BVerfGE 110, 177 - Freizügigkeit von Spätaussiedlern


BVerfGE 110, 177 (177):

1. Art. 11 Abs. 2 GG ermöglicht dem Gesetzgeber, das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG zu beschränken, wenn unterstützungsbedürftige Personen in anhaltend großer Zahl in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und Bund, Ländern und Gemeinden daraus erhebliche Lasten der Unterbringung, Unterstützung und Eingliederung erwachsen.
2. Es ist mit Art. 11 Abs. 1 GG vereinbar, dass Spätaussiedler, die an einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Ort ständigen Aufenthalt nehmen, grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz erhalten (§ 3a Wohnortzuweisungsgesetz).
 


BVerfGE 110, 177 (178):

Urteil
des Ersten Senats vom 17. März 2004 auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 5. November 2003
-- 1 BvR 1266/00 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde I. der Frau M..., II. des Herrn M... -- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. F.A. Dombrowski, Am Knüppelbrink 1--3, 31137 Hildesheim -- 1. unmittelbar gegen a) den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. Juni 2000 -- 4 L 1576/00 --, b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 4. April 2000 -- 15 A 2867/99 --, 2. mittelbar gegen § 3 a Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler vom 6. Juli 1989 (BGBl. I S. 1378) in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 26. Februar 1996 (BGBl. I S. 223).
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
 
Gründe:
 
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die gesetzliche Regelung, nach der Spätaussiedler, die an einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Ort ständigen Aufenthalt nehmen, grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz erhalten.
I.
1. Spätaussiedler sind nach § 4 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz -- BVFG) vom 19. Mai 1953 (BGBl. I S. 201) in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz -- KfbG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2094) deutsche Volkszugehörige, die nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren angestammten Siedlungsgebieten in Osteuropa oder aber in jenen Gebieten, in die sie von dort aus vertrieben worden waren, blieben oder die dort vor dem 1. Januar 1993 geboren sind. Allerdings sind nur die deutschen Volkszugehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion einschließlich des Baltikums ohne weiteres Spätaussiedler. Bei ihnen wird ein fortbestehender Verfolgungsdruck

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vermutet. Deutsche Volkszugehörige aus anderen Gebieten müssen dagegen eine individuelle Verfolgung auf Grund ihres Volkstums nachweisen. Wer deutscher Volkszugehöriger ist, regelt im Einzelnen § 6 BVFG. Spätaussiedler -- bis 1992 Aussiedler genannt -- haben nach Durchlaufen eines Aufnahmeverfahrens (§§ 26 ff. BVFG) einen Anspruch auf Einreise nach Deutschland. Dies gilt auch für ihre Ehegatten und Abkömmlinge. Die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten sie mit der Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 und 2 BVFG (§ 7 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes i.d.F. des Gesetzes vom 15. Juli 1999 [BGBl. I S. 1618]).
2. Bis in die 1980er Jahre wanderten jährlich etwa 40.000 Aussiedler nach Deutschland ein. Sie wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die Länder verteilt ("Königsteiner Schlüssel"; vgl. heute § 8 Abs. 3 BVFG). Eine Rechtspflicht, dieser Verteilung zu folgen, bestand nicht. Nach der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" stieg die Zahl der einreisenden Aussiedler ganz erheblich an (vgl. Dietz/Roll, Integration als Herausforderung -- Junge Aussiedler in Deutschland, in: Khuen-Belasi, Ankunft einer Generation, 2003, S. 9 [10 f.]). Hinzu kamen Übersiedler aus der Deutschen Demokratischen Republik. Der Zustrom führte seit Sommer 1988 zu erheblichen Engpässen bei der Erstunterbringung und der Wohnraumversorgung. Ein Grund hierfür war, dass die Zuwanderer verstärkt in bestimmte Städte zogen, während vor allem im ländlichen Raum noch genügend Unterbringungsmöglichkeiten bestanden (vgl. BTDrucks 11/4689, S. 4). Die Entwicklung der Zuzugszahlen zeigt die auf S. 180 abgedruckte Grafik (vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1996, Tab. 3. 40 [S. 85] und 2003, Tab. 3. 39 [S. 80]).
Der Gesetzgeber reagierte auf diese Situation mit dem Erlass des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler vom 6. Juli 1989 (BGBl. I S. 1378; im Folgenden: Wohnortzuweisungsgesetz -- WoZuG). Das Gesetz dient -- bis heute unverändert -- dem Ziel, im Interesse der Schaffung einer ausreichenden Lebensgrundlage den Aussiedlern in der ersten Zeit nach ihrer Aufnahme in der Bundesrepublik zunächst die notwendige Fürsorge einschließlich vorläufiger Unterkunft zu gewährleisten

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[Von der Aufnahme der Grafik an dieser Stelle wurde abgesehen.] und zugleich der Überlastung einzelner Gemeinden innerhalb der Länder durch eine angemessene Verteilung entgegenzuwirken (§ 1). Nach § 2 WoZuG konnten die Aussiedler einem bestimmten Wohnort zugewiesen werden, wenn sie nicht über ausreichenden Wohnraum verfügten und daher bei der Unterbringung auf öffentliche Hilfe angewiesen waren (§ 2 Abs. 1 Satz 1 WoZuG). Bei der Entscheidung über die Zuweisung sollten ihre Wünsche, enge verwandtschaftliche Beziehungen sowie die Möglichkeit ihrer beruflichen Eingliederung berücksichtigt werden (§ 2 Abs. 2 WoZuG). Nach § 4 Satz 1 Nr. 1 WoZuG konnten die Landesregierungen einen Schlüssel für die Zuweisung der Aussiedler innerhalb des Landes in Gemeinden und Kreise festlegen. Entschied sich der Aussiedler für einen Wohnsitz abweichend von der Zuweisung, war die Gemeinde nicht verpflichtet, den Aufgenommenen als Aussiedler zu betreuen. Leistungsansprüche der Betroffenen sollte das Wohnortzuweisungsgesetz unberührt lassen (vgl. BTDrucks 11/4689, S. 6). Gegenstandslos wurde die Zuweisung nach § 2 Abs. 4 WoZuG, wenn der Aufgenommene nachwies, dass ihm an einem anderen Ort dauerhaft ausreichender Wohnraum oder ein Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz zur Verfügung stand. Nach dieser ursprünglichen Gesetzesfassung endete die Zuweisung spätestens nach zwei Jahren.


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3. Nach 1989 stieg der Zuzug weiter an, 1990 bis auf 400.000 Menschen. Die Praxis der Zuweisung entfaltete weit weniger Wirkung als erhofft (vgl. Feige, BWVP 1996, S. 249 [252 f.]). Viele Spätaussiedler verließen innerhalb des Zuweisungszeitraums den Zuweisungsort und zogen in andere Städte und Regionen. In manchen Gemeinden stellten sie bis zu 20 vom Hundert der Bevölkerung (vgl. Klose, Bevölkerungsentwicklung und Einwanderungspolitik, in: Integration und Konflikt, Nr. 69 des Gesprächskreises Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1996, S. 14). Offenbar wollten die Spätaussiedler in Gemeinschaft mit Verwandten oder anderen Aussiedlern leben (vgl. BTDrucks 11/4689, S. 4). Auch die unterschiedliche Arbeitsmarktlage war in vielen Fällen ein Umzugsgrund. Am neuen Wohnort konnten die bedürftigen Aussiedler die Gewährung von Sozialhilfe beantragen und sich damit selbst Wohnraum beschaffen.
Die Kommunen mit überproportionalem Zuzug hatten vor allem hohe Sozialhilfelasten zu tragen. Die Bundesregierung schlug als Entlastung einen zwischengemeindlichen Erstattungsanspruch zur gleichmäßigen Verteilung der Sozialhilfekosten vor (vgl. BTDrucks 13/3102, S. 3). Der Bundesrat wollte dagegen Spätaussiedler und ihre Angehörigen durch eine Einschränkung bei der Gewährung von Sozialhilfe tatsächlich an den Zuweisungsort binden, um die gesamte "infrastrukturelle Eingliederungslast" gleichmäßig zu verteilen (vgl. BTDrucks 13/3102, S. 6), die "Integration und Akzeptanz der Spätaussiedler" zu erhalten (vgl. BTDrucks 13/8850, S. 3; vgl. auch schon BTDrucks 11/4689, S. 4 f.), die geschaffenen Aufnahmekapazitäten auszulasten und der Tendenz der Bevölkerungsabnahme entgegenzuwirken (vgl. BTDrucks 13/3102, S. 6). Obwohl die Bundesregierung im Hinblick auf Art. 11 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen Vorschlag äußerte (vgl. BTDrucks, a.a.O., S. 5), wurde schließlich durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 26. Februar 1996 (BGBl. I S. 223; im Folgenden: WoZuG 1996) ein § 3 a in das Wohnortzuweisungsgesetz eingefügt. Nach dessen Absatz 1 erhält ein Spätaussiedler oder Familienangehöriger (vgl. § 1 Abs. 2 WoZuG 1996), der abweichend von

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der Verteilung nach § 8 BVFG oder entgegen einer landesinternen Zuweisung nach § 2 Abs. 1 WoZuG 1996 in einem anderen Land oder an einem anderen als dem zugewiesenen Ort ständigen Aufenthalt nimmt, an diesem Ort keine Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und in der Regel nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz. Ein vorläufiger Wohnort wird zugewiesen, wenn der Spätaussiedler nicht über einen Arbeitsplatz oder ein sonstiges den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen verfügt und daher auf öffentliche Hilfe angewiesen ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 WoZuG 1996). In § 3 b WoZuG 1996 ist die Kostenerstattung bei Gewährung von Sozialhilfe geregelt. Im Übrigen hat der Gesetzgeber an seinen 1989 getroffenen Regelungen im Wesentlichen festgehalten.
4. Seit 1996 haben mit Ausnahme von Bayern und Rheinland-Pfalz (vgl. BTDrucks 15/2262, S. 22, Fn. 20) alle Länder landesinterne Verteilungsquoten eingeführt. Das Land Niedersachsen, auf das die Beschwerdeführer verteilt wurden, weist die Spätaussiedler nach der Verordnung vom 7. März 1997 (GVBl S. 65) den Gemeinden zu. Maßstab hierfür sind allein die Einwohnerzahlen und die bisherige -- über- oder unterproportionale -- Aufnahme, nicht aber persönliche Umstände der Spätaussiedler. Eine rechtliche Möglichkeit der Abänderung einer noch andauernden Zuweisung sehen weder das Wohnortzuweisungsgesetz noch die niedersächsische Verordnung vor. Die Rechtslage in anderen Ländern ist ähnlich.
5. Die Zuweisung, die ursprünglich für zwei Jahre gültig war, galt seit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3222) -- unter Einschluss der schon bestehenden Zuweisungen -- unbefristet (vgl. BTDrucks 13/8850, S. 3). Erst das Vierte Änderungsgesetz vom 2. Juni 2000 (BGBl. I S. 775) begrenzte die Bindungsdauer wieder, und zwar auf drei Jahre (Art. 1 Nr. 1). Außerdem eröffnete es den Spätaussiedlern die Möglichkeit, zur Arbeitssuche für bis zu 30 Tage ohne sozialhilferechtliche Nachteile einen anderen Wohnort zu nehmen (§ 3 a Abs. 2 Satz 3 WoZuG i.d.F. von Art. 1 Nr. 2 des Vierten Änderungsgesetzes). Die Geltungsdauer des Wohnortzuweisungsgesetzes, die ursprüng

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lich auf zwei Jahre begrenzt und zwischenzeitlich mehrfach verlängert worden war, wurde ausgedehnt. Das Gesetz tritt nunmehr am 31. Dezember 2009 außer Kraft (Art. 2 Satz 2).
II.
Die Beschwerdeführer -- Mutter und Sohn -- sind Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie reisten im Dezember 1996 nach Deutschland ein und wurden im Grenzdurchgangslager dem Land Niedersachsen und weiter der Stadt E. zugewiesen. Der Zuweisungsbescheid wurde bestandskräftig. In E. bezogen sie laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Beschwerdeführerin fand in der etwa 20km entfernten, demselben Landkreis und Sozialhilfeträger angehörenden Stadt H. eine Teilzeitbeschäftigung. Dort wohnte ihre Mutter. Der Beschwerdeführer besuchte in H. die Schule. Zum 2. Mai 1998 zogen die Beschwerdeführer dorthin. Den Umzug finanzierte die Stadt E. und zahlte auch noch für einige Monate Sozialhilfe. Die Stadt H. weigerte sich, anschließend Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen und verwies auf die Zuweisung der Beschwerdeführer in die Stadt E. Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Stadt H. im Eilverfahren zu Leistungen bis November 1998, weil sechs Monate für eine Wohnungssuche am Zuweisungsort und einen Rückumzug nötig seien. Dieser Verpflichtung kam die Stadt H. nach. Leistungen nach diesem Zeitraum gewährte sie nicht mehr. Die dagegen gerichtete Klage blieb im Ausgangsverfahren erfolglos. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht teilten in den angegriffenen Entscheidungen nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beschwerdeführer. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich die rechtlich angegriffene Freizügigkeitseinschränkung nicht aus § 3 a WoZuG, sondern allein aus der Zuweisung. Diese sei aber bestandskräftig.
Auf Grund eines gerichtlichen Hinweises beantragten die Beschwerdeführer bei der für die Zuweisung zuständigen niedersächsischen Stelle eine Abänderung ihrer Zuweisung von E. nach H. Dies wurde durch formloses Schreiben ohne Rechtsbehelfsbelehrung abgelehnt. Eine derartige Umverteilung sei gesetzlich nicht vorgesehen. Gerichtliche Schritte dagegen unternahmen die Beschwerdeführer nicht.


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Die Beschwerdeführer mussten nach Einstellung der Sozialhilfe ihre Wohnung in H. aufgeben. Verbindlichkeiten aus dem Mietverhältnis und der Räumung tragen sie nach eigenen unwidersprochenen Angaben noch ab. Insgesamt unterlagen die Beschwerdeführer bis zum In-Kraft-Treten des Vierten Änderungsgesetzes am 1. Juli 2000, also drei Jahre und sieben Monate, der Zuweisung.
III.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit und des Gleichheitssatzes. Die Sozialhilfebeschränkung wirke faktisch wie ein Umzugsverbot. Die gesetzliche Grundlage sei nicht durch Art. 11 Abs. 2 GG gedeckt, weil der Gesetzgeber alle Freizügigkeitsbeschränkungen aus wohnungszwangswirtschaftlichen und fiskalischen Erwägungen abgeschafft habe. Die für § 3 a WoZuG genannten Gründe seien rein fiskalischer Natur. Die Normziele hätten durch die weniger einschneidende Maßnahme eines interkommunalen Erstattungsverfahrens erreicht werden können. Das sei auch ursprünglich vorgesehen gewesen. Die jetzige Regelung erschwere die Integration. So lasse sich bei einer Zuweisung in einen strukturschwachen Ort Arbeit nicht finden. Die Arbeitssuche an anderen Orten werde behindert. Ein Einstieg in den Arbeitsmarkt mit Hilfe einer Teilzeitbeschäftigung sei unmöglich, weil eine Beendigung der Zuweisung nach § 2 Abs. 4 WoZuG eine Vollzeitstelle voraussetze. Weiterhin seien die Spätaussiedler gegenüber anderen vom Ausland einreisenden oder in Deutschland ihren Wohnort wechselnden deutschen Sozialhilfeempfängern benachteiligt. Dies sei nicht gerechtfertigt, da auch Spätaussiedler Deutsche seien.
IV.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium des Innern und die meisten Landesregierungen Stellung genommen.
1. Die Bundesregierung, die aktuelle Zahlen über die Spätaussiedler, die Zuweisungen sowie über die regionale Herkunft der Spätaussiedler und ihre deutsche Volkszugehörigkeit mitgeteilt hat (vgl. jetzt Migrationsbericht 2003, BTDrucks 15/2262, S. 19 ff.), hält

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die angegriffene Regelung für verfassungsgemäß. Sie beeinträchtige nicht den Schutzbereich des Grundrechts der Freizügigkeit. Art. 11 Abs. 1 GG gewähre keine Leistungsansprüche, die eine Inanspruchnahme des Grundrechts erst ermöglichen sollten. Auch ein mittelbarer Eingriff liege nicht vor, weil ein Spätaussiedler trotz der Versagung von Sozialleistungen umziehen könne. In jedem Falle sei ein etwaiger Eingriff gerechtfertigt. Wenn sich Spätaussiedler in bestimmten Gegenden in größerer Zahl niederließen, belaste dies einzelne Kommunen überproportional mit Kosten für Sozialhilfe und Eingliederung. Außerdem fördere die Zuweisung die Integration. Zögen die Spätaussiedler weiterhin in Siedlungsschwerpunkten zusammen, sinke der Anreiz, Deutsch zu lernen; die Eingliederung in den Arbeitsmarkt werde erschwert. Das Sozialstaatsprinzip sei nicht verletzt, da ein weggezogener Spätaussiedler in jedem Fall die unabweisbar nötige Hilfe erhalte.
2. Die Länder berichten, seit der Einführung der Sozialhilfebeschränkung habe es nur noch wenige zuweisungswidrige Umzüge gegeben. In den meisten Fällen kehrten die Spätaussiedler nach Aufklärung über die Rechtslage an den Zuweisungsort zurück. Manches Mal ließen sie sich bis zum Ablauf der Bindung der Zuweisung von ihren Familien unterhalten. Erstattungsverfahren nach § 3 b WoZuG habe es nur vereinzelt gegeben. Die Regelungen des Wohnortzuweisungsgesetzes würden von den Spätaussiedlern akzeptiert. Wie viele Spätaussiedler durch Arbeitsaufnahme vorzeitig von der Zuweisung frei würden, sei nicht bekannt.
Die westdeutschen Bundesländer halten die Zuweisung für notwendig. Sie meinen, das Gesetz habe seine Ziele erreicht. Die Gemeinden könnten wegen der festen Zuweisungszahlen ihre infrastrukturellen Maßnahmen und Integrationsangebote besser planen. Die Kosten hierfür verteilten sich ebenso gleichmäßig wie die Sozialhilfelasten. Niedersachsen hat vorgetragen, eine erfolgreiche Integration setze auch die Nachbarschaft zu Haushalten voraus, die nicht bereits selbst durch eine einseitige Sozialstruktur in ihrer Integrationsfähigkeit beeinträchtigt seien. Bremen verweist darauf, dass durch eine zu hohe Verdichtung von Zuwanderern in bestimmten Stadtteilen wichtige Integrationsorte, wie Kindertagesstätten, Schu

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len und Begegnungsstätten, überproportional von den Zuwanderern genutzt würden. Dies fördere die Integration nicht. Nach Auffassung von Schleswig-Holstein senkt das Zusammenleben vieler Spätaussiedler generell die Notwendigkeit, Deutsch zu sprechen und Kontakte außerhalb der eigenen Gruppe aufzubauen. Nur berufstätige Spätaussiedler hätten eigene sprachliche und kulturelle Kontakte zu Einheimischen. Ein Erstattungssystem reiche zum Ausgleich der unterschiedlichen finanziellen Belastung nicht aus. Es wäre verwaltungsaufwändig, müsste länderübergreifend durchgeführt werden und würde zu einem Finanzausgleich von besonders finanzschwachen in weniger schwache Länder führen.
Mehrere ostdeutsche Länder berichten, dass viele Spätaussiedler unmittelbar nach Ablauf der Bindungsfrist in den Westen zögen, weil dort ihre Verwandten lebten und die Arbeitssuche leichter sei. Thüringen meint, die Zuweisung erschwere die Integration. Diese setze den Willen und das persönliche Engagement der Spätaussiedler voraus. Da viele aber von Anfang an auf den Ablauf der Bindungsfrist warteten, wollten sie sich am Zuweisungsort nicht integrieren. Sie verzichteten teilweise auf eigenen Wohnraum und zögen es vor, die drei Jahre im Übergangswohnheim zu bleiben. Eine Getto-Bildung werde nicht wirklich verhindert. In rechtlicher Hinsicht trägt Mecklenburg-Vorpommern vor, Art. 3 Abs. 1 GG sei deshalb nicht verletzt, weil die Spätaussiedler eine ungleich größere Gruppe darstellten als andere einreisende deutsche Sozialhilfeempfänger und einen höheren Integrationsaufwand verursachten.
V.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung mehrere sachverständige Auskunftspersonen angehört.
1. Nach Einschätzung des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten schützt eine gleichmäßige Verteilung von Spätaussiedlern den sozialen Frieden in den Gemeinden. Siedlungsschwerpunkte der Spätaussiedler hätten sich vor 1996 überwiegend in strukturschwachen Regionen gebildet. Nach der jüngsten Volkszählung in Russland lebten dort noch etwa 570.000 Aussiedlungsberechtigte.


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2. Der Deutsche Städtetag hat mitgeteilt, seit 1997 hätten sich keine neuen Siedlungsschwerpunkte der Spätaussiedler gebildet. Viele Spätaussiedler blieben auch nach der Bindungsfrist am Zuweisungsort. Die früher entstandenen Schwerpunkte bestünden allerdings weiter. Für die Gemeinden sei eine verlässliche Zahl der zu erwartenden Spätaussiedler wichtig zur Planung ihrer Infrastruktur, vor allem ihrer Schulen und Kindertagesstätten. Einige Gemeinden böten außerdem freiwillige Integrationsmaßnahmen an, zum Beispiel weitere Sprachkurse im Anschluss an den aus Bundesmitteln finanzierten sechsmonatigen Kurs, um die integrativen Belastungen zu mildern. Es bestünden auch soziale Lasten. So verursache ein überproportionaler Zuzug von Spätaussiedlern bei der eingesessenen Bevölkerung Gefühle der Bedrohung.
3. Nach Einschätzung des Vorsitzenden des Vorstandes der Konferenz für Aussiedlerseelsorge der Evangelischen Kirche in Deutschland wüssten viele Spätaussiedler bei der Einreise nicht um die sozialrechtlichen Folgen einer Wohnortbegründung, die abweichend von der Zuweisung erfolge. Sie kämen aus einem anderen Kulturkreis und hätten mit dem Staat des Herkunftslandes andere Erfahrungen als in Deutschland gemacht. Die Individualität der Zuwanderer sei schwach ausgeprägt, sozialer Bezugspunkt seien Großfamilie, Glaubens- oder Dorfgemeinschaft. Wenn die Spätaussiedler nicht zu ihren schon aufgenommenen Verwandten ziehen dürften, zerplatzten ihre Zukunftsvorstellungen. Sie seien entsetzt, dass es auch in Deutschland Maßnahmen der Verteilung und Zuweisung gebe. Vor allem die älteren Spätaussiedler fühlten sich an die Zeit ihrer Vertreibung erinnert. Die Gründe der Zuweisung sähen sie allenfalls abstrakt ein. Sie verstünden nicht, warum ihre vermeintlich guten Gründe für den Wunsch, zu Verwandten zu ziehen, nicht akzeptiert würden, wenn die Quote erschöpft sei. Sie wehrten sich allerdings nicht, gingen vielmehr davon aus, im Landesaufnahmelager oder am Zuweisungsort noch etwas erreichen zu können. Der in der Zuweisung liegende Zwang behindere die Integration. Das lähmende Warten auf den Abschluss des Aufnahmeverfahrens über fünf bis sechs Jahren werde um drei Jahre verlängert. Es komme zu Erstarrungserscheinungen. Man warte nur das Ende der Bindung ab,

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um den Wohnsitz zu wechseln. Integrieren wolle man sich am ungeliebten Zuweisungsort nicht.
4. Nach Auffassung von Frau Dr. Barbara Dietz (Osteuropa-Institut München) hat die Zuweisung keinen signifikanten Einfluss auf die arbeitsmarktliche Integration. Ob die Spätaussiedler einen Arbeitsplatz fänden, hänge von der Arbeitsmarktlage am Zuweisungsort ab. Die Zuweisung behindere aber den Zugang zu den Netzwerken anderer Spätaussiedler und Familienangehöriger. Eine Einbindung in solche Netzwerke erleichtere einerseits Eingliederung, Wohnraumbeschaffung und Arbeitssuche, andererseits fördere sie die Segmentierung. Allenfalls eine der sozialpolitischen Zielrichtungen der Zuweisung lasse sich bestätigen: Eine überproportionale Zuwanderung führe zu Beschwerden der Alteingesessenen. Einflüsse der Zuweisung auf den Spracherwerb seien nicht feststellbar; unabhängig vom Wohnort sprächen die Familien über lange Zeit russisch.
 
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
I.
Den Beschwerdeführern fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis (vgl. hierzu BVerfGE 81, 138 [140]). Zwar sind sie inzwischen nicht mehr an die Zuweisung gebunden. Sie werden aber noch immer durch Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit ihrem zuweisungswidrigen Umzug belastet. Wäre ihre Verfassungsbeschwerde erfolgreich, könnten sie nachträglich die ihnen verweigerte Sozialhilfe verlangen. Zwar kann nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte Sozialhilfe nach § 5 BSHG nicht rückwirkend bewilligt werden (vgl. BVerwGE 40, 343 [346]). Von diesem Grundsatz besteht jedoch eine Ausnahme, wenn zu Unrecht verweigerte Sozialhilfe in einem Rechtsbehelfsverfahren erstritten werden muss (vgl. BVerwGE 57, 237 [238 f.]).
II.
Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht am Subsidiaritätsgrundsatz. Den Beschwerdeführern kann nicht

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entgegengehalten werden, sie hätten es versäumt, vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung zu verhindern oder zumindest zu korrigieren (vgl. BVerfGE 73, 322 [325]; 77, 381 [401]). Zwar haben sie nur gegen die Ablehnung der Sozialhilfe durch die Stadt H. die Verwaltungsgerichte angerufen. Sie haben dagegen keinen fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen die der Ablehnung der Sozialhilfe vorausgegangene Zuweisung und gegen die Entscheidung über ihren Antrag auf Abänderung der Zuweisung gesucht. Die Beschreitung des Rechtswegs gegen diese Verwaltungsentscheidungen konnte von ihnen jedoch in ihrer konkreten Lebenssituation nicht verlangt werden (vgl. BVerfGE 79, 1 [23 f.]; 99, 202 [211]).
1. Im Zeitpunkt der Aufnahme befanden sich die Beschwerdeführer in einem für sie unbekannten Land. Sie sprachen kaum Deutsch. Während ihres Aufenthalts im Grenzdurchgangslager hatten sie keine Möglichkeit, sich rechtlich beraten zu lassen. Über die rechtliche Bedeutung der Zuweisung und die Folgen einer abweichenden Wohnsitzwahl wurden sie nicht unterrichtet. Auf Grund der Erfahrungen, die die Beschwerdeführer mit ihrem Herkunftsland gemacht hatten, konnten sie auch nicht ausschließen, dass die Einlegung von Rechtsbehelfen ihnen Nachteile bringen könnte. Ihre persönliche Situation war auch noch nicht überschaubar. Sie kannten ihre Zuweisungsgemeinde nicht. Außerdem hatten sie im Zeitpunkt der Zuweisung noch keinen Anlass, einen Umzug zu erwägen.
2. Unter den besonderen Umständen des konkreten Falles kann den Beschwerdeführern nicht entgegengehalten werden, dass sie gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Abänderung der Zuweisung den Rechtsweg nicht beschritten haben. Die zuständige Behörde hat in ihrem Ablehnungsschreiben, dem eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt war, klargestellt, für eine solche Abänderung sei aus ihrer Sicht keine Rechtsgrundlage vorhanden. Dem war nur schwer entgegenzutreten. Eine spezielle Regelung für eine Abänderung der Zuweisung existierte zu keinem Zeitpunkt. Ob eine Abänderung nach § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (NVwVfG) in Verbindung mit § 51 Abs. 1 des Verwaltungsver

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fahrensgesetzes (VwVfG) zu erreichen war, erschien zumindest zweifelhaft. Das Verhältnis dieser Vorschrift zum Wohnortzuweisungsgesetz ist ungeklärt. Offen ist auch, ob im Hinblick auf § 2 Abs. 4 WoZuG die Umzugsgründe der Beschwerdeführer -- Teilzeitbeschäftigung der Beschwerdeführerin, Schulbesuch des Beschwerdeführers und verwandtschaftliche Bindungen -- hätten ausreichen können, eine Abänderung der Zuweisung durchzusetzen. Die §§ 48, 49 VwVfG sind, sofern man sie nach § 1 Abs. 1 NVwVfG zur Anwendung bringt, als Ermessensnormen ausgestaltet und begründen regelmäßig keinen Rechtsanspruch auf Rücknahme oder Widerruf der Zuweisungsverfügung. Zumindest die praktische Aussichtslosigkeit des Umverteilungsantrags ist auch durch die Auskunft der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden, wonach es zwar in gewissem Umfang Umverteilungen zwischen verschiedenen Ländern gibt, landesinterne Umverteilungen aber nicht bekannt sind. Das Grenzdurchgangslager erlasse, wenn es Umverteilungsanträge ablehne, keine rechtsmittelfähigen Bescheide. Unter diesen besonderen Umständen war der Verzicht auf die Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs nachvollziehbar.
Die Entscheidung zu B II 2 ist mit 7:1 Stimmen ergangen.
 
C.
I.
a) Der sachliche Schutzbereich ist berührt. Freizügigkeit im Sinne von Art. 11 Abs. 1 GG umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnung zu nehmen (vgl.

BVerfGE 110, 177 (191):

BVerfGE 2, 266 [273]; 80, 137 [150]). Hierzu gehören die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme (vgl. BVerfGE 2, 266 [273]; 43, 203 [211]) und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde. § 2 Abs. 1 und der hier angegriffene § 3 a WoZuG 1996 betreffen die Wohnsitzbegründung in einem Land sowie in einer Gemeinde dieses Landes im Anschluss an eine Einreise nach Deutschland.
aa) Das Wohnortzuweisungsgesetz hindert die Beschwerdeführer zwar nicht unmittelbar an der Wahl eines anderen Wohnortes als des zugewiesenen. Es knüpft an eine solche Wahl nur eine sozialrechtlich nachteilige Rechtsfolge. Grundrechte können aber auch durch mittelbare Maßnahmen beeinträchtigt sein. Das Grundgesetz bindet den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs oder gibt diesen inhaltlich vor. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 105, 279 [300 f.]). Solche Maßnahmen können in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen und müssen dann wie dieser behandelt werden (vgl. BVerfGE 105, 252 [273]).
bb) Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die angegriffene Regelung schließt regelmäßig die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt aus, falls der Spätaussiedler seinen Wohnort abweichend von der Zuweisung wählt. Die Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz sind dann auf die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe beschränkt. Die Regelung knüpft damit für Sozialhilfebezieher an die Ausübung des Grundrechts der Freizügigkeit einen wirtschaftlich spürbaren Nachteil, um damit den Inhaber des Grundrechts an den Zuweisungsort zu binden. Darin liegt eine mittelbare zielgerichtete Beeinträchtigung des Grundrechts, deren Verfassungsmäßigkeit an Art. 11 Abs. 1 GG zu messen ist (vgl. auch Pernice, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 1, 2.Aufl. 2004, Art. 11 Rn. 22; vgl. auch -- zur durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Freizügigkeit von

BVerfGE 110, 177 (192):

Ausländern -- BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, DVBl 2001, S. 892 [893 f.]). Davon geht im Ergebnis auch die fachgerichtliche Rechtsprechung aus (vgl. Hess. VGH, NVwZ 1986, S. 860 [861]; Bad.-Württ. VGH, NDV 1982, S. 365; vgl. auch Bay. VGH, 12 CE 96. 1751, 14. August 1996 [juris]).
a) Eine ausreichende Lebensgrundlage fehlt einem Grundrechtsträger, wenn er seinen Lebensmindestbedarf nicht aus eigener Kraft befriedigen kann (vgl. BVerfGE 2, 266 [278]; BVerwGE 3, 130 [139]; 6, 173 [175]). Die Zuweisung nach § 2 Abs. 1 WoZuG, an die § 3 a Abs. 1 Satz 2 WoZuG 1996 anknüpft, trifft nur Spätaussiedler, die über keinen Arbeitsplatz und auch über kein auf sonstige Weise den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen verfügen und daher auf öffentliche Hilfe angewiesen sind.
b) Art. 11 Abs. 2 Variante 1 GG ermöglicht dem Gesetzgeber eine Beschränkung des Grundrechts auf Freizügigkeit, wenn unterstützungsbedürftige Personen in anhaltend großer Zahl in die Bundesrepublik einreisen und Bund, Ländern und Gemeinden daraus erhebliche Lasten entstehen. Zu diesen Lasten gehören insbesondere die Bereitstellung von Wohnraum, infrastrukturelle Folgelasten wie die Herstellung und Erweiterung von Einrichtungen der Betreuung von Kindern, der schulischen Ausbildung, von Kultur und Sport sowie von Anlagen der öffentlichen Versorgung und Entsorgung. Hinzu kommen in Fällen der in Rede stehenden Art Maßnahmen der Integration wie das Angebot von Sprachkursen, Eingliederungshilfen und Vorsorge dafür, dass die eingesessene Bevölkerung die zugewanderten Menschen aufnimmt und in die örtliche Gemeinschaft einbezieht. Art. 11 Abs. 2 Variante 1 GG gibt unter diesen Voraus

BVerfGE 110, 177 (193):

setzungen dem Gesetzgeber die Befugnis, unter Einschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit die Lasten auf Länder und kommunale Gebietskörperschaften zu verteilen und damit insbesondere einer Überlastung einzelner Gemeinden entgegenzuwirken.
Solche besonderen Lasten sind der Allgemeinheit durch den Zuzug der Spätaussiedler in die Bundesrepublik entstanden. Im Zeitraum des starken Zuzugsanstiegs ab 1987 sind insgesamt drei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler in die Bundesrepublik eingewandert. Sie waren und sind bei Zuzug in aller Regel sozialhilfebedürftig. Ihre Eingliederung machte infrastrukturelle Maßnahmen nicht geringen Ausmaßes erforderlich. Der Integrationsbedarf ist unverändert hoch. Spätaussiedler stammen regelmäßig aus einem anderen Kulturkreis und Gesellschaftssystem und haben oft erhebliche Schwierigkeiten, sich in die neue Umgebung zu integrieren und einen Arbeitsplatz zu finden. Dies haben die in der mündlichen Verhandlung gehörten sachverständigen Auskunftspersonen bestätigt. Erschwert wird die Integration zudem durch mangelhafte Sprachkenntnisse. Selbst die Anfang der 1990er Jahre zugewanderten und noch überwiegend deutschstämmigen Spätaussiedler hatten wegen der Verfolgung in ihren Herkunftsländern oftmals viele Jahre keine Gelegenheit, die deutsche Sprache zu pflegen. Die nicht deutschstämmigen Angehörigen von Spätaussiedlern, die heute die ganz überwiegende Zahl der Zuwanderer ausmachen, sprechen regelmäßig nicht Deutsch. Alle diese Umstände bewirkten von Anfang an einen hohen Eingliederungsaufwand.


BVerfGE 110, 177 (194):

Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, die Zuweisung und ihre Durchsetzung mit sozialhilferechtlichen Mitteln sei ein geeigneter Weg, die Integration der Spätaussiedler zu fördern, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar wird dies von den Beteiligten unterschiedlich gesehen. Einerseits wird geltend gemacht, Spätaussiedler unterlägen wahrscheinlich einem höheren Anreiz, Deutsch zu lernen, wenn sie sich im Alltagsleben dieser Sprache bedienen müssten. Es seien dauerhafte sprachliche Defizite zu verzeichnen, wenn größere Einwanderergruppen zusammenlebten, weil die Menschen hier ihren Kommunikationsbedarf bei anderen Einwanderern gleicher Sprache befriedigen könnten. Insbesondere Kinder und Jugendliche lernten in Kindertagesstätten, Schulen und Jugendeinrichtungen schneller die deutsche Sprache, wenn die Mehrzahl ihrer Altersgruppe diese verwende, selbst wenn sie in ihrer Familie weiterhin die Sprache ihres Herkunftslandes sprächen. Zudem seien Nachbarschaft, Vereine und das sonstige soziale Umfeld eher bereit, Einzelne als große Gruppen von Spätaussiedlern aufzunehmen. Andererseits wurde in der mündlichen Verhandlung von sachverständiger Seite die Auffassung vertreten, die Zuweisung behindere den Zugang zu den "Netzwerken" der schon länger eingewanderten Spätaussiedler. Dieser Zugang sei für die Suche nach Wohnraum und Arbeitsstätten, für die finanzielle Unterstützung und für Hilfen beim Kontakt mit Behörden wichtig.
Bei der Einschätzung der Auswirkungen einer neuen Regelung steht dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 50, 290 [332 ff.]). Dies gilt insbesondere, wenn ein akuter Gesetzgebungsbedarf -- wie dies nach Auffassung aller beteiligten Gebietskörperschaften 1996 der Fall war -- zügig befriedigt werden muss. Diesen Einschätzungsrahmen hat der Gesetzgeber mit der hier angegriffenen Regelung nicht überschritten. Der Gesetzgeber ist in diesen Fällen aber gehalten, die weitere Entwicklung und insbesondere die Auswirkungen der Regelung zu beobachten und diese gegebenenfalls für die Zukunft zu korrigieren (vgl. BVerfGE 95, 267 [314 f.]). Eine solche Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen der Zuweisung hat die Bundesregierung für das Jahr 2005 angekündigt.


BVerfGE 110, 177 (195):

bb) Die angegriffene Regelung ist auch erforderlich. Es ist kein Weg ersichtlich, der die Spätaussiedler weniger belasten, die genannten Ziele aber gleichermaßen erreichen würde. Insbesondere bei der Bestimmung der Dauer der Zuweisungszeit steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu. Diesen hat er jedenfalls im Falle der Beschwerdeführer noch nicht überschritten. Die mit der Zuweisung verfolgten Ziele lassen sich nicht erreichen, wenn der Zeitraum zu kurz bemessen ist. Die Anhörung von sachverständigen Auskunftspersonen im vorliegenden Verfahren hat ergeben, dass der Prozess der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland typischerweise länger als drei Jahre andauert.
Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich auch nicht gehalten, statt der Zuweisung als milderes Mittel eine Regelung vorzusehen, auf Grund derer die Kosten der Sozialhilfe der sie nach § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG tragenden Gemeinde vom Sozialhilfeträger der Zuweisungsgemeinde erstattet werden. Das übergemeindliche finanzielle Erstattungssystem nach § 3 b WoZuG und § 107 Abs. 1 BSHG ist nach der gesetzlichen Ausgestaltung und den praktischen Gegebenheiten auf Einzelfälle zugeschnitten und nicht für den Ausgleich von Sozialhilfekosten in einer Größenordnung geeignet, wie sie bei Spätaussiedlern anfielen, würde man auch an dem nicht zugewiesenen Wohnort Hilfe zum Lebensunterhalt gewähren. Erstattungsverfahren sind aufwändig und können zu Verwaltungsstreitverfahren führen. Vor allem ist das dem Wohnortzuweisungsgesetz zugrunde liegende Prinzip der Lastenverteilung keineswegs auf die Sozialhilfekosten beschränkt. Die sonstigen, oben dargestellten Lasten (vgl. C I 2 b) sind einem Erstattungsverfahren zwischen den Gemeinden naturgemäß kaum zugänglich.


BVerfGE 110, 177 (196):

Allerdings ist die Freizügigkeit der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. § 3 a Abs. 1 Satz 2 WoZuG 1996 schließt Umzüge der regelmäßig auf öffentliche Hilfe angewiesenen Spätaussiedler praktisch aus. Die Sperre dauert mehrere Jahre an. In dieser Zeit sind die Spätaussiedler an einen Wohnort gebunden, den sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Zumindest bei der landesinternen Verteilung wird, so hat die mündliche Verhandlung ergeben, kaum Rücksicht auf Wünsche genommen, einem bestimmten Ort zugewiesen zu werden. Die für die kommunalen Gebietskörperschaften festgelegten Aufnahmequoten haben weitgehend Vorrang. Als Folge der Zuweisung können die meist vorhandenen Bindungen an die Großfamilie, bestimmte Glaubensgruppen oder die frühere Dorfgemeinschaft nicht fortgesetzt werden. Die Flexibilität bei der Arbeits- und Wohnungssuche ist -- auch unter Berücksichtigung der seit 2000 geltenden Regelung des § 3 a Abs. 2 Satz 3 WoZuG -- in diesem Zeitraum eingeschränkt. Hinzu kommt, dass sich viele Spätaussiedler aus nachvollziehbaren Gründen mit der Beschränkung ihrer Freizügigkeit nach Einreise in ein Land nicht abfinden können, dessen Ordnung durch das Grundgesetz freiheitlich gestaltet ist.
a) Wie oben festgestellt, wird das Grundrecht des Art. 11 Abs. 1

BVerfGE 110, 177 (197):

GG nicht durch die Zuteilung und Zuweisung von einreisenden Spätaussiedlern auf der Grundlage des geltenden Rechts verletzt. Die aufnehmenden Länder und Gemeinden müssen möglichst frühzeitig Kenntnis darüber haben, ob und in welchem Umfang sie Unterkunft und Unterstützung im Sinne von § 1 Abs. 1 WoZuG vorzuhalten haben. Auch die betroffenen Menschen müssen so bald wie möglich Kenntnis über ihren weiteren Verbleib erhalten. Beide Seiten benötigen Planungssicherheit. Deshalb ist es unter den gegebenen Verhältnissen verfassungsrechtlich hinzunehmen, dass den Gesichtspunkten des § 2 Abs. 2 WoZuG -- Wünsche des Aufgenommenen, enge verwandtschaftliche Beziehungen und Möglichkeit der beruflichen Eingliederung -- bei der Zuteilung in der Praxis nicht in vollem Umfang Rechnung getragen werden kann.
b) Es begegnet jedoch im Hinblick auf das Grundrecht der Freizügigkeit des Art. 11 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Gesetzgeber keine Vorkehrungen für den Fall trifft, dass die Aufrechterhaltung der Zuweisung für die Betroffenen zu einer für sie besonders belastenden Situation führt und daher mit einer unbilligen Härte verbunden ist. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, wenn ihrem Begehren nach Änderung der Zuweisung grundrechtlich relevante Belange zugrunde liegen, wie beispielsweise solche des Art. 6 Abs. 1 GG beim Wunsch nach einem Zusammenwohnen mit Familienangehörigen oder solche des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG im Falle der Aufnahme einer Teilzeiterwerbstätigkeit. Zur Vermeidung solcher Härtefälle ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich gehalten, eine Abänderung der Zuweisung auf Antrag unter von ihm näher zu bestimmenden Voraussetzungen zu ermöglichen. Dabei dürfte auch zu berücksichtigen sein, ob der Wohnortwechsel zugleich einen Wechsel des Sozialhilfeträgers nach sich zieht. Über solche Anträge ist in einem Verwaltungsverfahren zu entscheiden, das rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Auch dafür hat der Gesetzgeber durch geeignete Regelungen Sorge zu tragen. Angesichts der raschen Verteilung bei der Einreise muss Raum bleiben für eine spätere Prüfung der persönlichen Situation, die zugleich vermeidet, die Spätaussiedler zum bloßen Objekt eines staatlichen Verteilungsverfahrens zu machen.


BVerfGE 110, 177 (198):

II.
2. Auch Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen sozialhilfebedürftigen Deutschen, die nach Deutschland einreisen oder innerhalb Deutschlands den Wohnsitz wechseln und nicht von Beschränkungen des Art. 11 Abs. 1 GG betroffen sind, besteht allerdings. Diese Ungleichbehandlung ist aber nach den für eine solche Gleichheitsprüfung maßgeblichen Grundsätzen (vgl. BVerfGE 100, 195 [205]; 97, 169 [180 f.]) hinreichend gerechtfertigt. Spätaussiedler reisen in großer Zahl nach Deutschland ein. Sie haben einen besonderen Eingliederungsbedarf. Beides unterscheidet sie von anderen Deutschen, die erstmalig oder erneut einreisen und auf öffentliche Hilfe angewiesen sind. Es ist daher auch nicht angezeigt, für diese Gruppe ein Zuweisungsverfahren vorzusehen, das die Lasten gleichmäßig verteilt und die Integration fördert. Auch die Umzüge von Sozialhilfeempfängern innerhalb Deutschlands werfen keine praktischen Fragen auf, die ein Zuweisungssystem erforderlich machten.
3. Art. 3 Abs. 1 GG ist im Verhältnis zu den Beschwerdeführern auch nicht dadurch verletzt, dass sozialhilfebedürftige Ausländer nicht generell einem Zuweisungsverfahren unterworfen sind. Allerdings gelten für sie ebenfalls Freizügigkeitsbeschränkungen (§ 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG; vgl. aber auch BVerwGE 111, 200 [201 ff.]). Soweit sozialhilfebedürftige Ausländer besser gestellt sind als Spätaussiedler, ist dies jedoch hinreichend gerechtfertigt. Spätaussiedler sind die bislang einzige große Gruppe von Zuwanderern, die allgemeine und übereinstimmende Merkmale aufweisen und einen Anspruch auf Einreise nach Deutschland haben. Bei Ausländern ohne den Status des EU-Bürgers geht die Rechtsordnung grundsätzlich davon aus, dass sie nur vorübergehend in Deutschland leben und

BVerfGE 110, 177 (199):

später in ihre Herkunftsländer zurückkehren (vgl. BTDrucks 11/6321, S. 41; 14/7387, S. 56). Dies gilt auch für Asylberechtigte (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Demgegenüber sind in den letzten Jahren fast drei Millionen Spätaussiedler mit einem dauerhaften Bleiberecht nach Deutschland eingewandert. Ihre Eingliederungsprobleme sind auch anders gelagert als die jener Ausländer, denen das geltende Recht -- unbeschadet ihrer Sozialhilfebedürftigkeit -- ein zeitlich unbegrenztes Aufenthaltsrecht in Deutschland gewährt und die es einem Zuweisungsverfahren nicht unterwirft.
III.
Papier Jaeger Haas Hömig Steiner Hohmann-Dennhardt Hoffmann-Riem Bryde