BGE 34 I 254 - Propaganda der Mormonen
 


BGE 34 I 254 (254):

44. Urteil vom 25. Juni 1908 in Sachen  Bär und Genossen gegen Kreisgerichtsausschuss Chur
Legitimation zum staatsrechtlichen Rekurs wegen Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. -- Grenzen der Zulässigkeit der Propaganda der Mormonen und der strafrechtlichen Verfolgung dieser Propaganda.
 
Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:
 
A.
Anfangs Dezember 1907 brachte der Kleine Rat des Kantons Graubünden in Erfahrung, daß in Chur und Umgebung Mormonenmissionäre in der Weise tätig seien, daß sie Versammlungen, angeblich zur Predigt des Evangeliums, abhielten, an denen hauptsächlich Frauen und erwachsene Mädchen teilnähmen, und auch vielfach weibliche Personen namentlich in Abwesenheit der Männer besuchten und sich dabei sehr zudringlich erwiesen. Insbesondere führte ein Privatmann von Chur beim kantonalen

BGE 34 I 254 (255):

Polizeidepartement Beschwerde darüber, daß seine Frau von den Mormonenmissionären in ihre Versammlungen gezogen und trotz seinem Verbot in der Familienwohnung besucht worden sei, bis sie schließlich ihn und die Kinder heimlich verlassen habe, um sich zu Mormonen nach Teufen und St. Gallen zu begeben. Hierauf zog der Kleine Rat durch Beschluß vom 6. Dezember 1907 in Betracht: Es sei allerdings nicht dargetan, daß die fraglichen Mormonenmissionäre hier die Vielweiberei gepredigt hätten; dagegen sei notorisch, daß die Mormonen die Vielweiberei lehrten und womöglich auch praktizierten, so daß, wenn sie dieselbe im einzelnen Falle nicht erwähnten, darin bloß eine Täuschung ihrer Zuhörer liege (zu vgl. Salis, Bundesrecht (2. Aufl.) 3 S. 5 ff.). Die Lehre der Vielweiberei aber gefährde zweifellos die Sittlichkeit und die öffentliche Ordnung. Die Sekte der Mormonen falle daher unter das Verbot des § 16 des kantonalen Polizeigesetzes (vom 26. Juli 1873) lautend: "Mitglieder und Gründer von solchen Sekten, welche die Sittlichkeit und die öffentliche Ruhe gefährden, sowie diejenigen, welche für solche Sekten Anhänger werben, werden mit Gefängnis bis zu 1 Monat bestraft." Dieser Erwägung gemäß lud der Kleine Rat das Kreisamt Chur ein, "in Sachen auf Grund von § 17 Polizeigesetz schleunigst einzuschreiten". In der Folge leitete das Kreisamt gegen die heutigen Rekurrenten eine Untersuchung ein und stellte dabei fest, daß die vier Rekurrenten als Missionäre der Kirche "der Heiligen der letzten Tage", bekannter unter dem Namen "Mormonen", in Chur und Umgebung im Sinne der Verbreitung ihres Glaubens gewirkt hätten durch Veranstaltung von öffentlichen Versammlungen, an denen sie den vor allem daran teilnehmenden Frauen, erwachsenen Mädchen und Kindern religiöse Reden gehalten hätten, ferner durch eifriges Aufsuchen der Bewohner von Chur in ihren Behausungen, und zwar "in gewiß sehr auffälliger Weise" jeweilen zu Zeiten, da die Männer an der Arbeit und nicht zu Hause gewesen seien, sowie endlich durch Verteilung verschiedener Traktate und Schriften in notorisch zudringlicher Weise. Gestützt auf diese Feststellungen erkannte der Kreisgerichtsausschuß Chur durch Urteil vom 26. Februar 1908:
    "1. Theodor Josef Bär, Friedrich Barfuß, C. S. Vaterlaus

    BGE 34 I 254 (256):

    und G. I. Kirkam haben sich des Vergehens gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit schuldig gemacht.
    "2. Dieselben werden hiefür gemäß Pol.-Ges. § 16 mit je drei Tagen Gefängnis bestraft.
    "3. Auch haben sie je 10 Fr. Gerichtskosten zu tragen."
Diesem Urteil liegen folgende Erwägungen zu Grunde:
    "1. Es ist notorisch, daß die Anhänger des Mormonismus bisher immer die Vielweiberei gelehrt und dieselbe womöglich auch praktiziert haben. Nun kann mit Bezug auf die heutigen Angeklagten allerdings nicht mit Bestimmtheit behauptet werden, daß auch sie mit ihren Predigten die Vielweiberei lehren. Sie bestreiten dies vielmehr und weisen darauf hin, daß ihr Heimatstaat Utah durch eine Konvention mit den Vereinigten Staaten von Amerika sich zur Abschaffung der Polygamie verpflichtet habe und daß der Präsident ihrer Kirche durch eine am 6. Oktober 1900 erlassene Kundgebung, alle Mormonen aufgefordert habe, sich den diesbezüglichen Gesetzen der Vereinigten Staaten zu unterwerfen,
    "2. Durch ein gesetzliches Verbot der Vielweiberei ist aber der Glaube der Mormonen kein anderer geworden. Ihre Lehren sind (wie sich aus ihren Religionsbüchern ergibt) nach wie vor die gleichen geblieben. Daher muß auch angenommen werden, daß die Verbreiter des Mormonismus ihre Lehren in anderen Ländern verbreiten ohne Rücksicht auf die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten von Amerika.
    "3. Bis zum Beweise des Gegenteils muß daher nach wie vor angenommen werden, daß mit der Lehre des Murmonismus zugleich auch die von diesem Glauben gepriesene Vielweiberei direkt oder indirekt gepredigt wird. Eine solche Lehre gefährdet nun zweifellos die Sittlichkeit und die öffentliche Ordnung und es stellt sich daher die Tätigkeit der Angeklagten als ein Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit dar."
 
B.
Gegen das vorstehende Strafurteil haben die vier Verurteilten, von denen alle Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die drei erstaufgeführten überdies durch Abstammung auch noch Schweizerbürger sind, innert gesetzlicher Frist den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen und Aufhebung

BGE 34 I 254 (257):

des Urteils wegen Rechtsverweigerung und Verletzung der verfassungsmäßig garantierten Glaubensfreiheit beantragt. Sie bemerken zunächst, sie hätten allerdings notgedrungen  damit sie ihre in Chur deponierten Ausweisschriften zu anderweitiger Verlegung ihres Wohnsitzes hätten erheben können  die ihnen auferlegte Freiheitsstrafe bereits abgesessen, allein damit sei ihr rechtliches Interesse an der Ungültigerklärung ihrer Bestrafung nicht dahingefallen, auch sei das Kostendispositiv des Urteils noch nicht vollzogen. Sodann führen sie wesentlich aus: Eine Willkür liege schon in der Feststellung des angefochtenen Urteils, daß sie in Chur durch Predigten gewirkt hätten, insofern, als Kirkam der deutschen Sprache gar nicht und Bär ihr nur in ganz ungenügender Weise mächtig sei, wie dem Gerichtsausschuß aus dem Verhör der beiden ohne weiteres habe klar werden müssen. Willkürlich aber sei insbesondere die Argumentation, es sei "bis zum Beweise des Gegenteils" anzunehmen, daß die Lehre der Vielweiberei von ihnen direkt oder indirekt gepredigt worden sei. Eine derartige Präsumtion der Schuld eines seine Unschuld beteuernden Angeschuldigten widerspreche jeder geordneten Rechtssprechung. Überdies habe das Gericht den angebotenen Unschuldsbeweis gar nicht abgenommen, sondern sei einfach darüber hinweggeschritten. Tatsächlich enthielten die von ihnen verteilten Schriften in keiner Beziehung Lehren, die als geeignet angesehen werden könnten, die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit zu gefährden, insbesondere werde darin nicht der Vielweiberei das Wort geredet, sondern gegenteils ausdrücklich die Anerkennung der staatlichen Negierungen und der Staatsgesetze gepredigt (zu vgl. Abschnitt 134 der "Lehre und Bündnisse", und namentlich Nr. 12 der "Glaubensartikel"). Auch seien sie, die Rekurrenten, nicht etwa darauf ausgegangen, die Auswanderung aus der Schweiz zu befürworten; sie hätten vielmehr, der gegenwärtigen Tendenz ihrer Religionsgemeinschaft und erhaltener Weisung gemäß, den sich ihnen anzuschließen Geneigten geraten, in ihrem Vaterlande zu bleiben und hier zu helfen, die als gut befundene Lehre aufzubauen und zu verbreiten. Zuzugeben sei ohne weiteres, daß die Lehre der Vielweiberei die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährden würde, bestritten werde jedoch, daß eine solche  Lehre,   wenigstens  heute noch, von

BGE 34 I 254 (258):

den Angehörigen der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" irgendwie gepredigt oder auch nur geduldet werde. Die Feststellungen des bundesrätlichen Rekursentscheides in Sachen Loosli vom 7. Oktober 1887 seien durch die seitherigen Ereignisse überholt worden: verwiesen werde auf den die Polygamie endgültig verbietenden Akt des Kongresses der Vereinigten Staaten Nordamerikas vom 16. Juli 1894 über die Aufnahme des Volkes von Utah als Staat der Nordamerikanischen Union, auf eine Amnestie-Proklamation des Präsidenten der Vereinigten Staaten vom 25. September 1894, mit der Feststellung, daß nachgewiesenermaßen das Verbot der Polygamie von den Mormonen nun nicht mehr übertreten werde, sowie endlich auf den Inhalt des deutschen Organs der Mormonenkirche "Der Stern", speziell auf die in Nr. 7 seines Jahrgangs 1908 veröffentlichten "Ansichten von hervorragenden Personen über die Mormonen". Danach aber seien sie, die Rekurrenten, tatsächlich nicht deswegen bestraft worden, weil sie wirklich die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verletzt hätten, sondern einzig und allein, weil sie sich zur Glaubensansicht der Mormonen bekennten, und es involviere das angefochtene Urteil somit auch die verfassungswidrige Bestrafung eines Glaubensbekenntnisses.
 
C.
Der Kreisgerichtsausschuß Chur hat Abweisung des Rekurses beantragt. Er betont zunächst, daß die Rekurrenten die ihnen, auferlegte Strafe freiwillig, ohne hiezu durch Zurückbehaltung ihrer Ausweisschriften gezwungen worden zu sein, abgesessen und damit das Strafurteil "in bester Form" anerkannt und auf das Recht des staatsrechtlichen Rekurses hiegegen wirksam verzichtet hätten. Im weitern bemerkt er, daß die Rekurrenten für die Vielehe Propaganda gemacht hätten, gehe klar und unwiderleglich aus den von ihnen verteilten Büchern und Schriften hervor; so enthalte eine derselben, betitelt "Biblische Hinweisungen", einen ganzen Abschnitt über die Vielehe, worin diese als eine von Gott gestattete und sogar gebotene Institution gepriesen werde (S. 117 ff.). Und was den Einwand betreffe, einzelne der Rekurrenten hätten in Chur gar nicht religiöse Predigten halten können, möge allerdings richtig sein, daß Kirkam, und in ganz vermindertem Maße auch Bär, ihre Lehren in deutscher Sprache nicht ganz fließend hätten

BGE 34 I 254 (259):

vortragen können, allein diese beiden hätten doch als Handlanger ihrer der deutschen Sprache vollständig mächtigen Kollegen durch Verteilen und Verbreiten ihrer Bibeln, Schriften und Traktate eingestandenermaßen reichlich Propaganda gemacht. Schließlich hätten die Rekurrenten vor dem Kreisgerichtsausschuß selbst zugegeben, daß gegenwärtig im Territorium Utah noch viele Vielehen beständen. Wenn nun auch die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten, welche jetzt auch für Utah gelte, die Vielehe beschränkende oder verbietende Bestimmungen enthalten möge, so hätten diese weltlichen Gesetzesbestimmungen doch keinen Einfluß auf die religiösen Ansichten der Mormonen ausgeübt: diese predigten, wie die angezogene von 1901 datierte Schrift beweise, nach wie vor die Vielehe;
 
in Erwägung:
1. Da der vorliegende Rekurs die angebliche Verletzung nicht speziell staatsbürgerlicher, sondern allgemeiner verfassungsmäßiger Individualrechte zum Gegenstande hat, sind die Rekurrenten, feststehender Praxis gemäß, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, also mit Einschluß auch des Nicht-Schweizerbürgers Kirkam, zur Beschwerdeführung legitimiert. Und ihr Rekursrecht ist trotz der bereits erfolgten Verbüßung der ihnen auferlegten Freiheitsstrafen nicht als verwirkt zu erachten. Denn in ihrem Strafantritt kann eine Anerkennung der Strafe nicht erblickt werden, da ihre Angabe, daß sie hiezu gezwungen gewesen seien, um die Herausgabe ihrer zum Zwecke der Wohnsitzverlegung benötigten Ausweisschriften zu erlangen, angesichts der Zulässigkeit und notorisch allgemeinen Handhabung der Schriftenzurückhaltung zur Erzwingung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, trotz der Bestreitung des Kreisgerichtsausschusses, als mindestens glaubhaft erscheint. Dazu ist ihr Interesse an der Aufhebung des Strafurteils bei der gegebenen Sachlage offenbar nicht erschöpft, indem ja die Wirkung des Urteils mit dem Vollzug des Strafdispositivs keineswegs abgeschlossen ist, sondern  abgesehen von dem unbestrittenermaßen noch nicht vollstreckten Kostendispositiv  in der Bedeutung der Bestrafung für den bürgerlichen Leumund der Rekurrenten überhaupt, und im Hinblick auf das Strafausmessungsmoment des Rückfalls im besondern, noch fortdauert.


BGE 34 I 254 (260):

2. Das Prinzip der Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit mit seiner Folgerung, daß niemand wegen Glaubensansichten mit Strafen irgendwelcher Art belegt werden darf (Art. 49 Abs. 1 und Abs. 2 in fine VV), gewährleistet nach richtiger Auffassung (vgl. L. R. v. Salis, Die Religionsfreiheit in der Praxis, S. 34; G. Vogt, Gedrucktes Manuskript der Vorlesung über Religionsfreiheit im Wintersemester 1889/1880, S, 2; W. Burckhardt, Komm. z. BV, S. 484) die Straflosigkeit nicht nur der religiösen Überzeugungen, des Denkens und Fühlens in religiösen Dingen, sondern, implicite, auch der Äußerung dieser Überzeugungen als solcher, d.h. des den Charakter religiöser Glaubensansichten tragenden Äußerungsinhaltes. Denn der religiöse Glaube als Bestandteil des menschlichen Innenlebens kann der staatlichen Kontrolle und Maßregelung naturgemäß überhaupt nur unterstehen, soweit er geäußert wird. Allein anderseits ist die Glaubensäußerung in ihrer Erscheinungsform als menschliche Handlung notwendigerweise an die der Handlungsfreiheit des Individuums im Staate allgemein gesetzten Schranken gebunden, da ja die staatliche Garantie der Glaubensfreiheit nicht das einzige, oberste Staatsprinzip darstellt, sondern lediglich Geltung hat im Nahmen der gesamten staatlichen Rechtsordnung, neben den ihr rechtlich koordinierten anderweitigen Grundsätzen. Insbesondere ist danach die Verkündigung und Verbreitung einer Glaubenslehre zum Zwecke der Werbung neuer Anhänger  die religiöse Propaganda , gleich der unter dem Schütze der "Kultusfreiheit" (Art. 50 VV) stehenden eigentlichen Glaubensbetätigung  der "Ausübung gottesdienstlicher Handlungen" , allgemein ebenfalls nur "innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung", an welche Art. 50 Abs. 1 BV jene eigentliche Glaubensbetätigung bindet, als zulässig zu erachten, soweit sie nicht ihrer Art nach schon unter die Beschränkung der Spezial-norm des Art. 55 VV über die Freiheit der Meinungsäußerung durch die Presse fällt. (Vgl. über diesen letzten Punkt das Urteil des Bundesgerichts vom 3. Juni 1876 in Sachen Stucki, AS 2 Nr. 50 S. 192 ff., und im übrigen zur vorstehenden Verfassungsauslegung den  allerdings abweichend begründeten  Entscheid des Bundesrates vom 7. Oktober 1887 in Sachen Loosli:

BGE 34 I 254 (261):

BBl 1887 IV S. 180; Salis, Bundesrecht 3 Nr. 987, sowie Salis, Religionsfreiheit, S. 13; Burckhardt, a. a. O, S. 484 oben). Die Begriffe der "Sittlichkeit" und der "öffentlichen Ordnung" aber sind, wie Burckhardt, a. a, O. S. 507, zutreffend betont, bundesrechtlicher Natur und somit von selbständiger Bedeutung und derogatorischer Kraft gegenüber abweichenden Normen der kantonalen Rechtsordnungen. Der bundesrechtliche Begriff der "Sittlichkeit" speziell nun umfaßt nicht das den Sitten oder dem herrschenden sittlichen Empfinden entsprechende Verhalten schlechthin, sondern lediglich die als notwendige Grundlage des Staates anerkannte, d.h. die rechtlich geschützte sittliche Ordnung. Danach aber erscheint eine Glaubensäußerung, als gegen die "Sittlichkeit" verstoßend und deshalb im Sinne der erörterten Einschränkung der Garantie des Art. 49 Abs. 2 BV strafbar nur, sofern sie, speziell in Gestalt der religiösen Propaganda, eine Erscheinungsform annimmt, die als solche den allgemein dem staatlichen Strafschutz unterstellten sittlichen Grundlagen des Staates zuwiderläuft und in diesem Sinne eine strafbare Handlung involviert (vgl. Vogt, a. a. O. S. 7 Ziffer 6, ferner David Streifs, Zürcher Dissertation über die Religionsfreiheit 1895 S. 22/23, mit der von Burckhardt, a. a. O. S. 507 angebrachten Einschränkung, sowie auch Carl Stooß, in der ZschwStrR 5 1892 S. 516).
3. In Anwendung der vorstehend entwickelten Rechtsauffassung ist nun zu prüfen, ob die angefochtene, auf § 16 des bündnerischen Polizeigesetzes vom 26. Juli 1873 gestützte Bestrafung der Rekurrenten bundesverfassungsmäßig statthaft sei. Dabei ergibt sich ohne weiteres, daß diese kantonale Strafsatzung vor der Garantie des Art. 49 Abs. 2, in Verbindung mit Art. 50 Abs. 1, BV nur insoweit zu Recht bestehen kann, als sie die in allgemein strafrechtlich relevante Erscheinung tretende Propaganda für Sekten, "welche die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung gefährden", unter Strafe stellt, nicht aber, soweit sie schon die Zugehörigkeit zu einer solchen Sekte, bezw. das einfache Bekenntnis der betreffenden Glaubenslehre, um dieser Lehre an sich willen als strafbar erklären sollte. Die religiöse Propaganda kann danach, mit andern Worten, der Strafverfolgung nur ausgesetzt sein, soweit darin

BGE 34 I 254 (262):

ein Verhalten liegt, das unter eine der allgemein zum Schütze der Sittlichkeit oder der öffentlichen Ruhe aufgestellten Strafnormen, fällt. Der Bereich des strafbaren Unrechts aber umfaßt nach heutiger Gesetzgebung und Rechtsanschauung außer dem Tatbestand der strafbaren Handlungen selbst jedenfalls nur noch die Aufforderung oder Anreizung zur Begehung solcher Handlungen, also, so weit hier von Belang, eines der Vergehen gegen die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung und Ruhe. In Betracht kommt nun im vorliegenden Falle nach der gegebenen Aktenlage ausschließlich das in den schweizerischen Kantonen, wie in allen, auf der christlichen Weltanschauung begründeten Staaten, anerkannte Sittlichkeitsvergehen der mehrfachen Ehe oder Vielehe (vgl. Stooß, Grundzüge des schweiz. Strafrechts  2 S. 268 ff.). Die Bestrafung der Rekurrenten wäre somit verfassungsmäßig berechtigt, sofern die Rekurrenten, wenn auch nicht der eigenen Begehung dieses Delikts, so doch wenigstens der Aufforderung oder Anreizung Anderer hiezu überführt sein sollten (vgl. bezüglich der Preßfreiheit: AS 2 Nr. 50 Erw. 4 S. 197). Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Strafurteil des Kreisgerichtsausschusses Chur gibt, in Übereinstimmung mit dem Beschluß des bündnerischen Kleinen Rates vom 6, Dezember 1907, ausdrücklich zu, daß den Rekurrenten das direkte Predigen der Lehre der Vielweiberei nicht nachgewiesen sei, und gründet ihre Bestrafung, wie namentlich auch aus der Rekursbeantwortung des Kreisgerichtsausschusses hervorgeht, lediglich auf das Argument, daß jene Lehre in den von ihnen zu Propagandazwecken verbreiteten Büchern und Schriften enthalten sei. Es fragt sich somit nur, ob in der Verbreitung dieser Drucksachen zufolge ihres Inhaltes eine strafbare Aufforderung oder Anreizung zum Vergehen der Vielehe liege. Dies aber kann nach den vorliegenden Akten nicht bejaht werden. Wohl enthalten die von der deutschen Mission der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" zum Gebrauche der Missionare und solcher, welche die heiligen Schriften studieren, im Jahre 1901 herausgegebenen "Biblischen Hinweisungen" unter dem Abschnitt "Patriarchalische Ehe" (S. 116 ff,) eine Vereinigung von Stellen des alten Testamentes zur Substanziierung folgender, dem Abschnitt vorgedruckter "Notiz": "Die Überlieferungen und Vorurteile von "Jahrhunderten, die von

BGE 34 I 254 (263):

Menschen gemachten Bekenntnisse des Tages und die Gesetze aller Nationen, welche sich zum Christentum bekennen, vereinigt, schärfen die Idee ein, daß es sündhaft sei für einen Mann, unter irgend welchen Verhältnissen zu gleicher Zeit mehr als eine lebende und ungeschiedene Frau zu haben. Eine sorgfältige Durchgehung der heiligen Schrift wird aber die Tatsache offenbaren, daß die Vielehe, die jetzt als so abscheulich betrachtet wird, in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz ist, welches den alten Israeliten gegeben wurde. Daß es mit der Zustimmung und dem Segen Gottes von vielen der besten und bevorzugtesten Männer, von welchen die Bibel Ermahnung macht, ausgeübt wurde, und daß, das Prinzip niemals eine göttliche Verurteilung erhielt."  Ebenso finden sich auch im "Buch der Lehre und Bündnisse" der Mormonenkirche Angaben über die göttliche Rechtfertigung der Vielehe (S. 473 f.). Daraus geht hervor, daß die religiöse Sekte der Mormonen, ihrem allgemeinen Grundsätze des unmittelbaren Bibelglaubens entsprechend, im Sinne des alten Testaments speziell auch die mehrfache Ehe als vor Gott zulässige und ihm unter Umständen sogar wohlgefällige Institution betrachtet, die denn auch notori-schenveise in dem von der Sekte gegründeten Staate Utah vielfach praktisch verwirklicht wurde. Allein anderseits ist im Anhang zum "Buch der Lehre und Bündnisse", Abschnitt (134): "Über Regierungen und Gesetze im allgemeinen" die staatliche Rechtsordnung ausdrücklich anerkannt, soweit sie wenigstens nicht die Gewissensfreiheit durch Vorschreibung von Kultusbestimmungen beschränke (Ziffer 4) und die Bürger nicht der freien Ausübung ihres religiösen Glaubens beraube oder sie in ihren Meinungen beschränke, "solange als den Gesetzen des Landes Achtung und "Aufmerksamkeit gezeigt wird und solche religiöse Meinungen Aufruhr und Empörung nicht rechtfertigen" (Ziffer 7)  also unter Vorbehalten, welche nicht über die in Rede stehenden Garantien des schweizerischen Verfassungsrechts hinausgehen. Und wohl im gleichen Sinne enthalten die in den "Biblischen Hinweisungen" sowohl, als auch in mehreren der in Chur verteilten Traktate und in der deutschen Halbmonatsschrift der Sekte ("Der Stern"), Jahrgang 1908 S. 3 f. abgedruckten "Glaubensartikel der Kirche

BGE 34 I 254 (264):

Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" u. a, das Bekenntnis (Ziffer 11 und 12): "Wir legen Anspruch auf das Recht, den Allmächtigen Gott zu verehren nach dm Eingebungen unseres Gewissens, und gestatten allen Menschen dasselbe Recht, mögen sie verehren wie, wo oder was sie wollen.  Wir glauben daran, Königen, Präsidenten, Herrschern und Magistraten untertänig zu sein und den Gesetzen zu gehorchen, sie zu ehren und zu unterstützen." In der Verbreitung dieser Glaubenslehre in ihrem ganzen Zusammenhange kann nun aber auch nur eine Anreizung zu der als rechtswidrig anerkannten Betätigung der Vielehe, also eine direkt strafbare Handlung, schlechterdings nicht gefunden werden. Denn die Mormonen ordnen danach ihre  in der Rekursschrift allerdings zu Unrecht völlig in Abrede gestellte  religiöse Auffassung von der Zulässigkeit oder sogar Wünschbarkeit mehrfacher Ehe in unzweideutiger Weise dem ihr entgegenstehenden Staatsgesetze unter. Als zweifelhaft könnte es höchstens erscheinen, ob die fragliche Lehre nicht anreize zur Auswanderung nach einem die Vielehe duldenden Staate und damit zur Umgehung der schweizerischen Rechtsordnung, die deren direkter Verletzung gleichzuhalten wäre. Doch bestehen vorliegend auch für diese Befürchtung keine genügenden Anhaltspunkte. Denn die Rekurrenten erklären ausdrücklich, daß sie, der gegenwärtigen Tendenz ihrer Religionsgemeinschaft und erhaltener Weisung gemäß, ihren Anhängern zum Verbleiben in der Heimat rieten. Und diese Behauptung erweist sich als mindestens nicht unglaubhaft, angesichts des Umstandes, daß in den namentlich von Mormonen bewohnten und durch Einwanderung bevölkerten einzelnen Staaten der nordamerikanischen Union, speziell im Staate Utah, gegenwärtig, insbesondere seit der 1894 erfolgten Aufnahme des Territoriums Utah als vollberechtigten Gliedstaates der Union, gegen die früher wenigstens tatsächlich geduldete Vielweiberei im Sinne der amerikanischen Gesetzgebung ebenfalls strafrechtlich eingeschritten wird. Unter solchen Umständen aber kann das Argument der Auswanderungsgefahr, auf welches der Bundesrat in seinem die Bestrafung der Mormonenpropaganda schützenden Rekursentscheide in Sachen Loosli vom 7. Oktober 1887 (BBl 1887 IV S.175 ff. spez. 181 f.; Salis, Bundesrecht 3 Nr. 991) haupt

BGE 34 I 254 (265):

sächlich abgestellt hat, heute nicht  mehr entscheidend ins Gewicht fallen.
 
erkannt:
Der Rekurs wird gutgeheißen und das Urteil des Kreisgerichtsausschusses Chur vom 26. Februar 1908 aufgehoben.