BGE 121 I 87 - VPM
 
12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 18. Januar 1995
i.S. Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis
(VPM) und Mitbeteiligte gegen Erziehungsdirektion und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 84 ff. OG; Art. 13 EMRK; Zulässigkeit der staatsrechtlichen Beschwerde gegen Aufsichtsentscheide.
Entscheide, mit welchen auf eine Aufsichtsbeschwerde nicht eingetreten, diese abgewiesen oder ihr keine Folge gegeben wird, sind nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar (E. 1a; Bestätigung der Rechtsprechung).
Soweit auf kantonaler Ebene die Möglichkeit besteht, sich gegen Grundrechtsverletzungen durch Realakte auf andere Weise als allein mittels Aufsichtsbeschwerde zur Wehr zu setzen, erfordert die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes gemäss Art. 13 EMRK nicht, die staatsrechtliche Beschwerde auch gegen abschlägige Aufsichtsentscheide zuzulassen (E. 1b).
 


BGE 121 I 87 (88):

Sachverhalt
A.
Im November 1992 erschien im Werd Verlag in Zürich das Buch "Das Paradies kann warten". Das von mehreren Autoren verfasste Werk ist als Informationsschrift über Gruppierungen mit totalitärer Tendenz gedacht. Es enthält kritische Beiträge über neun solche Gemeinschaften, eingeschobene sog. Gespräche zur Vertiefung und zahlreiche praktische Hinweise. Unter anderem finden sich im Buch kritische Darstellungen des Opus Dei, der Evangelikalen und des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM).
Die Schrift entstand im Auftrag und mit Unterstützung der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich. Sie wurde vom Pestalozzianum Zürich herausgegeben. Anlass für die Erstellung des Buchs war ein Postulat, mit dem der Zürcher Kantonsrat am 1. Oktober 1990 den Regierungsrat aufforderte, Massnahmen zu ergreifen, welche die Aufklärung von Schule und Elternhaus über die Gefahren von Jugendreligionen ermöglichten.
Die Publikation des Werks "Das Paradies kann warten" löste ein grosses Echo aus. In kurzer Zeit waren zwei Auflagen ausverkauft. Inzwischen ist eine dritte, überarbeitete Auflage erschienen. Die Erziehungsdirektion stellte das Werk im November 1992 allen Schulhäusern und Schulbehörden des Kantons zu. Bei den dargestellten Gruppierungen stiess die Schrift meist auf Ablehnung.
Im Dezember 1992 und Januar 1993 erhoben unter anderem der VPM, der Förderverein zur Unterstützung des VPM "Für Familie und Gesellschaft", der Schweizerische Bund aktiver Protestanten, A. und acht Mitunterzeichner beim Regierungsrat des Kantons Zürich wegen der Publikation des Buchs "Das Paradies kann warten" Aufsichtsbeschwerden gegen die Erziehungsdirektion. Sie verlangten vor allem die Einstellung des weiteren Vertriebs des Werks,

BGE 121 I 87 (89):

die Entfernung der Schrift aus den Schulbibliotheken, ferner die Berichtigung des Kapitels über die evangelischen Freikirchen und die Veröffentlichung derselben mit einer Entschuldigung.
Der Regierungsrat entschied am 25. August 1993, den Aufsichtsbeschwerden keine Folge zu geben. Wie schon bei der Beantwortung der parlamentarischen Vorstösse vertrat er die Auffassung, die Publikation des umstrittenen Buchs verletze weder die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Kultusfreiheit oder die Vereinsfreiheit noch die Verpflichtung des Staates zur religiösen Neutralität. Die Orientierung insbesondere junger Leute über Gefahren, die von Gruppierungen mit totalitärer Tendenz ausgingen, falle in die Verantwortung des Staates und störe den Religions- und Schulfrieden im Kanton Zürich nicht. Er räumte allerdings ein, dass das Kapitel über die Evangelikalen in den ersten zwei Auflagen nicht voll befriedigt habe und deshalb für die dritte Auflage neu und differenzierter geschrieben worden sei. Bei der Darstellung des VPM seien in der dritten Auflage die zwei Ausdrücke gestrichen worden, die der Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich in seiner Verfügung vom 22. Dezember 1992 beanstandet habe. Die Grundaussagen der beiden Kapitel könnten aber nach wie vor Gültigkeit beanspruchen.
Die genannten Aufsichtsbeschwerdeführer haben gegen den Entscheid des Regierungsrats vom 25. August 1992 eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Nach ihrer Auffassung verstösst der angefochtene Entscheid, vor allem aber die Publikation des Buchs gegen Art. 4, 31, 49 und 55 BV sowie gegen die ungeschriebenen Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit sowie gegen Art. 13 EMRK.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1


BGE 121 I 87 (90):

a) Nach der ständigen Rechtsprechung kann der Entscheid einer Behörde, auf eine Aufsichtsbeschwerde nicht einzutreten, sie abzuweisen oder ihr keine Folge zu geben, nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (BGE 116 Ia 8 E. 1a S. 10; 109 Ia 251 E. 3 S. 252; 106 Ia 310 E. 6 S. 321). Dem Aufsichtsmassnahmen ablehnenden Beschluss fehlt der Verfügungscharakter, da er keinen Akt darstellt, der ein Verhältnis zwischen der Verwaltung und einem Bürger verbindlich regelt (BGE 102 Ib 81 E. 3 S. 85). Zugleich geht dem Aufsichtsbeschwerdeführer das nach Art. 88 OG vorausgesetzte rechtlich geschützte Interesse ab, da die Einreichung einer Aufsichtsbeschwerde keinen Anspruch auf materielle Prüfung und Erledigung vermittelt (BGE 109 Ia 251 E. 3 S. 252).
Der VPM, A. und die acht Mitunterzeichner haben im Januar 1993 beim Regierungsrat des Kantons Zürich ausdrücklich eine Aufsichtsbeschwerde erhoben. Der Förderverein zur Unterstützung des VPM "Für Familie und Gesellschaft" und der Schweizerische Bund aktiver Protestanten wandten sich je in einem Schreiben an den Regierungsrat, in dem sie gegen die Veröffentlichung des Buchs "Das Paradies kann warten" protestierten und Massnahmen zur Verhinderung weiterer Diffamierungen verlangten. Der Regierungsrat behandelte unbestrittenermassen alle diese Eingaben als Aufsichtsbeschwerden. Der Umstand, dass die Erwägungen und das Dispositiv seines Entscheids wie bei Rechtsmitteln abgefasst sind, ändert an diesem Befund nichts.
Der Beschluss des Regierungsrats vom 25. August 1993 qualifiziert sich somit als abschlägiger Aufsichtsentscheid, der nach der angeführten Rechtsprechung grundsätzlich nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar ist.
Nach Art. 13 EMRK hat derjenige, der sich in den durch die Konvention garantierten Rechten und Freiheiten für beeinträchtigt hält, Anspruch darauf, bei einer nationalen Instanz eine wirksame Beschwerde einlegen zu können. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass ein Rechtsmittel an ein Gericht zur Verfügung stehen muss. Eine Beschwerdemöglichkeit an eine hinreichend unabhängige Verwaltungsbehörde kann genügen. Hingegen ist erforderlich, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf Prüfung seiner Vorbringen hat und dass die Beschwerdebehörde den angefochtenen Akt gegebenenfalls aufheben

BGE 121 I 87 (91):

kann. Ausserdem müssen die rechtsstaatlich notwendigen minimalen Verfahrensrechte gewährleistet sein, namentlich der Anspruch auf rechtliches Gehör und auf Begründung des Entscheids (BGE 118 Ib 277 E. 5b S. 283; 111 Ib 68 E. 4 S. 72 f.; vgl. auch MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Zürich 1993, N. 25). Die Aufsichtsbeschwerde erfüllt diese Anforderungen nicht und kann daher nicht als wirksame Beschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK betrachtet werden.
Soweit Grundrechtsverletzungen ihre Ursache nicht in förmlichen, sondern in bloss tatsächlichen Staatsakten, sog. Realakten, haben, ist der einzuschlagende Rechtsweg nicht immer offenkundig, da die Rechtsmittel regelmässig eine Verfügung oder allenfalls einen Erlass als Anfechtungsobjekt voraussetzen. Die Beschwerdeführer behaupten, sie hätten sich gegen die Realakte der Erziehungsdirektion im Zusammenhang mit der Herausgabe des Buchs "Das Paradies kann warten" nur mit der Aufsichtsbeschwerde an den Regierungsrat zur Wehr setzen können, womit Art. 13 EMRK nicht Genüge geleistet worden sei. Um dieser Norm zu entsprechen, sei es daher erforderlich, die staatsrechtliche Beschwerde gegen den angefochtenen kantonalen Aufsichtsentscheid zuzulassen.
Ob abweisende Aufsichtsentscheide oder allenfalls auch Realakte selber mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar sind, wenn sonst der nach Art. 13 EMRK gebotene Rechtsschutz nicht sichergestellt wäre (vgl. dazu WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. 1994, S. 115 ff.), kann offenbleiben. Auch ohne eine solche Erweiterung des Anfechtungsobjekts verfügten die Beschwerdeführer über ausreichende Instrumente des Rechtsschutzes, um sich wirksam gegen die staatlichen Realakte im Zusammenhang mit der Herausgabe des Buchs "Das Paradies kann warten" zur Wehr zu setzen.
Zwar mag es fraglich erscheinen, ob die Beschwerdeführer die von ihnen beanstandeten Realakte direkt mit Rekurs gemäss § 19 ff. des Gesetzes über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen vom 24. Mai 1959 (VRG) hätten anfechten können (vgl. ALFRED KÖLZ, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 1978, § 19, N. 11 ff.). Es bestand jedoch auch die Möglichkeit, eine Feststellungsverfügung über die Grundrechtskonformität der umstrittenen Realakte zu verlangen. Im Kanton Zürich anerkennt die Rechtsprechung - in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Bund (vgl. Art. 25 VwVG; SR 172.021) - einen Anspruch auf Erlass einer Feststellungsverfügung, wenn der Ansprecher ein schutzwürdiges

BGE 121 I 87 (92):

Interesse nachweist (Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts vom 21. Dezember 1972 in ZBl 74/1973 209 f.; vgl. ausserdem KÖLZ, a.a.O., § 19, N. 38). Schliesslich war ebenfalls an die Einleitung einer Zivilklage gegen Herausgeber und Autoren des Buchs wegen Verletzung der Persönlichkeit gemäss Art. 28 ZGB zu denken, eine Möglichkeit, von der nach den vorhandenen Akten zumindest der beschwerdeführende VPM auch Gebrauch gemacht hat.
Ob und in welchem Umfang die Beschwerdeführer mit den genannten Instrumenten Grundrechtsverletzungen im Sinne von Art. 13 EMRK tatsächlich hätten geltend machen können, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Jedenfalls war ihnen die Benützung dieser Abwehrmöglichkeiten zuzumuten. Allfällige Nichteintretensentscheide hätten sie auf dem Rechtsmittelweg weiterziehen können. Letztinstanzliche kantonale Entscheide wären - im Gegensatz zu blossen negativen Aufsichtsentscheiden - gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar gewesen, soweit nicht andere Bundesrechtsmittel zur Verfügung gestanden hätten.
Gegen die von den Beschwerdeführern beanstandeten Realakte waren demnach ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten im Sinne von Art. 13 EMRK gegeben, so dass kein Anlass besteht, die staatsrechtliche Beschwerde gegen den angefochtenen abschlägigen Aufsichtsentscheid zuzulassen.