteigneten im Rahmen von formellen kantonalrechtlichen Expropriationen mehr als den ganzen Schaden zu ersetzen (E. 4).
Die Bestimmung von Art. 15 des Walliser Gesetzes vom 1. Christmonat 1887 über den Unfreiwilligkeitszuschlag kann im Umfeld des heutigen eidgenössischen Rechts nicht mehr rechtsgleich gehandhabt werden (E. 5).
 


BGE 127 I 185 (186):

Sachverhalt
R. ist Eigentümer einer in der Gemeinde Staldenried liegenden, nicht überbauten Parzelle im Halte von 69 m2. Das an den Friedhof angrenzende Grundstück gehörte gemäss Zonenplan vom 28. Mai 1975 zur Wohnzone W 4. Durch den revidierten Zonenplan vom 24. Januar 1994 wurde es der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen zugewiesen.
Am 1. März 1998 genehmigte die Urversammlung Staldenried einen Projektkredit für die Erweiterung des Friedhofes. Da der hiefür benötigte Boden - die Parzelle R. sowie ein weiteres Grundstück - nicht freihändig erworben werden konnte, räumte der Staatsrat des Kantons Wallis der Gemeinde auf deren Gesuch das Enteignungsrecht ein. Im anschliessenden Enteignungsverfahren sprach die Schatzungskommission II dem Grundeigentümer eine Enteignungsentschädigung von Fr. 90.-/m2 plus gesetzlichen Zuschlag von 25% zu. Diesen Entscheid fochten sowohl R. als auch die Munizipalgemeinde Staldenried mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Kantonsgericht Wallis an. Während sich die Gemeinde gegen die Gewährung des gesetzlichen Zuschlags wandte, ersuchte R. um Erhöhung der zugesprochenen Entschädigung auf Fr. 150.-/m2 zuzüglich den gesetzlichen Zuschlag von 25% sowie von 5% Zins ab Inbesitznahme.
Mit Urteil vom 3. November 2000 wies die öffentlich-rechtliche Abteilung des Kantonsgerichtes Wallis einerseits die Verwaltungsgerichtsbeschwerde von R. ab; sie hiess andererseits die Beschwerde der Gemeinde Staldenried teilweise gut, soweit darauf eingetreten werden konnte. Das Gericht erhöhte die Entschädigung für die

BGE 127 I 185 (187):

Parzelle Nr. 1109 von Fr. 90.- auf Fr. 95.-/m2, lehnte aber gleichzeitig die Zusprechung des Zuschlages von 25% ab. Gegen diesen Entscheid des Kantonsgerichtes Wallis hat R. staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Der Beschwerdeführer beanstandet allein die Verweigerung des Unfreiwilligkeitszuschlages, die sowohl gegen die in der Walliser Kantonsverfassung verankerte Eigentumsgarantie als auch - zufolge der Nichtanwendung von Art. 15 des kantonalen Enteignungsgesetzes - gegen das Willkürverbot verstosse.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab
 
Auszug aus den Erwägungen:
aus folgenden Erwägungen:
 
Erwägung 2
    "In anderen Expropriationsfällen ist für bewohnte oder bewohnbare
Gebäude der Expropriierte zur Forderung des Drittels über der Schatzung
und für andere Liegenschaften des Viertels über derselben berechtigt."
Das Kantonsgericht hat diese Bestimmung über den sog. Unfreiwilligkeitszuschlag im angefochtenen Entscheid vorfrageweise für verfassungswidrig erklärt, da sie mit der bundesrechtlichen Eigentumsgarantie unvereinbar sei und heute auch nicht mehr im Einklang mit dem Gleichbehandlungsgebot angewendet werden könne. Nach Meinung des Beschwerdeführers läuft dagegen die Nichtanwendung von Art. 15 EntG/VS auf Willkür und eine Verletzung der in der Kantonsverfassung verankerten Eigentumsgarantie hinaus. Zudem verstosse es gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, einen im Gesetz festgelegten Anspruch auf dem Wege der Rechtsprechung ausser Kraft zu setzen.
Nach Lehre und Rechtsprechung sind die kantonalen Gerichte nicht nur berechtigt sondern verpflichtet, auf Verlangen eines Rechtsuchenden das anzuwendende kantonale Recht vorfrageweise auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu prüfen (BGE 117 Ia 262 E. 3a S. 265 f.; 112 Ia 311 E. 2c; 106 Ia 383 E. 3a; 104

BGE 127 I 185 (188):

Ia 82 E. 2a mit Hinweisen auf die Literatur; s.a. ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl. 2001, N. 2070 ff.; ANDREAS AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, N. 1858, 1866). Damit verbunden ist grundsätzlich auch die Pflicht, als verfassungswidrig erkanntes Recht im Einzelfall nicht anzuwenden. Der Beschwerdeführer beanstandet daher zu Unrecht, dass das Kantonsgericht die Vorschrift von Art. 15 EntG/VS akzessorisch auf seine Verfassungsmässigkeit überprüft hat. Eine andere Frage ist, ob es die Bestimmung zu Recht als verfassungswidrig bezeichnet hat. Diese Frage ist, da das Gericht die weitere Anwendbarkeit der Bestimmung generell verneint hat, gleich wie im abstrakten Normenkontrollverfahren frei zu prüfen (vgl. BGE 125 I 369 E. 2 S. 374).
 
Erwägung 3
Art. 6 Abs. 1 KV erklärt das Eigentum für unverletzlich. Nach Art. 6 Abs. 2 KV kann von diesem Grundsatz nur aus Rücksicht öffentlichen Nutzens "mittelst einer gerechten Entschädigung" und in den vom Gesetze vorgesehenen Formen abgewichen werden. Aufgrund des Wortlauts dieser Bestimmung lässt sich nicht sagen, dass dem Enteigneten mehr als eine "volle" Entschädigung zugesichert werde. Der Ausdruck "gerechte Entschädigung" entspricht dem im französischen Verfassungstext gewählten Begriff der "juste indemnité". Auch die französische Fassung von Art. 22ter aBV sieht aber eine "juste indemnité" vor, ohne dass damit etwas anderes als ein Anspruch auf (bloss) volle Entschädigung eingeräumt werden sollte. Die heutige Umschreibung der Entschädigungsgarantie in Art. 26 Abs. 2 BV ("pleine indemnité") ist erst bei der Verfassungsreform in Angleichung an den deutschen Text gewählt worden (vgl. Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 174). Der eidgenössische Verfassungs- und Gesetzgeber verwendet denn auch im Zusammenhang mit Entschädigungsfragen Synonyme gleichwertig (deutsch: volle oder angemessene Entschädigung, voller oder angemessener Ersatz / französisch: juste indemnité, indemnité pleine et entière ou équitable, réparer intégralement le dommage / italienisch: pieno indennizzo o risarcimento, piena, equa o adeguata indennità, risarcire integralmente il danno), so dass der Wortwahl im Einzelfall keine besondere Bedeutung

BGE 127 I 185 (189):

beigemessen werden kann (vgl. die Übersicht bei HEINZ HESS/HEINRICH WEIBEL, Das Bundesgesetz über die Enteignung, Bd. I, zu Art. 16 S. 213, Bd. II, N. 40 ff. zu Art. 22ter BV). Ähnliches gilt für die Formulierungen in den kantonalen Verfassungs- und Gesetzestexten. Obschon auch dort teils von "angemessener" oder "gerechter" Entschädigung gesprochen wird, gehen die herrschende Lehre und seit längerem auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass damit der Enteigner zur Leistung einer "vollen" Entschädigung verpflichtet werde (vgl. PETER SALADIN, Grundrechte im Wandel, 3. Aufl. 1982, S. 199 ff. mit Hinweisen auf BGE 34 I 519 E. 2 S. 527 f. und BGE 93 I 130 E. 3 S. 138 sowie auf die Literatur Fn. 265; s.a. PETER WIEDERKEHR, Die Expropriationsentschädigung, Diss. Zürich 1966, S. 19). Der Meinung des Beschwerdeführers, die Walliser Kantonsverfassung reiche in ihrer Schutzwirkung weiter als die bundesrechtliche Eigentumsgarantie, ist daher nicht zuzustimmen. Das Bundesgericht hat demnach - gleich wie zuvor das Kantonsgericht - allein zu untersuchen, ob Art. 15 EntG/VS vor den Bestimmungen der Bundesverfassung standzuhalten vermöge.
 
Erwägung 4
4.- Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid zunächst auf eine Erwägung des Bundesgerichtes hingewiesen, wonach ein Unfreiwilligkeitszuschlag, wie er im Walliser Enteignungsgesetz vorgesehen sei, mit dem verfassungsmässigen Prinzip der vollen Entschädigung unvereinbar sei. Tatsächlich hat das Bundesgericht im nicht veröffentlichten Entscheid vom 23. November 1999 i.S. Z. AG gegen Kanton Wallis nebenbei erwähnt, dass eine Unfreiwilligkeitsentschädigung, die der Enteignete zusätzlich zur Vergütung für den objektiven oder subjektiven Schaden beanspruchen könne, mit dem Grundsatz, dass der Enteignete weder Verlust erleiden noch Gewinn erzielen soll, im Widerspruch stehe (s.a. BGE 112 Ib 531 E. 4 S. 536). Ob das verfassungsmässige Prinzip der vollen Entschädigung einen Unfreiwilligkeitszuschlag generell ausschliesse, ist Hauptthema der vorliegenden Streitsache und daher erneut zu untersuchen. Dies führt vorweg zur Frage nach der Tragweite der vorerst als ungeschriebenes Grundrecht anerkannten und im Jahre 1969 in den Verfassungstext aufgenommenen bundesrechtlichen Eigentumsgarantie.
Nach Art. 22ter Abs. 2 aBV können der Bund und die Kantone im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Befugnisse auf dem Wege der Gesetzgebung im öffentlichen Interesse die Enteignung und Eigentumsbeschränkungen vorsehen. Weitere Voraussetzung ist nach Art. 22ter Abs. 3 aBV, dass bei Enteignung und

BGE 127 I 185 (190):

Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, volle Entschädigung geleistet wird. Dadurch wird der Enteigner verpflichtet, den enteignungsbedingten Schaden voll zu ersetzen und nicht weniger zu bezahlen. Fraglich ist dagegen, ob Art. 22ter Abs. 3 aBV Bund und Kantone auch dazu verhält, für Eingriffe in das Eigentum nicht mehr als die volle Entschädigung vorzusehen. Eine Auslegung in diesem Sinne würde berücksichtigen, dass das Enteignungsrecht dem Gemeinwesen gestatten soll, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben notwendigen Güter zu angemessenen Bedingungen zu erwerben (vgl. BGE 109 Ib 26 E. 3 S. 35, 114 E. 3; 111 Ib 97 E. 2c; WERNER DUBACH, Die Berücksichtigung der besseren Verwendungsmöglichkeit und der werkbedingten Vor- und Nachteile bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung, in: ZBl 79/1978 S. 1). Die Frage der Entschädigung für raumplanerische Eingriffe hatte denn auch bei der verfassungsmässigen Neuordnung des Bodenrechts durch Art. 22ter und Art. 22quater aBV besonderes Gewicht. Gewisse Passagen in der bundesrätlichen Botschaft sprechen dafür, dass mit dem neuen Art. 22ter Abs. 3 BV eine allgemeine, für die formelle und die materielle Enteignung geltende einheitliche Entschädigungspraxis vorgeschrieben werden sollte. So wird unter anderem bemerkt, dass die volle Entschädigung nur zur Schadloshaltung und nicht zur Gewinnerzielung führen dürfe. Über die Zulässigkeit kantonalrechtlicher Zuschläge über eine volle Vergütung hinaus sagt die Botschaft allerdings nichts (vgl. Botschaft des Bundesrates über die Ergänzung der Bundesverfassung durch die Artikel 22ter und 22quater vom 15. August 1967, BBl 1967 II 133 ff., 146).
Ausschlaggebend ist indessen, ob und inwieweit der Bund von der (Grundsatz-)Gesetzgebungskompetenz, die ihm mit der Änderung des Bodenrechts eingeräumt wurde, Gebrauch gemacht hat. Soweit er seine Rechtssetzungsbefugnis nicht ausgeübt hat, bleiben die Kantone nicht nur zum Erlass von die Eigentumsgarantie konkretisierenden Vorschriften zuständig, sondern sind nach Art. 3 und 42 f. BV auch frei, den Enteigneten Entschädigungsansprüche zuzugestehen, welche über die Garantie von Art. 22ter Abs. 3 aBV hinausgehen (vgl. GEORG MÜLLER, Kommentar zur Bundesverfassung, N. 25 f. zu Art. 22ter; PETER SALADIN, Kommentar zur Bundesverfassung, N. 163, 214 ff. zu Art. 3 aBV; HÄFELIN/HALLER, a.a.O. N. 1092 ff.; die gleiche Freiheit besteht, wenn davon ausgegangen wird, Bund und Kantonen stünden auf dem Gebiet der Enteignung parallele Kompetenzen zu, s. RICCARDO JAGMETTI, Kommentar zur

BGE 127 I 185 (191):

Bundesverfassung, N. 51 zu Art. 23 aBV). Nun ist der Grundsatz der vollen Entschädigung in Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) für alle auf diesem Gesetz beruhenden Eigentumsbeschränkungen, die enteignungsähnlich wirken, nochmals festgeschrieben worden. Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat der Gesetzgeber damit für raumplanungsbedingte materielle Enteignungen einen direkten bundesrechtlichen Entschädigungsanspruch geschaffen, der die Kantone hinsichtlich der Entschädigungsbemessung bindet. Die Kantone dürfen daher dem von einer materiellen Enteignung Betroffenen nicht mehr und nicht weniger zusprechen, als ihm nach den in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vergütet werden darf (s. etwa BGE 107 Ib 19 E. 2; 109 Ib 114 E. 3; 114 Ib 108, 174, 286 E. 5 S. 293 f., je mit Hinweisen).
Was die formelle bundesrechtliche Enteignung anbelangt, hatte der Bundesgesetzgeber angesichts der Regelung von Art. 16 ff. des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1930 über die Enteignung (EntG; SR 711) keinen Anlass, auf die Vorschrift von Art. 22ter Abs. 3 aBV hin tätig zu werden. Für die Bemessung der Entschädigung in kantonalrechtlichen formellen Enteignungsverfahren sind im Bundesrecht keine Grundsatzbestimmungen aufgestellt worden, und zwar auch nicht für jene Verfahren, die der Erfüllung bundesrechtlicher Aufgaben dienen und in denen sich die Frage nach Zulässigkeit und Umfang der Enteignung nach eidgenössischem Recht bestimmt (vgl. BGE 116 Ib 169 E. 2a; 104 Ib 200 E. 1). Der Bundesgesetzgeber stellt es jedoch in diesen Fällen den Kantonen frei, die Enteignung statt nach kantonalem nach eidgenössischem Recht vorzunehmen (vgl. dazu unten E. 5c).
Somit ergibt sich, dass Art. 22ter Abs. 3 aBV bzw. Art. 26 Abs. 2 BV und die eidgenössische Gesetzgebung den Kantonen untersagen, in Fällen materieller Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG Vergütungen vorzusehen, die über die volle Schadloshaltung hinausgehen. Das Gleiche gilt für formelle Enteignungsverfahren nach eidgenössischem Recht, welche die Kantone aufgrund bundesrechtlicher Vorschriften oder des ihnen eingeräumten Wahlrechts anstelle kantonaler Verfahren durchführen. Dagegen verwehrt die bundesrechtliche Eigentumsgarantie den Kantonen nicht, den Enteigneten im Zusammenhang mit formellen kantonalrechtlichen Expropriationen mehr als den ganzen Schaden zu ersetzen und damit Vergütungen auszurichten, die den Rahmen des Anspruchs auf volle

BGE 127 I 185 (192):

Entschädigung sprengen. Soweit sich aus dem obiter dictum im oben zitierten Entscheid vom 23. November 1999 etwas anderes ergibt, kann daran nicht festgehalten werden. Die Bestimmung des Walliser Enteignungsgesetzes über den Unfreiwilligkeitszuschlag erweist sich insofern nicht als verfassungswidrig.
 
Erwägung 5
Das Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 BV, Art. 4 aBV) und das eng mit diesem verbundene Willkürverbot (Art. 9 BV) gelten auch gegenüber den gesetzgeberischen Erlassen. Ein Erlass verstösst gegen das Willkürverbot, wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt oder sinn- und zwecklos ist; er verletzt das Gebot der Rechtsgleichheit, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen. Die Rechtsgleichheit ist insbesondere verletzt, wenn Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich oder Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird (BGE 110 Ia 7 E. 2b S. 13 f. mit Hinweisen; 125 I 1 E. 2b/aa S. 4; 125 V 221 E. 3b S. 224; 124 I 297 E. 3b). Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung oder für unterlassene Unterscheidungen vernünftige Gründe in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich sind, kann zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen und Zeitverhältnissen sowie je nach dem im fraglichen Zeitpunkt gegebenen rechtlichen Umfeld.
Im Lichte dieser Grundsätze erscheint die hier umstrittene Bestimmung des Walliser Expropriationsgesetzes tatsächlich nicht mehr haltbar.
a) Unfreiwilligkeitszuschläge, wie sie Art. 15 EntG/VS gewährt, sahen einige der im 19. Jahrhundert erlassenen kantonalen Enteignungsgesetze vor (vgl. etwa § 17 des Aargauer Expropriationsgesetzes vom 22. Mai 1867, § 7 des Glarner Gesetzes betreffend die Abtretung von Wasser für öffentliche Brunnen vom 8. Mai 1881, § 5 des Schwyzer Expropriationsgesetzes für die Erstellung von grösseren Wasserwerkanlagen vom 12. März 1908, § 13 des Zürcher Gesetzes betreffend die Abtretung von Privatrechten vom 30. November 1879). Diese Zuschläge gleichen nicht wirtschaftliche Einbussen aus, sondern bilden den Gegenwert für die affektiven Bindungen des Eigentümers an sein Hab und Gut. Mit ihnen soll die

BGE 127 I 185 (193):

vom Enteigneten durch den zwangsweisen Entzug seines Eigentums erlittene seelische Unbill abgegolten werden. Der Unfreiwilligkeitszuschlag verfolgt somit einen ähnlichen Zweck wie die haftpflichtrechtliche Genugtuung (vgl. PETER WIEDERKEHR, a.a.O., S. 118 ff.; HESS/WEIBEL, a.a.O., Bd. I, N. 198 zu Art. 19; s.a. WALTHER BURCKHARDT, Die Entschädigungspflicht nach schweizerischem Expropriationsrecht, in: ZSR 32/1913 S. 153). Er lässt sich demnach nur dann und nur insoweit rechtfertigen, als die Enteignung überhaupt zu seelischer Unbill führen kann und der Enteignete tatsächlich in seinen persönlichen Verhältnissen schwer getroffen wird. Das zitierte, heute noch geltende zürcherische Abtretungsgesetz vom 30. November 1879 sieht dementsprechend in § 13 Abs. 1 vor, dass für die Unfreiwilligkeit ein Zuschlag von höchstens 20% des Verkehrswertes gemacht werden "kann". Ein solcher Zuschlag wird nur selten gewährt (vgl. die Entscheide des Zürcher Verwaltungsgerichtes vom 7. November 1972, in: ZBl 74/1973 S. 335, und vom 22. Oktober 1986, in: RB 1986 Nr. 118 mit Hinweisen). Demgegenüber ist Art. 15 des Walliser Enteignungsgesetzes nicht als Kann-Vorschrift, sondern so formuliert, dass jeder Enteignete zum Bezug des Unfreiwilligkeitszuschlags als berechtigt erscheint. Dieser steht demnach auch Enteigneten zu, die - als juristische Personen - seelische Unbill gar nicht erleiden können oder die aus anderen Gründen in ihren persönlichen Verhältnissen nicht beeinträchtigt sind. Für einen Unfreiwilligkeitszuschlag im umschriebenen Sinne besteht jedoch in solchen Fällen kein ernsthafter sachlicher Grund. Bei der Festlegung des Anwendungsbereichs der Norm sind offensichtlich Unterscheidungen unterlassen worden, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen.
Die Tatsache allein, dass der Unfreiwilligkeitszuschlag gemäss dem Wortlaut von Art. 15 EntG/VS auch von Enteigneten beansprucht werden kann, denen durch die Enteignung kein immaterieller Nachteil erwächst, würde indes noch nicht rechtfertigen, der Vorschrift die Anwendung generell zu versagen. Der - zu grosse - Kreis der Anspruchsberechtigten könnte im Rahmen einer verfassungsmässigen Interpretation der Norm verkleinert werden. Dabei müsste allerdings gewährleistet sein, dass alle gemäss Normzweck Berechtigten gleich behandelt werden könnten. Dieser Anforderung kann jedoch heute nicht mehr entsprochen werden.
b) Wie bereits dargelegt (E. 4), bestimmt sich der Entschädigungsanspruch für materielle Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG allein nach Bundesrecht, das Unfreiwilligkeitszuschläge

BGE 127 I 185 (194):

ausschliesst. Folgt mithin die kantonalrechtliche Enteignung einer Planungsmassnahme, die sich - wie die Zuweisung von Boden zur Zone für öffentliche Bauten und Anlagen - ihrerseits schon enteignend ausgewirkt hat, ist auch dem in seinen persönlichen Verhältnissen verletzten Enteigneten für den der materiellen Enteignung entsprechenden Teil der Entschädigung der Zuschlag zu verweigern. Sind dagegen keine planerische Massnahmen zur Sicherung des für öffentliche Zwecke benötigten Bodens getroffen worden und wird daher nur formell enteignet, besteht Anspruch auf vollen Zuschlag. Wäre somit im vorliegenden Fall für die Friedhofserweiterung mehr oder anderer Boden enteignet worden, als zuvor zur Zone für öffentliche Bauten geschlagen worden ist, hätte den nur formell Enteigneten aufgrund von Art. 15 EntG/VS für das gleiche Werk eine höhere Entschädigung zuerkannt werden müssen als sie dem Beschwerdeführer zugestanden werden kann. Ein solches Ergebnis lässt sich aber vor dem Gleichbehandlungsgebot nicht halten.
c) Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die heutige Bundesgesetzgebung auch in anderer Hinsicht zu einer ungleichmässigen Ausrichtung von Unfreiwilligkeitszuschlägen führen kann. Verschiedene eidgenössische Spezialgesetze ermächtigen die Kantone, für die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben anstelle des kantonalen Enteignungsrechts das Bundesgesetz über die Enteignung anwendbar zu erklären (vgl. den die Hauptstrassen betreffenden Art. 16 des Bundesgesetzes über die Verwendung der zweckgebundenen Mineralölsteuer vom 22. März 1985 [SR 725.116.2], Art. 17 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1991 über den Wasserbau [SR 721.100], Art. 58 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz [SR 814.01], Art. 68 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 24. Januar 1991 über den Schutz der Gewässer [SR 814.20], Art. 48 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über den Wald [SR 921.0]). Mit der Anwendbarkeit des eidgenössischen Rechts fällt aber die Möglichkeit von Unfreiwilligkeitszuschlägen dahin. Zwar hat der Kanton Wallis soweit ersichtlich von diesem Wahlrecht noch nicht Gebrauch gemacht. Es kann jedoch nicht mehr gesagt werden, das kantonale Recht vermöge zu gewährleisten, dass alle Enteigneten des Kantons Wallis, die durch eine Expropriation in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt werden, einen Unfreiwilligkeitszuschlag erhalten (vgl. PETER WIEDERKEHR, a.a.O., S. 120).
d) Zusammenfassend ist festzustellen, dass einerseits Art. 15k EntG den Unfreiwilligkeitszuschlag auch jenen zuerkennt, die

BGE 127 I 185 (195):

keine seelische Unbill erleiden, und dass andererseits das geltende eidgenössische Recht nicht mehr gestattet, den Unfreiwilligkeitszuschlag all denen zukommen zu lassen, die durch die zwangsweise Abtretung ihres Grundeigentums besonders beeinträchtigt werden. Das Kantonsgericht hat somit zu Recht erklärt, diese Bestimmung lasse sich nicht mehr rechtsgleich anwenden.