BGE 76 I 177 - Rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren
 
29. Urteil
vom 4. Oktober 1950 i.S. R. gegen Regierungsrat des Kantons Schaffhausen.
 


BGE 76 I 177 (177):

Regeste:
Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren. Art. 4 BV.
Ein Beamter darf, solange seine Verfehlungen nicht durch rechtskräftiges Strafurteil festgestellt sind, nicht disziplinarisch entlassen werden, ohne dass er von der Disziplinarbehörde zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen angehört worden ist.
 
Sachverhalt:
 
A.
Der Beschwerdeführer Dr. iur. R. ist im Jahre 1942 vom Regierungsrat des Kantons Schaffhausen zum Adjunkten des kantonalen Polizeisekretärs gewählt worden. Ende Februar 1950 wurde gegen ihn eine Strafuntersuchung wegen Begünstigung (Art. 305 StGB) eingeleitet, und er wurde vorübergehend verhaftet, worauf der Regierungsrat am 1. März 1950 beschloss, ihn bis auf weiteres in seinem Amte einzustellen. Nach weiteren Erhebungen über seine Amtsführung und seinen Leumund fasste sodann der Regierungsrat am 19. Juni 1950 gestützt auf Art. 12

BGE 76 I 177 (178):

Abs. 2 des schaffh. Besoldungsgesetzes vom 1. Juli 1919 / 24. Mai 1943 den Beschluss:
    "Dr. R wird wegen schwerer Pflichtverletzung und Nachlässigkeit und wegen seines sonstigen mit der Ausübung des öffentlichen Dienstes unvereinbaren Verhaltens sofort und ohne Entschädigung aus dem Staatsdienst entlassen."
Die Begründung dieses Entscheides lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Dr. R. habe in zwei Fällen sein Amt missbraucht, indem er im Jahre 1947 für einen Rudolf Tamagni gegen eine Bussenverfügung der Polizeidirektion Einsprache und 1949 für den der Fälschung beschuldigten Everando Airoldi gegen die Sistierungsverfügung der Staatsanwaltschaft Widerspruch erhoben habe. Sodann habe die Durchsicht seiner Aktenschränke ergeben, dass eine grössere Anzahl Akten aus den Jahren 1944 bis 1950 unerledigt liegen geblieben sei, sodass in einigen Fällen die strafbaren Handlungen, die sie betrafen, inzwischen verjährt seien. Dabei sei Dr. R. schon von Regierungsrat Scherrer deswegen gemahnt worden. Aus dem Bericht des Polizeisekretärs über die Aktenprüfung gehe hervor, dass sich Dr. R. im Laufe der letzten 6 Jahre nicht nur grosse Nachlässigkeiten, sondern auch schwerste Amtspflichtverletzungen habe zu Schulden kommen lassen. Er habe durch sein Verhalten das in ihn gesetzte Vertrauen seiner vorgesetzten Behörde seit Jahren aufs Schändlichste missbraucht. Aus einem Bericht des Verhöramtes über verschiedene Angelegenheiten (die näher bezeichnet sind) sei zu schliessen, dass Dr. R. auch in anderer Hinsicht sein Amt unkorrekt geführt habe. Ferner habe sich ergeben, dass er von 1941 bis 1947 fünfmal wegen Ruhestörung und Übertretung des Wirtschaftsgesetzes habe verzeigt werden müssen.
 
B.
Mit rechtzeitig erhobener staatsrechtlicher Beschwerde stellt Dr. R. den Antrag, den Beschluss des Regierungsrates des Kantons Schaffhausen vom 19. Juni 1950 wegen Verletzung von Art. 4 BV und 32 KV aufzuheben. Zur Begründung wird geltend gemacht:


BGE 76 I 177 (179):

a) Dem Beschwerdeführer sei das rechtliche Gehör verweigert worden, denn er sei zu den ihm im angefochtenen Entscheid zur Last gelegten schweren Pflichtverletzungen vom Regierungsrat als Disziplinarbehörde nie einvernommen oder auch nur angehört worden. Ebensowenig habe er Einsicht in die Strafakten erhalten, auf die sich der angefochtene Entscheid stütze. Er bestreite die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen und sei bereit, in einem geordneten Disziplinarverfahren ihre Unrichtigkeit zu beweisen. Anerkannt werde lediglich, dass er für Airoldi und Tamagni Rechtsschriften verfasst habe, doch hierin liege keine Pflichtverletzung, welche die disziplinarische Entlassung rechtfertigen könnte.
b) Der angefochtene Entscheid verstosse auch gegen Art. 32 KV [...]
 
C.
Der Regierungsrat des Kantons Schaffhausen beantragt die Abweisung der Beschwerde. Zur Begründung macht er nähere Angaben über die im angefochtenen Entscheid erwähnten Entlassungsgründe und führt weiter aus: In dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren sei Dr. R. zu den verschiedenen gegen ihn erhobenen schwerwiegenden Anschuldigungen einvernommen worden. Ein Vergleich der Protokolle über seine Einvernahme mit den Aussagen der X. und des Y. zeigten, dass er seine Verfehlungen durch Bestreitungen und Lügereien aus der Welt zu schaffen suche. Eine weitere Einvernahme von Dr. R. zu allen ihm zur Last gelegten Vergehen hätte daher gar keinen Sinn gehabt, zumal er sich gegenüber dem Polizeidirektor äusserst renitent benommen habe und die zugegebenen und bewiesenen Amtspflichtverletzungen die Entlassung aus dem Staatsdienst unumgänglich erforderten.
 
Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 2
2. Art. 12 Abs. 3 des Besoldungsgesetzes sieht vor,

BGE 76 I 177 (180):

dass das Verfahren (in Beamtendisziplinarsachen) durch eine vom Regierungsrat auf Vorschlag des Obergerichtes zu erlassende Verordnung geregelt wird. Da diese Verordnung noch nicht erlassen worden ist, eine Verletzung kantonalen Rechts also nicht in Frage kommt, kann es sich nur fragen, ob das bei der disziplinarischen Entlassung des Beschwerdeführers eingeschlagene Verfahren mit den unmittelbar aus Art. 4 BV abzuleitenden Grundsätzen vereinbar ist.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör folgt aus dieser Verfassungsbestimmung für das Verfahren vor Verwaltungsbehörden nicht allgemein und im gleichen Umfange wie für den Zivil- und Strafprozess. Er besteht aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts u.a. jedenfalls dann, wenn das Verfahren die Ausfällung einer Strafe oder sonst einen besonders schweren Eingriff in die höchstpersönliche Rechtssphäre zum Gegenstand hat (BGE 74 I 247/48 und dort angeführte frühere Urteile). Da die disziplinarische Beamtenentlassung nach ihren Wirkungen und wegen ihres Strafcharakters einen solchen Eingriff darstellt, rechtfertigt es sich, dass dem von ihr Betroffenen das rechtliche Gehör grundsätzlich im gleichen Umfange gewährt wird wie dem Beschuldigten im Strafprozess. Dieser hat nach der Praxis vor allem Anspruch darauf, zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen angehört zu werden und sich verteidigen zu können, bevor eine endgültige, durch kein ordentliches Rechtsmittel weiterziehbare Verfügung erlassen wird (BGE 46 I 327). Für die disziplinarische Beamtenentlassung folgt daraus, dass dem Beamten vorerst zu eröffnen ist, dass und aus welchen Gründen seine Entlassung in Aussicht genommen ist, und dass ihm dann Gelegenheit zu geben ist, sich zu verteidigen (wie Art. 32 Abs. 2 des eidg. Beamtengesetzes für alle Disziplinarstrafen vorschreibt). Eine Ausnahme erscheint nur bei Vorliegen besonderer Verhältnisse als zulässig, so etwa wenn der Beamte seine Verfehlungen bereits vor Einleitung des Disziplinarverfahrens anerkannt hat oder

BGE 76 I 177 (181):

wenn sie durch rechtskräftiges Strafurteil festgestellt worden sind (vgl. nicht veröffentlichte Urteile vom 25. Mai 1928 i.S. Weber S. 7/8 und vom 12. Oktober 1949 i.S. Marcionni S. 5).
 
Erwägung 3
Die in den Polizeirapporten betreffend Ruhestörung usw. enthaltenen Feststellungen, die eine für einen Polizeibeamten bedenkliche Gesinnung erkennen lassen, scheint der Beschwerdeführer zwar nie bestritten zu haben, sodass er hierüber nicht unbedingt hätte einvernommen werden müssen; doch handelt es sich dabei um Vorkommnisse, die alle weiter als drei Jahre zurückliegen und die daher nicht mehr als Entlassungsgrund herangezogen, sondern lediglich bei der Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden dürfen (vgl. BGE 75 II 332). Zum Teil sehr schwerer Natur sind die Amtspflichtverletzungen und Verfehlungen, die bei den Strafuntersuchungen gegen Y. und gegen Z. an den Tag kamen (Anstiftung zur Abtreibung, Nichtanzeige eines dem Beschwerdeführer gemeldeten Diebstahls, Missbrauch der Amtsgewalt gegenüber Frauenspersonen, Begünstigung der Z. usw.). Der Beschwerdeführer ist zu diesen Anschuldigungen vom Verhörrichter einvernommen worden, doch hat er sie bestritten, weshalb sie, solange ihre Richtigkeit nicht durch Strafurteil festgestellt ist, von der Disziplinarbehörde nicht als erwiesen betrachtet werden dürfen, ohne dass der Beschwerde

BGE 76 I 177 (182):

führer sich vor ihr verteidigen kann. Gelegenheit zur Rechtfertigung hätte ihm sodann auch geboten werden sollen gegenüber dem Vorwurf, er habe zahlreiche, ihm zur Behandlung übertragene Übertretungsfälle zum Teil bis zum Eintritt der Verjährung unerledigt liegen gelassen, und zwar meistens aus Nachlässigkeit, in einem Falle aber, wie es scheint, in der Absicht, den ihm nahe stehenden Beschuldigten straflos ausgehen zu lassen. Zu Unrecht nicht angehört worden ist er schliesslich auch zu der ihm zum Vorwurf gemachten Abfassung von Rechtsschriften für Beschuldigte, die von ihm zugegeben wird, aber jedenfalls im einen Fall nicht so leicht zu nehmen ist, wie der Beschwerdeführer glaubt, da es eine grobe Ungehörigkeit ist, wenn der gleiche Beamte, der seinem Vorgesetzten die Ausfällung einer Busse beantragt, hinterher für den Gebüssten ein Rechtsmittel ergreift.
Der Einwand des Regierungsrates, die Anhörung des Beschwerdeführers hätte angesichts seines renitenten Verhaltens und seiner Lügereien keinen Sinn gehabt, ist unbehelflich. Dass der Beschwerdeführer sich ungebührlich benommen hätte, wenn ihm Gelegenheit geboten worden wäre, sich im Hinblick auf die in Aussicht genommene disziplinarische Entlassung zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu verantworten, kann nicht ohne weiteres angenommen werden und vermag jedenfalls die Nichtanhörung nicht zu rechtfertigen. Auch ist es keineswegs ausgeschlossen, dass seine Auskünfte seine Verfehlungen in einzelnen Punkten in einem andern Lichte erscheinen lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist zudem formeller Natur, d.h. es hat dessen Verletzung die Aufhebung des angefochtenen Entscheides auch dann zur Folge, wenn der Beschwerdeführer ein materielles Interesse hieran nicht nachzuweisen vermag, weshalb nichts darauf ankommt, ob irgendwelche Aussicht besteht, dass der Regierungsrat, nachdem er den Beschwerdeführer angehört und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben hat, zu einer Änderung seines Entscheides gelangt

BGE 76 I 177 (183):

(BGE 64 I 148/49 und dort angeführte frühere Urteile, 75 I 227).
 
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Schaffhausen vom 19. Juni 1950 aufgehoben.