BVerfGE 92, 138 - Limbach
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 16. Februar 1995
-- 2 BvR 1852/94 --


BVerfGE 92, 138 (138):

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn W... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Dirk Lammer, Kissinger Straße 57, Berlin - gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. Juli 1994 - 5 StR 167/94 -, b) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Juni 1993 - (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92) - hier: Selbstablehnung der Richterin Präsidentin Limbach.
Entscheidungsformel:
Die Selbstablehnung der Richterin Limbach wird für begründet erklärt.
 
Gründe:
I.
1. Der Beschwerdeführer - ein ehemaliges Mitglied der Grenztruppen er DDR - wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen seine strafgerichtliche Verurteilung wegen Totschlags. Gegenstand des Strafverfahrens war die Tötung eines Mannes, der im Jahr 1972 versucht hatte, über die innerdeutsche Grenze aus der DDR zu fliehen.
2. Die Richterin Präsidentin Limbach hat den Senat ersucht, sie gemäß § 19 Abs. 1 und 3 BVerfGG von einer Teilnahme an der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu entbinden. Sie hat dazu erklärt:
    "Ich habe mich während meiner Tätigkeit als Berliner Justizsenatorin sehr nachdrücklich und wiederholt in der Öffentlichkeit und in meinem Amt für den Einsatz und die Arbeitsfähigkeit der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität bei der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin engagiert. Diese hat die Anklage gegen den oben genannten Beschwerdeführer erhoben. Auch habe ich mich wiederholt über die Strafbarkeit des Mißbrauchs staatlicher Gewalt in der DDR in Vorträgen, Interviews und Zeitschriften geäußert. Diese Umstände können meines Erachtens geeignet sein, Zweifel an meiner Unbefangenheit entstehen zu lassen."


BVerfGE 92, 138 (139):

3. Diese Erklärung ist dem Beschwerdeführer sowie dem Bundesministerium der Justiz zur Kenntnis gegeben worden.
II.
Die Selbstablehnung ist begründet.
Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 88, 1 [4]; stRspr). Dies ist hier der Fall.
Die Richterin war als Justizsenatorin in Berlin unter anderem auch für die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität bei der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht verantwortlich. Sie hat sich in ihrem Amt engagiert für die Einrichtung und die Wirksamkeit dieser Behörde eingesetzt und bis in die letzte Zeit vor ihrem Amtsantritt als Richterin des Bundesverfassungsgerichts in zahlreichen politischen Äußerungen zum Ausdruck gebracht, daß sie sowohl die Anordnungen der staatlichen Führung der DDR, auf denen die Tötung von sogenannten "Republikflüchtlingen" an der innerdeutschen Grenze beruhte, als auch die Ausführung dieser Anordnungen als strafbares Unrecht ansehe, dessen Verfolgung durch die Strafjustiz eine notwendige und für die Rechtskultur wichtige Aufgabe sei (vgl. etwa DtZ 1993, S. 66 ff.). Ihre dieser Auffassung entsprechende Amtsführung als Justizsenatorin prägte in hohem Maße ihr Bild in der politisch interessierten Öffentlichkeit. Entscheidend kommt hinzu, daß die Richterin als Justizsenatorin mit besonderem Nachdruck als Befürworterin der verfassungsrechtlichen These hervorgetreten ist, daß das Verfassungsrecht der Strafverfolgung wegen Taten der in Rede stehenden Art nicht entgegenstehe. Gerade über diese - umstrittene - These wird in dem Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu befinden sein.
Eine Besorgnis des Beschwerdeführers, daß die Richterin diese Frage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist unter den hier gegebenen Umständen nachvollziehbar.
Böckenförde, Klein, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, Sommer