BGE 57 I 337 - Armenrecht Aargau
 
53. Urteil
vom 25. September 1931 i.S. Höcker gegen Obergericht Aargau.
 


BGE 57 I 337 (337):

Regeste:
Verfassungswidrigkeit, wegen Verstosses gegen Art. 4 BV, der Bestimmung einer kantonalen ZPO, wonach auch bei Erteilung des Armenrechts für die Prozessführung die betr. Partei für die Kosten des Beweisverfahrens ohne Rücksicht auf ihre Leistungsfähigkeit vorschusspflichtig bleibt, mit der Wirkung, dass sie bei Nichtleistung des auferlegten Vorschusses als beweisfällig behandelt wird.
 
Sachverhalt:
 
A.
Nach der aargauischen ZPO vom 22. März 1900 § 62 kann, wer durch eine Bescheinigung des Gemeinderates seines Wohnortes oder einer anderen zuständigen Behörde nachweist, dass er nicht imstande ist, ohne Beschränkung der für sich und seine Familie notwendigen Lebensbedürfnisse die Prozesskosten zu bestreiten, verlangen, dass ihm das Armenrecht erteilt werde. Das Armenrecht befreit die betreffende Partei von der Verpflichtung zur Zahlung der Gerichts-, Stempel-, Vorladungs- und Zustellungsgebühren, sowie zur Sicherheitsleistung für die Kosten des Rechtsstreites; es gewährt ferner den Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes (§ 64 Ziff. 1, 2 und 4). Dagegen tritt eine Befreiung von der Zahlung der Kosten (Vorschüsse) für Einvernahme von

BGE 57 I 337 (338):

Zeugen und Sachverständigen, für Vornahme eines Augenscheines und für Einforderung von Urkunden nur da ein, wo dies besonders gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 64 Ziff. 3). Die Entscheidung über die Bewilligung des Armenrechtsgesuches und die Prüfung des Vorliegens der dafür erforderlichen Voraussetzungen ist Sache des Präsidenten des Gerichtes, bei dem der Rechtsstreit zur Verhandlung kommt (§ 66). Unter dem Titel "Vorladungen, Tagfahrten, Fristen und Zustellungen" bestimmt:
    "§ 91. Wird binnen der angesetzten Frist eine Rechtsvorkehr nicht erstattet oder eine andere prozessualische Verpflichtung nicht erfüllt, so auferlegt der Gerichtspräsident dem Säumigen eine Ordnungsbusse von 10-20 Fr. und räumt ihm unter Androhung der Säumnisfolgen (§ 92) eine zweite Frist von 10-20 Tagen ein."
    "§ 92. Wird auch diese zweite Frist versäumt, so legt der Gerichtspräsident die Akten des Rechtsstreites dem Gerichte vor, welches an Hand derselben sein Urteil fällt."
Durch Kreisschreiben vom 29. Juni 1917 (Vierteljahresschrift f. aarg. Rechtsprechung 12 S. 158) sah sich das aargauische Obergericht veranlasst, den Bezirksgerichten die Vorschrift des § 64 Ziff. 3 ZPO in Erinnerung zu rufen und sie anzuweisen, eine Befreiung der im Armenrecht prozessierenden Partei von den hier erwähnten Kosten des Beweisverfahrens nur in den gesetzlich besonders bestimmten Fällen ("Haftpflichtprozesse, Offizialverfahren") eintreten zu lassen. § 92 ZPO ist schon durch ein Urteil des Obergerichtes vom 13. Juni 1914 (ebenda 15 S. 24 N. 6) dahin ausgelegt worden, dass infolge der hier vorausgesetzten Säumnis ein Beweisverfahren keinesfalls mehr durchgeführt werden dürfe, sondern unter dem zu fällenden "Urteil" das Endurteil zu verstehen sei und zwar in dem Sinne, "dass dem Rechtsgegner der Partei, die im Verfahren nach § 91 ihre prozessuale Verpflichtung nicht erfüllt hat, nach Analogie der §§ 85 III und 130 II ZPO sein Rechtsbegehren zuzusprechen ist, sofern es nicht nach den

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Akten als offenbar ungerechtfertigt erscheint". Ein weiteres Urteil vom 13. April 1917 (ebenda 17 S. 144 N. 50) führt dazu noch näher aus: "Dabei haben die Behauptungen der säumigen Partei, soweit sie nicht vom Gegner ausdrücklich anerkannt worden sind, als hinfällig zu gelten. Die tatsächlichen Behauptungen der nicht säumigen Partei dagegen gelten auch dann, wenn der Säumige sie bestritten hat, als zugestanden und der Richter hat bloss noch daraus die rechtlichen Schlüsse zu ziehen und dabei im Zweifelsfalle der Auslegung des Gesetzes den Vorzug zu geben, die dem Begehren der nichtsäumigen Partei günstiger ist." In beiden Fällen handelte es sich um die Säumnis in der Leistung von Vorschüssen, die durch den Beweisbeschluss der als beweispflichtig erklärten Partei für die Kosten der Beweisführung auferlegt worden waren.
 
B.
Der heutige Rekurrent Alfred Höcker in Muttenz war während einiger Zeit Reisender der rekursbeklagten Firma Madörin & Ziegler, Chemische Fabrik in Wallbaach (Kanton Aargau), legte dann aber diese Tätigkeit Ende Mai 1929 nieder, wie er behauptet wegen vertragswidrigen Verhaltens der Rekursbeklagten. Im Dezember 1929 reichte er gegen die Rekursbeklagte beim Bezirksgericht Rheinfelden eine Zivilklage ein, womit er von der Beklagten die Zahlung von 1325 Fr. 30 Cts. und von 2500 Fr. forderte, den ersteren Betrag aus Dienstvertrag auf Grund der von ihm behaupteten Anstellungsbedingungen als rückständigen Gehalt bis 18. Juni 1929, Reisespesenvergütung bis 21. Mai 1929 und Umsatzprovision auf den von ihm eingebrachten Bestellungen, die 2500 Fr. als Schadenersatz wegen Verletzung (Nichterfüllung) einer Vereinbarung, wodurch die Beklagte für die Dauer des Anstellungsverhältnisses zum Vertriebe einer Schuhwichse unter der dem Kläger zustehenden Marke "Weltcrème" ermächtigt worden sei. Endlich wurde: 3) der Erlass eines Befehles an die Beklagte zur sofortigen Einstellung von Produktion und Vertrieb der Schuhcrème "Weltcrème" verlangt.

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Für die Durchführung des Prozesses war dem Rekurrenten durch Verfügung des Präsidenten des Bezirksgerichtes Rheinfelden vom 15. Juli 1929 das Armenrecht bewilligt und als armenrechtlicher Anwalt Dr. Börlin in Pratteln (Baselland) bestellt worden. Die Beklagte beantragte in der Klagebeantwortungsschrift die Abweisung der Klage, soweit damit mehr verlangt werde als die Vergütung nachstehender Provisionen: 66 Fr. 75 Cts. zahlbar sofort und 80 Fr. 15 Cts. zahlbar nach Eingang der betreffenden Fakturenbeträge. In der Duplikschrift nahm sie auch dieses Anerkenntnis zurück und schloss auf gänzliche Abweisung der Klage, indem sie den ursprünglich anerkannten Beiträgen gewisse Schadenersatzansprüche an den Kläger zur Verrechnung gegenüberstellte. Das Bezirksgericht Rheinfelden legte durch Beweisbeschluss vom 9. Juli 1930 dem Kläger den Beweis für eine Reihe von Behauptungen durch Parteibefragung und die im Beschluss genannten Zeugen auf und verpflichtete zugleich den Kläger, an die Kosten der Beweisverhandlung der Gerichtskasse innert 8 Tagen einen Vorschuss von 140 Fr. zu leisten. Da der Rekurrent erklärte, diesen Betrag nicht aufbringen zu können, wurde ihm die Frist hiezu bis zum 4. Oktober 1930 offengehalten. An diesem Tage erliess der Bezirksgerichtspräsident eine Verfügung, wodurch er den Rekurrenten wegen Nichtbezahlung des Kostenvorschusses in eine Ordnungsbusse von 20 Fr. verfällte und ihm zur Vorschussleistung eine letzte Frist von 10 Tagen ansetzte, unter der Androhung, dass andernfalls auf Grundlage der Akten geurteilt würde.
Nachdem auch diese Frist unbenützt abgelaufen war, schritt das Bezirksgericht ohne Beweiserhebungen zur Entscheidung des Rechtsstreites und wies durch Endurteil vom 22. Oktober 1930 die Klage in vollem Umfange ab, unter Auferlegung der Parteikosten der Beklagten an den Kläger, mit der Begründung: die Beklagte habe die Behauptungen des Klägers in allen wesentlichen Punkten nicht anerkannt und ihnen eine eigene Sachdarstellung

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gegenübergesetzt, die, wenn tatsächlich richtig, zur Verneinung der mit Klage geltend gemachten Ansprüche führen müssen. Da der Richter infolge der Säumnis des Klägers in der Leistung des Kostenvorschusses für die Beweisführung diese Darstellung als wahr anzunehmen habe, müsse demnach die Klage verworfen werden.
Höcker appellierte gegen dieses Urteil an das Obergericht Aargau mit dem Schlusse, es seien die Klagebegehren zuzusprechen, die sämtlichen vom Kläger angerufenen  Beweismittel beizuziehen und die mit dem Armenrecht verbundene Kostenbefreiung auch auf die Beweisdurchführung auszudehnen.
Durch Urteil vom 7. März 1931 verpflichtete das Obergericht I. Abteilung die Beklagte an den Kläger 66 Fr. 75 Cts., zahlbar sofort und 80 Fr. 15 Cts., zahlbar nach Eingang der betreffenden Fakturenbeträge, zu zahlen, wies dagegen im übrigen die Klage ebenfalls ab. Die Gerichtskosten beider Instanzen wurden zu 1/20 der Beklagten auferlegt und der Kläger verpflichtet, der Beklagten an ihre beidinstanzlichen Parteikosten 19/20 mit 646 Fr. 29 Cts. zu ersetzen. In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, dass die Erteilung des Armenrechtes nach § 64 Ziff. 3 ZPO, da keiner der hier vorbehaltenen Ausnahmefälle vorliege, den Kläger nicht von der Vorschussleistung für die Kosten des Beweisverfahrens entbinden könne. Das Bezirksgericht habe daher mit Recht durch seinen Beweisbeschluss den Parteien die Kosten für die Durchführung der von ihnen beantragten Beweise auferlegt und auf die Säumnis des Klägers in der Entrichtung des verlangten Vorschusses gemäss § 92 ZPO und der darauf beruhenden ständigen Gerichtspraxis ohne weiteres Beweisverfahren das Endurteil auf Grund der Sachdarstellung der Beklagten und der Akten gefällt. Der erstinstanzlichen Urteilsbegründung sei auch darin beizustimmen, dass auf dieser Grundlage das Begehren der Beklagten -- auf Abweisung der Klage -- nicht als offenbar ungerechtfertigt bezeichnet werden könne und in der

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Hauptsache zuzusprechen sei. Eine Abänderung des angefochtenen Urteils rechtfertige sich nach den Akten nur insoweit, als die Beklagte bei der in Ziff. 1 des Antwortschlusses ausgesprochenen formellen Anerkennung der Beträge von 66 Fr. 75 Cts. und 80 Fr. 15 Cts. zu behaften sei. Die Beklagte habe zwar dieses Anerkenntnis in der Duplik unter Berufung auf ihr zustehende verrechenbare Gegenansprüche zurückgezogen. Doch sei ein solcher Widerruf nicht mehr zulässig gewesen, weil sich die zur Verrechnung gestellten Ansprüche auf Tatsachen stützen, die der Beklagten zugegebenermassen schon bei Einreichung der Antwort bekannt gewesen seien.
 
C.
Gegen dieses Urteil des Obergerichtes hat Höcker beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrage, dasselbe sei wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben und die Sache an die kantonalen Gerichte zu neuer Behandlung gemäss dem Appellationsschlusse des Klägers an das Obergericht zurückzuweisen. Der Rekurrent, so wird ausgeführt, sei völlig ausser Stande gewesen, den von ihm verlangten Kostenvorschuss zu leisten. Er könne aus seinem geringen Verdienst kaum das Leben fristen und habe eben darum auch das Armenrecht und die unentgeltliche Verbeiständung verlangt und erhalten. Wenn die aargauische ZPO § 64 die im Armenrecht prozessierende Partei nur von gewissen Kosten, nicht auch von der Vorschusspflicht für die Kosten des Beweisverfahrens befreie, so liege darin eine unzulässige Verkürzung der vermögenslosen gegenüber der vermöglichen Partei. Die arme Partei müsse infolgedessen zwangsläufig den Prozess trotz des gewährten Armenrechtes verlieren, sobald es sich darum handle, ihre Darlegungen zu beweisen. Die fragliche Bestimmung bedeute daher eine Rechtsverweigerung und willkürliche ungleiche Behandlung der Prozessparteien. Dasselbe gelte auch von der Anwendung der Bestimmung im vorliegenden Falle.
 
D.
Das Obergericht des Kantons Aargau hat sich beschränkt, auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils,

BGE 57 I 337 (343):

die darin angewendeten Vorschriften der kantonalen ZPO (§§ 64, 91, 92) und die oben unter A angeführten früheren Entscheide des Gerichtes zu verweisen.
Die rekursbeklagte Firma Madörin & Ziegler hat die Abweisung der Beschwerde beantragt.
 
Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
1. Nach § 144 der aargauischen ZPO können Beweisbeschlüsse nicht selbständig, sondern nur in Verbindung mit der Weiterziehung des Endurteils im Rechtsmittelwege angefochten werden. Dass für die mit einem Beweisbeschlusse verbundene Verfügung, wodurch einer Partei für die Kosten einer angeordneten Beweisführung ein Vorschuss auferlegt oder ihr zur Leistung des letzteren eine Nachfrist unter Androhung der Säumnisfolgen angesetzt wird (§ 91 ZPO), etwas anderes gelten würde, ist nicht ersichtlich. Im angefochtenen Urteil ist denn auch das Obergericht auf die Frage, ob das Bezirksgericht Rheinfelden, dem Rekurrenten eine solche Kostenauflage haben machen und an deren Nichterfüllung die Wirkungen des § 92 ZPO knüpfen dürfen, eingetreten und hat sie materiell geprüft. Dem Rekurrenten kann deshalb das Recht nicht abgesprochen werden, die Verfassungsmässigkeit der streitigen Auflage noch im Anschluss an dieses Urteil durch staatsrechtlichen Rekurs dem Bundesgericht zur Entscheidung zu unterbreiten, mit der Wirkung, dass wenn das Urteil sich insoweit als verfassungswidrig erweist, auch die darin aus der Säumnis des Rekurrenten in der Befolgung der betreffenden prozessualen Pflicht gezogenen Folgerungen dahinfallen müssen.
 
Erwägung 2
2. In Art. 4 BV, dem Grundsatze der Rechtsgleichheit, ist auch das gleiche Recht jedes Bürgers auf Gewährung des staatlichen Rechtsschutzes für einen von ihm behaupteten privatrechtlichen Anspruch inbegriffen, d.h. diesen Anspruch vor dem zuständigen Richter in den dafür vorgesehenen prozessualen Formen verfolgen und feststellen lassen zu können und bei Beobachtung jener Formen mit

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seinen für die Entscheidung wesentlichen Vorbringen und Beweisangeboten gehört zu werden. Auf der Annahme eines solchen in der Garantie des Art. 4 BV miteingeschlossenen Individualrechts beruht die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtes, die in der Rechtsverweigerung (formellen Justizverweigerung) und in der Versagung des rechtlichen Gehörs gegenüber einer Partei im Zivil- (oder Straf-) prozesse eine Verfassungsverletzung erblickt. Dieser Anspruch ist aber nicht gewahrt, wenn das Tätigwerden des Richters oder doch die Vornahme gewisser prozessualer Handlungen allgemein und schlechthin, auch gegenüber armen und infolgedessen zu den betreffenden Leistungen nicht fähigen Personen, von der vorhergehenden Erlegung der Prozesskosten oder doch der Kosten jener Handlungen, der Vorschussleistung dafür, abhängig gemacht wird. Eine solche Ordnung behandelt die Bürger nur äusserlich, dem Scheine nach gleich: in Wirklichkeit wird dadurch dem Armen der Rechtsschutz auch für die Verfolgung eines begründeten oder zum mindesten nicht aussichtslosen Anspruches versagt, indem die Gewährung an eine Bedingung geknüpft wird, die der Betroffene zum vorneherein nicht erfüllen kann. Es liegt also darin eine verfassungswidrige Schlechterstellung der mittellosen gegenüber der begüterten Prozesspartei. Auf diesen Boden hat sich denn auch das Bundesgericht schon im Urteil vom 30. September 1887 in Sachen de Courten gegen Wallis (BGE 13 S. 251) gestellt. In Frage stand damals allerdings eine Bestimmung des Walliser Strafprozesses, die für die Appellation des Angeklagten gegen ein verurteilendes erstinstanzliches Straferkenntnis bei Folge der Verwirkung des Rechtsmittels eine Kostenhinterlage von 130 Fr. forderte. Doch reicht die Urteilsbegründung der Bedeutung nach über diesen besonderen Tatbestand und das Verteidigungsrecht des Angeklagten im Strafprozess überhaupt hinaus und trifft auch auf den vorliegenden Fall zu. Es wurde darin allgemein ausgeführt, dass zwar der Staat für die Ausübung der Rechtspflege Gebühren erheben könne und dass

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auch verfassungsrechtlich grundsätzlich nichts entgegenstehe, die Parteien im Interesse des Staates oder der Gegenpartei zur vorgängigen Versicherung oder Hinterlegung der Prozesskosten anzuhalten: "allein Prozessvorschriften der letzteren Art erheischen doch, soll dadurch dem Armen der Rechtsschutz nicht völlig abgeschnitten werden, eine Ergänzung in dem Sinne, dass dem Bürger, der sich über seine Mittellosigkeit ausweist, sofern es sich nicht etwa um offenbar grundlose Prozesse handelt, die vorgängige Erlegung der Gebühren nachgesehen wird"; im Zivilprozesse sei denn auch die Einrichtung des Armenrechts in der Schweiz wohl allgemein anerkannt. Ähnlich war schon in einem früheren Rekursfalle aus dem Kanton Luzern gegenüber der Anfechtung der Auflage einer Kostenvertröstung in einer Zivil- oder Injuriensache bemerkt worden, eine darin liegende Rechtsverweigerung komme von vorneherein nicht in Betracht, weil dem Unbemittelten durchgängig und insbesondere auch im Kanton Luzern das Armenrecht gewährt werde (ebenda 8 S. 171). Richtig ist freilich, dass in dem späteren Entscheide in Sachen Wicky (BGE 26 1273) zu Eingang der Erwägungen ausgeführt wurde: wie es im allgemeinen Sache der Kantone sei zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die Organe der staatlichen Zivilrechtspflege tätig werden und in welcher Form sich die Verhandlungen abspielen, so beantworte es sich -- von einigen Spezialbestimmungen des eidgenössischen Rechtes abgesehen -- insbesondere auch nach kantonalem Recht, ob, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfange einer Partei die Prozessführung durch Gewährung unentgeltlicher Justiz, Entbindung von Prozesskautionen und dergleichen erleichtert werden solle. Doch kann dieser gelegentlichen Bemerkung schon deshalb keine grosse Bedeutung beigemessen werden, weil die Frage eines bereits aus Art. 4 BV folgenden verfassungsmässigen Anspruchs auf Bewilligung des Armenrechtes beim Zutreffen gewisser Voraussetzungen damals überhaupt nicht zur Entscheidung stand, sondern streitig

BGE 57 I 337 (346):

einzig war, ob die Wohltat der unentgeltlichen Prozessführung dem Rekurrenten ohne Willkür wegen Aussichtslosigkeit der konkreten Klage (mangels der vom kantonalen Prozessgesetz aufgestellten Voraussetzung, dass "der Anspruch des Petenten einer näheren Prüfung wert ist") habe versagt werden können. Dasselbe gilt für das neuere Urteil in Sachen Bandermann (BGE 55 I 361), wo es sich um die Kosten des Betreibungsverfahrens handelte und entscheidend darauf abgestellt wurde, dass das SchKG, das nach Art. 113 letzter Absatz BV und Art. 175 OG für das Bundesgericht verbindlich ist, eine Befreiung des bedürftigen Gläubigers von der gesetzlichen Vorschusspflicht für diese Kosten nicht kenne. Wenn andererseits schon im Falle de Courten die wohl allgemeine grundsätzliche Anerkennung des Armenrechtes für Zivilprozess in den schweizerischen Prozessgesetzgebungen wurde, so trifft dies auch heute noch zu (vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen kantonalen Gesetze in der vom Völkerbund herausgegebenen Veröffentlichung "Assistance judiciaire aux indigents" S. 392 ff. für das Verfahren vor den eidgenössischen Gerichten ebenda S. 391 und insbesondere OG Art. 212).
Nach dem Gesagten besteht darauf beim Vorliegen der oben umschriebenen und unten noch näher zu erörternden Voraussetzungen ein aus der verfassungsmässigen Rechtsgleichheit fliessendes subjektives Recht des Bürgers, daß die Pflicht der Kantone zu entsprechender Gestaltung ihrer Prozessgesetzgebung nach sich zieht. Wie die übrigen verfassungsmässigen Individualrechte, so bildet der Grundsatz der Rechtsgleichheit mit den daraus sich ergebenden Folgerungen auch auf den Gebieten, in denen die Rechtssetzungsgewalt grundsätzlich den Kantonen geblieben ist, eine Schranke nicht bloss für die rechtsanwendenden Behörden, sondern auch für den Gesetzgeber. Es kann daher auch der Anerkennung eines solchen Rechtes nicht entgegengehalten werden, dass damit in die durch Art. 64 BV anerkannte Gesetzgebungshoheit

BGE 57 I 337 (347):

der Kantone auf dem Gebiete der Gerichtsorganisation, des gerichtlichen Verfahrens und der Rechtsprechung eingegriffen werde. Und ebensowenig spricht dagegen, dass der Bundesgesetzgeber für einige Spezialgebiete, so für die Geltendmachung der Haftpflichtansprüche aus Fabrik- oder Eisenbahnbetrieb und nunmehr der Versicherungsansprüche aus der eidgenössischen Unfallversicherung den Kantonen die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung an bedürftige Personen für nicht zum voraus unbegründet erscheinende Klagen besonders vorgeschrieben hat (Novelle z. FRG Art. 6, EHG Art. 22, EIG Art. 40, SALIS Bundesrecht V Nr. 2369; KUVG Art. 120). Es wurde hiedurch der dahingehende Anspruch für gewisse Fälle, wo dem Bundesgesetzgeber aus sozialpolitischen Gründen besonders daran gelegen sein musste, durch eine positive Norm klargestellt und vor jeder Anzweiflung gesichert. Zu der Frage, ob und in welchem Umfange er sich nicht sonst schon aus dem allgemeinen Grundsatz des Art. 4 BV ergeben hätte, ist damit nicht Stellung bezogen worden, weder in bejahendem noch in verneinendem Sinne.
 
Erwägung 3
3. Sind die Kantone schon kraft dieser Verfassungsvorschrift zu einer Organisation der Rechtspflege in Zivilsachen gehalten, die es auch dem Unbemittelten nicht nur theoretisch freistellt, sondern -- durch entsprechenden Kostenerlass -- tatsächlich ermöglicht, sein Recht zu suchen und zu finden, so muss aber auch das Armenrecht, die Befreiung von der Pflicht zur vorgängigen Sicherstellung oder Hinterlegung der Prozesskosten bei ausgewiesener Mittellosigkeit für die Kosten aller prozessualen Handlungen verlangt werden können, die zur Herbeiführung eines materiellen Entscheides über den ans Recht gesetzten Anspruch erforderlich sind oder doch vom Richter als hiezu erforderlich erachtet werden, und für die Kostenvorschuss oder -sicherheit zu leisten der bedürftigen Partei nicht möglich ist, ohne sich des für ihren und ihrer Familie Lebensunterhalt Notwendigen zu berauben. Dahin gehen denn auch die oben

BGE 57 I 337 (348):

erwähnten Spezialbestimmungen der Bundesgesetzgebung und Art. 212 OG in der Anwendung durch das Bundesgericht. Eine Regelung, welche vom Erlass allgemein, auch bei im übrigen erfolgter Erteilung des Armenrechts für die Prozessführung, die Kosten gewisser Prozesshandlungen ausnimmt, selbst wenn das Unterbleiben der letzteren wegen mangelnden Kostenvorschusses für die Partei das Unterliegen im Prozesse zur Folge hat, ist mit jenem verfassungsmässigen Postulate nicht vereinbar. Sie kommt im Erfolge der Verweigerung des Rechtsweges, Rechtsschutzes gegenüber bedürftigen Personen für die Verfolgung eines ihnen zustehenden, vom Anspruchsgegner bestrittenen privatrechtlichen Anspruches oder für die Verteidigung auf eine gegen sie erhobene Klage überhaupt gleich. Es ist zudem innerlich widerspruchsvoll, einer bedürftigen Partei zunächst die Einleitung des Prozesses durch Zusicherung der Befreiung von den Gerichtsgebühren im engeren Sinne und Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes zu ermöglichen, dann aber, wenn sich ein Beweisverfahren als notwendig erweist, sie durch Auflage von Kostenvorschüssen, die sie nicht aufzubringen vermag, sachfällig werden zu lassen. Wenn § 64 Ziff. 3 der aargauischen ZPO auch die im Armenrecht prozessierende Partei schlechthin zur SichersteIlung, Vorschussleistung für die Kosten der Abnahme der von ihr beantragten und vom Richter zugelassenen Beweise verpflichtet, mit der Wirkung, dass anderenfalls ihre Vorbringen nicht berücksichtigt werden und der Streit ausschliesslich auf Grund der Sachdarstellung der Gegenpartei und der Akten beurteilt wird (§ 92), so ist demnach diese Vorschrift verfassungswidrig. Die Verfassungsverletzung kann auch nicht etwa damit beseitigt werden, dass zwar die Anwendung dieser weitgehenden Säumnisfolgen abgelehnt, aber der Prozess für solange eingestellt wird, bis die vorschusspflichtig erklärte Partei dieser Auflage nachgekommen sein wird. Denn auch damit wäre dem Recht des Armen, dass ihm, gleich einer begüterten Partei,

BGE 57 I 337 (349):

Recht gesprochen
werde, nicht Genüge getan. Es sind denn auch, wie sich aus der oben erwähnten Zusammenstellung ergibt, ausser Aargau heute nur noch einige wenige Kantone, z.B. Wallis, die die Erstreckung des Armenrechtes auch auf die Kosten des Beweisverfahrens (Auslagen für Zeugeneinvernahmen, Befragung von Sachverständigen u.s.w.) grundsätzlich ablehnen.
Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass in Fällen, wo eine Partei zwar nicht zur Tagung der gesamten Prozesskosten, aber doch immerhin zu gewissen Leistungen ohne Beeinträchtigung des notwendigen Lebensunterhaltes für sich und ihre Familie fähig ist, das Armenrecht bloss teilweise, für den diese Leistungsfähigkeit übersteigenden Kostenbetrag erteilt werde. Insbesondere wird aus Art. 4 BV nichts dagegen einzuwenden sein, dass auch eine Partei, der grundsätzlich das Armenrecht für den Prozess erteilt worden ist, dennoch zu gewissen Vorschüssen für die Beweisführung angehalten wird, wenn sich aus einer näheren Prüfung ihrer Vermögens- und Erwerbsverhältnissen einerseits und ihrer Lasten andererseits ergibt, dass ihr diese Leistung ohne solchen Nachteil zugemutet werden kann. Was durch Art. 4 BV ausgeschlossen wird, ist nur die grundsätzliche Ausnahme dieser Kosten vom Armenrecht überhaupt, ohne Rücksicht auf den Grad der Armut der Partei und ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit. Es ist ferner klar, dass der Arme die Befreiung von der Vorschusspflicht nicht für die Abnahme irgendwelcher von ihm beantragter Beweise verlangen kann, sondern nur solcher, die sich auf für die Entscheidung des Streites erhebliche Tatsachen beziehen und zur Erbringung des Beweises dafür tauglich sind. Eine Verfügung des Richters, wodurch die Beweisabnahme wegen Unerheblichkeit des Beweisthemas oder Untauglichkeit der angebotenen Beweismittel abgelehnt wird, kann deshalb keinesfalls unter Berufung auf die vorstehend entwickelten Grundsätze, sondern nur insoweit aus Art. 4 BV angefochten werden, als sich jene der Verweigerung der Beweisführung

BGE 57 I 337 (350):

zu Grunde liegenden Annahmen als willkürlich erweisen sollten.
 
Erwägung 4
4. Im vorliegenden Falle ist dem Rekurrenten auf das von ihm beigebrachte Armutszeugnis des Gemeinderates Muttenz das Armenrecht, und zwar wie das Obergericht feststellt, mit Wirkung für beide kantonale Instanzen, grundsätzlich gewährt und damit die in § 62 ZPO vorausgesetzte Bedürftigkeit und das Vorliegen einer nicht zum Voraus aussichtslosen Klage (§ 70 Abs. 2 ebenda) anerkannt worden. In Frage steht die Durchführung des Beweisverfahrens über tatsächliche Behauptungen, die der kantonale Richter selbst durch den Beweisbeschluss vom 9. Juli 1930 als für die Entscheidung wesentlich betrachtet und für die er auch durch diesen Beschluss die vom Kläger angerufenen Beweismittel, soweit sie darin zugelassen wurden, als an sich geeignet erklärt hat. Dem Rekurrenten ist ferner der Vorschuss von 140 Fr. für die Kosten der Beweisabnahme nicht deshalb auferlegt worden, weil er zu dessen Leistung trotz des erwähnten Armutszeugnisses seiner Wohnortsgemeinde ohne den in § 62 der kantonalen ZPO erwähnten Nachteil als fähig erscheine. Vielmehr stützt sich die betreffende Auflage ausschliesslich darauf -- sie ist auch vom Obergericht ausschliesslich deshalb geschützt worden --, dass für die Kosten der Beweisabnahme eine Kostenbefreiung grundsätzlich, auch bei im übrigen erfolgter Bewilligung des Armenrechtes, nicht gewährt werden könne. Dieser Standpunkt ist aber verfassungswidrig. Er wird auch dadurch nicht gerechtfertigt, dass er dem kantonalen Prozessgesetze, § 64 Ziff. 3 ZPO entspricht, da eben diese Vorschrift selbst verfassungswidrig ist. Das angefochtene Urteil ist deshalb in der Meinung aufzuheben, dass unter Berufung auf diesen Grundsatz dem Rekurrenten der Erlass des Kostenvorschusses für die angeordnete Beweisabnahme nicht verweigert werden durfte, dass es dagegen dem kantonalen Richter unbenommen bleibt zu prüfen, ob nicht die Mittel des Rekurrenten derart waren oder sind, dass sie ihm

BGE 57 I 337 (351):

wenigstens eine solche Leistung ohne Beeinträchtigung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse oder derjenigen seiner Familie gestatteten oder gestatten und bejahendenfalls die Kostenauflage deshalb zu bestätigen oder zu erneuern. Durch die Vorlegung des in § 62 der ZPO geforderten Armutszeugnisses der Wohnortsgemeinde mit dem Armenrechtsgesuch hatte der Kläger zunächst der ihm obliegenden Beweispflicht genügt. Es war daher auch nicht seine Sache, von sich aus auf die Kostenauflage des Beweisbeschlusses hin weitere Beweise für seine Unfähigkeit zur Leistung des verlangten Vorschusses beizubringen. Vielmehr wird es am kantonalen Richter sein, wenn er nicht ohne weiteres von der fraglichen Auflage absehen will, die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Klägers und dessen Lasten nach der bezeichneten Richtung näher zu untersuchen und hiezu vom Rekurrenten eventuell die erforderlichen Auskünfte unter den geeigneten Androhungen zu verlangen.
 
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 7. März 1931 im Sinne der Erwägungen aufgehoben.