BGE 39 I 361 - Oltner Nachrichten
 
61. Urteil
vom 25. September 1913 in Sachen Jäggi gegen Stampfli.
 


BGE 39 I 361 (361):

Regeste:
Art. 55 BV. Wissentlich oder leichtfertig aufgestellte unwahre Behauptungen fallen nicht unter den Schutz der Pressfreiheit. -- Legitimation zur Strafklage wegen Pressehrverletzung bei Vorwürfen, die gegen eine politische Partei gerichtet sind.
 
Sachverhalt:
Das Bundesgericht hat,
da sich ergeben:
 
A.
Am 30. Juni 1912 fanden im Kanton Solothurn die Bezirkswahlen statt. Dabei kam es im Bezirke Olten-Gösgen zu einem Wahlkampfe zwischen der freisinnigen Partei einerseits, der katholischen Volkspartei und der sozialdemokratischen Partei andererseits. Der freisinnige Kandidat drang durch. Am 2. Juli veröffentlichten darauf die "Oltner Nachrichten", das Organ der katholischen Volkspartei unter dem Titel "Bezirkswahlen in Olten-Gösgen" eine Wahlbetrachtung, die mit folgenden Sätzen schloß:
    "Unserem Kandidaten hat der Kampf wahrlich keinen Rappen gekostet. Der Radikalismus aber mußte in heller Angst alle seine Machtmittel -- in fester und flüssiger Form -- unter das Volk laufen lassen, um die Hochdruckwahlmaschine zu schmieren. Der Beschluß der "jung-klerikalen und christlich-sozialen Heißsporne", ist sie teuer zu stehen gekommen."
Wegen dieses Artikels, speziell wegen der vorstehend wörtlich angeführten Stelle erhob Dr. Stampfli, Redaktor in Olten für sich und aus Auftrag von acht andern Mitgliedern der freisinnigen Partei von Olten gegen den heutigen Rekurrenten Jäggi als verantwortlichen Redaktor der "Oltner Nachrichten" Klage wegen Ehrverletzung. Das Amtsgericht Olten-Gösgen bestrafte den Rekurrenten wegen Beschimpfung mit 70 Fr. Buße. Auf erfolgte Appellation änderte das Obergericht Solothurn dieses Erkenntnis durch Urteil vom 27. Mai 1913 dahin ab, daß es den Rekurrenten der Verleumdung durch das Mittel der Druckerpresse gegenüber Dr. Stampfli schuldig erklärte und zu 100 Fr. Buße sowie

BGE 39 I 361 (362):

zu den Kosten verurteilte; auf die "Klage" der übrigen "Kläger" wurde mangels Vorliegens eines formell giltigen Strafantrages nicht eingetreten. Aus den Motiven des Urteils ist hervorzuheben: Die eingeklagte Behauptung sei ohne Frage objektiv ehrenrührig: denn es werde damit der Anschein erweckt, als ob durch Geschenke, Drohungen und Versprechungen ("Machtmittel in fester und flüssiger Form") auf das Ergebnis der Wahl habe eingewirkt werden wollen. Solche Handlungen würden aber unter den Tatbestand des § 64 Ziff. 3 des solothurnischen Strafgesetzes (strafbare Wahlbeeinflussung) fallen. Als passives Subjekt der Beleidigung erscheine im Artikel allerdings formell der "Radikalismus", d.h. die freisinnige Partei, und zwar, wie sich aus dem Zusammenhang ergebe, die freisinnige Partei der Bezirke Olten und Gösgen. Indessen sei ohne weiteres klar, daß der Vorwurf sich in Wirklichkeit nicht gegen die Partei an sich richte, der ja keine Persönlichkeit zukomme und die sich daher auch nicht der strafbaren Wahlbeeinflussung schuldig machen könne, sondern gegen einzelne Personen, die der Partei angehörten. Es handle sich somit um die Beleidigung einer Personenmehrheit unter einer Kollektivbezeichnung (was in Anlehnung an die deutsche Doktrin und Praxis näher ausgeführt wird). Als beleidigt und klageberechtigt müßten dabei alle Angehörigen der freisinnigen Partei von Olten-Gösgen gelten. Eventuell seien jedenfalls die Führer der Partei betroffen. Denn der Artikel gebe dem Gedanken Ausdruck, es sei systematisch, von oben herab darauf hingearbeitet worden, das Wahlergebnis durch strafbare Wahlbeeinflussung zu verbessern. Nun sei aber gerichtsnotorisch, daß Dr. Stampfli nicht nur Mitglied, sondern Präsident des Komitees, also einer der Führer der freisinnigen Partei von Olten-Gösgen sei, und daß er sich speziell auch bei den Wahlkämpfen von 1912 lebhaft agitatorisch beteiligt habe. Der Beklagte habe daher zweifellos das Bewußtsein gehabt und haben müssen, daß Dr. Stampfli durch die eingeklagte Behauptung mitgekränkt werden könne. Da der Wahrheitsbeweis für diese nicht einmal angetragen, geschweige denn geleistet worden sei, liege somit der Tatbestand der Verleumdung vor. Beizufügen sei lediglich, daß die durch den Strafantrag einer verletzten Person herbeigeführte Bestrafung das Antragsrecht der übrigen konsumiere, eine mehrmalige Bestrafung also ausgeschlossen sei.
 


BGE 39 I 361 (363):

B.
Gegen das Urteil des Obergerichts hat Jäggi den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrage auf Aufhebung. Als Beschwerdegründe werden angerufen Rechtsverweigerung und Verletzung der Preßfreiheit und zur Begründung ausgeführt: die Ansicht des Obergerichts, daß bei Vorwürfen, die sich gegen eine politische Partei richteten, jedem Parteiangehörigen ein Klagerecht zustehe, und die darauf gestützte Bejahung der Aktivlegitimation des Klägers Dr. Stampfli beruhe auf einer Verkennung des wahren Sinns der deutschen Doktrin und Praxis und sei willkürlich. Dasselbe gelte in Bezug auf die weitere Annahme, daß der Artikel den Vorwurf strafbarer Wahlbeeinflussung enthalte. Jede politische Partei brauche für die Agitation Geld: auch komme es überall vor, daß in Wahlversammlungen auf Kosten einer Partei oder eines Kandidaten getrunken werde, ohne daß dadurch die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigt werde. Auf solche Erscheinungen des politischen Lebens weise der Artikel hin. Ein Angriff auf einzelne Personen liege darin nicht und sei auch nicht beabsichtigt gewesen. Die Besprechung der Wahlergebnisse und Wahlmittel gehöre zum Aufgabenkreis der Presse: dabei müsse man ihr die mit dem Wahlkampf verbundene Aufregung zu Gute halten. Die Erfüllung dieser Aufgabe und das Recht der freien Meinungsäußerung dürften nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß man Personen ein Klagerecht zugestehe, von denen der Artikel nicht spreche und auf die er nicht hindeute, noch dadurch, daß man Dinge in den Artikel hineininterpretiere, die nicht darin ständen. Die Bestrafung wegen Beleidigung ganzer Stände, Parteien usw. sei gleichbedeutend mit der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung überhaupt. Eine Verletzung von Art. 55 BV liege auch dann vor, wenn durch das Mittel der Urteilsfindung, durch die Kunst des Motivierens in willkürlicher Weise der Tatbestand einer Ehrverletzung durch die Druckerpresse geschaffen werde; --
 
Erwägungen:
in Erwägung:
 
Erwägung 1
1. Bei Beurteilung der in erster Linie zu prüfenden Beschwerde aus Art. 55 BV ist die Begriffsbestimmung der Preßfreiheit zu Grunde zu legen, wie sie in den Urteilen Kälin und Jäggi gegen Bourquard und Konsorten und Gutknecht gegen Benninger und Konsorten vom 13. Juli und 20. September 1911

BGE 39 I 361 (364):

(AS 37 I S. 375 ff., 388 ff. [= BGE 37 I 381 (375 ff., 388 ff.)]) entwickelt und seither in konstanter Praxis (vergl. AS 38 I S. 86 ff. [= BGE 38 I 84 (86 ff.)], ferner die ungedruckten Urteile i. S. Dr. Schmid gegen Spani vom 25. Oktober 1912, I. Schmid gegen Baumwollspinnerei Emmenhof vom 6. Februar, Müller gegen Habisreutinger vom 7. März und Dr. Ludi gegen Oetiker vom 15. Mai 1913) festgehalten worden ist. Demnach muß bei der Frage, ob ein Preßerzeugnis auf den Schutz des Art. 55 Anspruch habe, von der spezifischen Aufgabe der Presse ausgegangen werden, die Oeffentlichkeit über Gegenstände von allgemeinem Interesse zu unterrichten. Das Preßerzeugnis muß, um schutzwürdig zu sein, an sich geeignet sein, in den Aufgabenkreis der Presse zu fallen. Wird darin das Verhalten von Personen besprochen, so dürfen die Grenzen einer dem Zwecke der Veröffentlichung angemessenen sachlichen Berichterstattung und Kritik nicht überschritten werden. Für Äußerungen, die über diese Schranken hinausgehen, insbesondere für wissentlich oder leichtfertig aufgestellte unwahre Behauptungen, kann der Schutz der Preßfreiheit nicht angerufen werden.
Der inkriminierte Artikel und speziell die eingeklagte Stelle wären ihrem allgemeinen Gegenstande nach zweifellos geeignet, unter die Garantie des Art. 55 zu fallen. Denn Wahlen und Abstimmungen sind öffentliche Angelegenheiten im eigentlichsten Sinne des Wortes: die Erörterung ihres Ausfalls, der Vorgänge beim Wahlkampf, die Rüge dabei zu Tage getretener Mißbräuche und Ungehörigkeiten gehört zu den ersten Aufgaben der politischen Presse. Zu prüfen bleibt daher lediglich, ob die dabei im vorliegenden Falle aufgestellten Behauptungen sich innert des Rahmens einer sachlichen Berichterstattung und Kritik in dem oben umschriebenen Sinne halten. Hiezu ist zunächst die Bedeutung der eingeklagten Äußerungen festzustellen.
Der Artikel will eine Erklärung für den Wahlsieg der freisinnigen Partei geben. Diese Erklärung wird in den Mitteln gefunden, welche auf freisinniger Seite im Wahlkampf angewendet worden seien. Während der Wahlkampf den Kandidaten der katholischen Volkspartei keinen Rappen gekostet habe, habe der Radikalismus in heller Angst alle seine Machtmittel -- in flüssiger und fester Form -- unter das Volk laufen lassen. Der Beschluß der Jungklerikalen und Christlich-Sozialen, in den Wahlkampf zu

BGE 39 I 361 (365):

treten, sei "sie", d.h. nach dem Zusammenhang die Radikalen oder radikalen Führer, teuer zu stehen gekommen. Machtmittel in fester und flüssiger Form sind gleichbedeutend mit Geld und Alkohol. Sie haben also angeblich die Radikalen unter das Volk, d.h. unter die Wähler fließen lassen. Darin liegt zweifellos nicht bloß, wie im Rekurse behauptet wird, ein Hinweis auf die Propagandakosten. Denn das Geld, das für die Wahlagitation, für Inserate, Flugblätter, Miete von Versammlungslokalen usw. verwendet wird, kommt nicht den Wählern zu. Mit dem Ausdrucke, man habe das Geld unter die Wähler fließen lassen, kann nur gemeint sein, daß einzelne Wähler Geld bekommen hätten zu dem selbstverständlichen Zwecke, sie zu einer günstigen Stimmabgabe zu bestimmen. Gleich verhält es sich mit dem unter das Volk, d.h. die Wähler gelaufenen Alkohol. Auch damit wollte ohne Frage nicht nur auf ein bloßes nachträgliches Zahlen der Konsumation in Wahlversammlungen, sondern auf eine eigentliche Wahlbeeinflussung durch Bewirtung der Wähler hingedeutet werden. Darauf weist auch der Ausdruck, man habe damit die Hochdruckwahlmaschine geschmiert. Und zwar liegt es im Sinne des Artikels, daß beides, Geldspenden und Bewirtung, im Großen und systematisch geschehen seien, da ja gerade diese Manipulationen zur Erklärung des freisinnigen Wahlsieges dienen sollen. Durch die eingeklagte Stelle will also gewissermaßen die offizielle Kampfweise der Freisinnigen charakterisiert und behauptet werden, daß sie systematisch Wahlbeeinflussung durch Geldgaben und Alkohol geübt hätten, und daß sich daraus ihr Sieg wesentlich miterkläre. Ein solches Verhalten kann aber sehr wohl unter den Tatbestand des § 64 Ziff. 3 des solothurnischen Strafgesetzes (Beeinflussung des Ergebnisses einer Wahl durch Geschenke, Versprechungen und Drohungen) subsumiert werden. Hier wäre, wenn die Darstellung des Artikels zuträfe, nicht nur versucht worden, durch Geschenke in Form von Geld und Alkohol auf das Ergebnis der Wahl einzuwirken, sondern in großem und entscheidendem Umfange tatsächlich eingewirkt worden.
Der damit erhobene Vorwurf richtet sich notwendig an einzelne ungenannte Personen. Denn nur solche können sich ja der Wahlkorruption schuldig gemacht haben. Bedenkt man, daß durch den Artikel die offizielle Kampfweise der Radikalen charakterisiert werden

BGE 39 I 361 (366):

soll, so müssen die betroffenen Personen notwendig solche sein, die auf freisinniger Seite in parteioffizieller Weise die Wahlagitation betrieben und den Wahlkampf geführt haben. Auf diese muß also der Vorwurf strafbarer Wahlbeeinflussung vor allem bezogen werden.
Der Beweis für die Wahrheit dieses Vorwurfs ist weder im kantonalen Verfahren noch im Rekurse an das Bundesgericht angetreten worden. Weder dort noch hier hat der Rekurrent auch nur einen einzigen Fall von versuchter oder erfolgter Wahlkorruption der behaupteten Art anführen können. Es muß daher angenommen werden, daß es dem Verfasser des Artikels an jeder tatsächlichen Grundlage für seine Behauptungen gefehlt, und daß er diese völlig aus der Luft gegriffen hat.
Damit ist aber nach dem eingangs Ausgeführten bereits gesagt, daß die eingeklagte Stelle aus dem Schutzgebiet des Art. 55 BV hinausfällt. Daran kann die Tatsache, daß es sich um einen in der Aufregung des Wahlkampfes geschriebenen Artikel handelt, nichts ändern. Zwar darf nicht übersehen werden, daß die Presse rasch arbeiten, insbesondere auf Mißstände bei einer Wahl sofort hinweisen muß, daß sie nicht in der Lage ist, darüber Erhebungen zu machen, wie sie die Behörden veranstalten können, sondern in der Regel auf die Angaben von Gewährsmännern, die sich sonst als zuverlässig erwiesen haben, abstellen muß und darf. Mit Rücksicht hierauf werden ihr Übertreibungen und Verallgemeinerungen wahrer oder in guten Treuen und nach sorgfältiger Prüfung für wahr gehaltener Tatsachen je nach den Verhältnissen bis zu einem gewissen Grade zu Gute gehalten werden müssen. Wäre der Rekurrent in der Lage gewesen, wenigstens einige Fälle versuchter Wahlkorruption namhaft zu machen oder zum mindesten darzutun, daß er an solche Fälle geglaubt hat und glauben durfte, so könnte es sich daher fragen, ob nicht trotz der Verallgemeinerung ein durch Art. 55 geschütztes Preßerzeugnis vorliege. Nachdem nicht einmal versucht worden ist, einen solchen Beweis zu leisten, kann davon nicht die Rede sein.
Untersteht aber die eingeklagte Stelle des Artikels überhaupt nicht der Garantie der Preßfreiheit, so kann diese auch nicht dadurch verletzt sein, daß der kantonale Richter etwa zu Unrecht die Aktivlegitimation des Klägers Dr. Stampfli bejaht hat. Denn

BGE 39 I 361 (367):

wo, wie hier, der Schutz des Art. 55 schon mit Rücksicht auf den Inhalt des Preßerzeugnisses versagt, ist eben zwischen der Verurteilung wegen Preßvergehens und der bundesrechtlich gewährleisteten Preßfreiheit keine rechtliche Beziehung mehr vorhanden.
 
Erwägung 2
2. Auch die weitere Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ist unbegründet. Soweit sie sich gegen die Annahme richtet, daß der Artikel den Vorwurf strafbarer Wahlbeeinflussung enthalte, ist sie durch die vorstehenden Erörterungen bereits widerlegt. Soweit sie sich aber auf die Bejahung der Aktivlegitimation des Klägers Stampfli bezieht, kann dahin gestellt bleiben, ob die Auffassung des Obergerichts, jeder Angehörige der freisinnigen Partei von Olten-Gösgen sei zur Klage berechtigt gewesen, vom Standpunkte des Art. 4 BV angefochten werden könnte. Denn es ist wohl zu beachten, daß das Obergericht zunächst allerdings den Kreis der beleidigten Personen in diesem weiten Sinne umschrieben, dann aber selbst eventuell ihn enger gezogen und angenommen hat, es seien jedenfalls diejenigen Personen in erkennbarer Weise betroffen, welche auf freisinniger Seite den Wahlkampf geführt hätten. Da zu den letzteren unbestrittenermaßen auch der Kläger Stampfli zählt, kann sich somit nur fragen, ob dieser zweite, eventuelle Standpunkt willkürlich sei. Hievon kann aber nicht die Rede sein. Das Urteil beruht auf eingehenden, sorgfältigen und durchaus sachlich gehaltenen Erwägungen. Die dadurch entschiedene Frage ist in der Theorie kontrovers. Nach einer verbreiteten Meinung, die u.a. auch von Liszt, Lehrbuch 19. Auflage S. 343 vertreten wird, liegt der Tatbestand einer Beleidigung durch Gesamtbezeichnung vor, sobald durch die letztere einzelne Personen in erkennbarer Weise bezeichnet werden, mag es auch zweifelhaft sein, welche einzelne Person gemeint sei. Hier kann aber nach dem zur Frage der Preßfreiheit Ausgeführten zum mindesten ohne Willkür angenommen werden, daß der Vorwurf, der sich ja als Charakterisierung der offiziellen freisinnigen Wahlkampfmethode darstellt, in erkennbarer Weise an diejenigen Personen gerichtet sei, die auf freisinniger Seite den Wahlkampf geführt haben; --
 
Dispositiv
erkannt:
Der Rekurs wird abgewiesen.