BVerfGE 72, 39 - Erziehungszeitengesetz


BVerfGE 72, 39 (39):

Unmittelbar gegen das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) eingelegten Verfassungsbeschwerden von Müttern, die vor dem 31. Dezember 1920 geboren sind und denen die Anrechnung von Kindeserziehungszeiten versagt worden ist (§§ 1250, 1251a RVO), sind unzulässig, weil zur Durchführung dieses Gesetzes ein besonderer Vollziehungsakt erforderlich ist und die Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht vorliegen.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 25. Februar 1986
-- 1 BvR 1384/85 und 30/86 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. der Frau W..., - 1 BvR 1384/85 -, 2. der Freifrau von M... - Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Marianne Lemcke-Hartwig, Wiltingerstraße 6, Berlin 28 - 1 BvR 30/86 - gegen Art. 1 Nr. 17 und 19 des Gesetzes zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11. Juli 1985 (BGBl. I S. 1450).


BVerfGE 72, 39 (40):

Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerden werden verworfen.
 
Gründe:
I.
Gegenstand der unmittelbar gegen das Gesetz erhobenen Verfassungsbeschwerden ist die Frage, ob es verfassungswidrig ist, daß der Gesetzgeber die Anrechnung von Kindererziehungszeiten nur für solche Mütter vorgesehen hat, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind.
1. Das am 1. Januar 1986 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung (Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz -- HEZG) vom 11. Juli 1985 (BGBl. I S. 1450) regelt die rentenbegründende und rentensteigernde Anrechnung eines oder mehrerer Kindererziehungsjahre.
Die neu in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführten Kindererziehungszeiten sind für die Zukunft anrechnungsfähige Versicherungszeiten. Für die vor dem 1. Januar 1986 liegende Zeit wurde die Vorschrift, welche die anrechnungsfähigen Versicherungszeiten regelt, mit Art. 1 Nr. 17 HEZG durch den Buchstaben c) ergänzt, so daß sie jetzt lautet:
    § 1250 RVO (= § 27 AVG)
    (1) Anrechnungsfähige Versicherungszeiten sind
    a) Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (Beitragszeiten), nicht jedoch die Zeiten nach den §§ 1385 a und 1385 b,
    b) Zeiten ohne Beitragsleistung nach § 1251 (Ersatzzeiten),
    c) Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 nach § 1251 a.
Die in Buchstabe c) in Bezug genommene Norm ist durch Art. 1 Nr. 19 HEZG eingeführt worden und bestimmt:


    BVerfGE 72, 39 (41):

    § 1251 a RVO (= § 28 a AVG)
    (1) Für die Erfüllung der Wartezeit werden Müttern und Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten 12 Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder in dem jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben. ...
    (2) ... bis (5) ...
Danach sind Mütter und Väter, die vor dem 1. Januar 1921 geboren sind, von der Möglichkeit einer Anrechnung von Kindererziehungszeiten ausgeschlossen.
2. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 1384/85 ist 1920 geboren. Sie hat fünf Kinder geboren und erzogen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sie sich unmittelbar gegen die gesetzlichen Vorschriften des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes, nach denen Angehörige der Geburtsjahrgänge vor 1921 von der Anrechnung der Kindererziehungszeiten ausgeschlossen werden. Diese Regelung verletze den allgemeinen Gleichheitssatz, zumal die Frauengeneration, der sie angehöre, in der Kriegs- und Nachkriegszeit ihre Kinder unter besonderen Schwierigkeiten und Belastungen habe erziehen müssen.
Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 30/86 ist 1916 geboren. Sie ist Mutter von sieben Kindern. Auf Anfrage hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ihr gegenüber den Ausschluß der vor 1921 geborenen Mütter und Väter wie folgt erläutert:
    Die Anrechnung eines Kindererziehungsjahres konnte allerdings aus finanziellen Gründen nur für diejenigen Mütter und Väter vorgesehen werden, die am 1. Januar 1986 jünger als 65 Jahre (Geburtsjahrgänge 1921 und später) sind. Ich bedauere sehr, daß es nicht möglich ist, auch bei den über 65jährigen Müttern und Vätern ein Erziehungsjahr anzurechnen, die in der Vergangenheit häufig unter schwierigeren Bedingungen als heute ihre Kinder erzogen haben. Eine solche Anrechnung wäre zwar wünschenswert, würde aber bereits im ersten Jahr nach dem Inkrafttreten Kosten von rd. 5-6 Mrd. DM verursachen. Dies wäre mit einer Politik der finan

    BVerfGE 72, 39 (42):

    ziellen Solidität nicht vereinbar, da eine solche Maßnahme für den Bund angesichts der gegenwärtigen und künftigen Haushaltslage nicht tragbar wäre. Sie würde im übrigen -- da nicht bezahlbar - die Gesamtkonzeption zum Scheitern bringen, was nicht im Sinne der älteren Frauen sein dürfte; denn dann würden auch ihre eigenen Kinder und Enkel nicht durch das Kindererziehungsjahr begünstigt werden können.
    Von vielen Seiten wird die Frage aufgeworfen, aus welchem Grund gerade die Jahrgänge 1920 und früher von der Regelung ausgeschlossen werden. Diese Geburtsjahrgänge sind bei Inkrafttreten der Regelung am 1. Januar 1986 über 65 Jahre alt. Mit Vollendung des 65. Lebensjahres tritt in der gesetzlichen Rentenversicherung spätestens der Versicherungsfall des Alters ein; von diesem Zeitpunkt an wird das normale Altersruhegeld gezahlt.
    Diejenigen, die versichert waren, haben also ihr Versicherungsleben bereits abgeschlossen und beziehen eine Altersrente; sie gehören zum sog. "Rentenbestand", für den die vorgesehene Regelung nicht gilt. Wenn die Einführung von Kindererziehungsjahren aber nicht für den "Rentenbestand" gilt, kann sie aus Gründen der Gleichbehandlung auch nicht für diejenigen gelten, die bei Inkrafttreten über 65 Jahre alt sind und keine Rente beziehen. Durch die vorgesehene Regelung sind also alle über 65jährigen von der Begünstigung ausgenommen, gleichgültig, ob sie eine Rente beziehen oder nicht.
Mit ihrer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen, daß der Ausschluß der vor 1921 geborenen Jahrgänge von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten gegen Art. 1 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 4, Art. 19 Abs. 1 sowie Art. 20 GG verstoße. Insbesondere werde der Gleichheitssatz verletzt, weil sich ein einleuchtender Grund für die Differenzierung der Eltern nach Geburtsjahrgängen nicht finden lasse. Finanzielle Gründe könnten die unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigen. Auch habe jede Mutter -- und nicht nur die nach 1920 geborene Mutter -- nach Art. 6 Abs. 4 GG Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch die Gemeinschaft.
II.
Die unmittelbar gegen das Gesetz erhobenen Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.


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1. Nach ständiger Rechtsprechung, deren Gründe schon mehrfach dargelegt sind (vgl. insbesondere BVerfGE 60, 360 [369 f.] m.w.N.), sind derartige Verfassungsbeschwerden einer Prüfung in der Sache nur zugänglich, wenn die Beschwerdeführer durch die angegriffenen Rechtsnormen selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten betroffen sind. Daran muß aus den in dieser Rechtsprechung angeführten Gründen festgehalten werden.
An der unmittelbaren Betroffenheit der Beschwerdeführerinnen fehlt es. Dieses Erfordernis bedeutet, daß das Gesetz unmittelbar, also ohne einen weiteren vermittelnden Akt, in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirken muß (BVerfGE 53, 366 [389]; 70, 35 [50 f.] m.w.N.). Setzt die Durchführung der angegriffenen Vorschriften rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen Vollzugsakt voraus, muß der Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor er die Verfassungsbeschwerde erhebt. Diese besondere Zulässigkeitsvoraussetzung beruht auf dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden und dieser Vorschrift zugrunde liegenden Gedanken der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 1, 97 [102 f.]; 58, 81 [104 f.]; 68, 376 [379 f.]). Die damit bezweckte vorrangige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens gewährleisten (BVerfGE 4, 193 [198]; 16, 124 [127]; 51, 386 [396]). Dem Bundesverfassungsgericht soll vor seiner Entscheidung ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung der Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden (BVerfGE 8, 222 [227]; 9, 3 [7]). Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, daß vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren (BVerfGE 47, 182 [191]). Diese Gesichtspunkte fallen vor allem dann ins Gewicht, wenn das Gesetz der Verwaltung einen Entscheidungsspielraum

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läßt, gelten grundsätzlich aber auch dann, wenn -- wie hier -- ein solcher Spielraum fehlt (BVerfGE 58, 81 [104 f.]; BVerfG, Beschluß vom 15. Oktober 1985 -- 2 BvR 1808/82, 1809/82, 1810/ 82 -- Umdruck S. 12; insoweit abweichend die früheren Entscheidungen BVerfGE 43, 108 [117]; 45, 104 [117, 118]). Auch in diesem Fall erfordert der Grundsatz der Subsidiarität, daß zunächst die für das jeweilige Rechtsgebiet zuständigen Fachgerichte eine Klärung darüber herbeiführen, inwieweit die beanstandete Regelung Rechte der Bürger beeinträchtigt und ob sie mit der Verfassung vereinbar ist; dabei ist nach Maßgabe der Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften gegebenenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (BVerfGE 1, 97 [103 f.]; 58, 81 [105]; st.Rspr.).
Für die Aktualisierung der Anrechnung von Erziehungszeiten, gleichgültig, ob diese Anrechnung zugunsten einer schon bewilligten Bestandsrente begehrt wird oder für die erste Berechnung einer Zugangsrente erfolgen soll, bedarf es in jedem Fall eines Vollziehungsakts in Form eines ergänzenden oder neuen Rentenbescheides. Den Beschwerdeführerinnen ist zuzumuten, zunächst diesen Vollziehungsakt abzuwarten und dagegen den Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu beschreiten.
2. Die Rechtsprechung hat allerdings ein Rechtsschutzbedürfnis für eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise vor Erlaß des Vollzugsakts bejaht, wenn das Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlaßt, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können (BVerfGE 65, 1 [37] m.w.N.), oder der mit dem Grundsatz der Subsidiarität verfolgte Zweck, eine fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, nicht erreichbar ist (BVerfGE, a.a.O. [38]).
Die Beschwerdeführerinnen haben keine Gesichtspunkte vorgetragen, die es rechtfertigen könnten, sie gegenüber anderen

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Rechtsuchenden zu bevorzugen und zu ihren Gunsten eine Ausnahme von den für alle geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen zu machen. Solche Gründe sind auch nicht erkennbar. Insbesondere ist es auch hier sinnvoll, die aufgeworfenen Rechtsfragen vorab fachgerichtlich klären zu lassen. Auch wenn der gerügten Verletzung des Gleichheitssatzes ein leicht überschaubarer und einfach strukturierter Sachverhalt zugrunde liegen mag, läßt sich nicht ausschließen, daß die Ermittlung von Tatsachen für die verfassungsgerichtliche Entscheidung von Bedeutung sein kann und daß die besonderen Kenntnisse der Sozialgerichte, ihre umfassende Erfahrung mit der rechtlichen Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Sachverhalte, dem Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der hier umstrittenen Regelung von Nutzen sein werden. Das gilt ungeachtet dessen, daß Stichtagsregelungen schon vielfältig Gegenstand verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung gewesen sind (vgl. BVerfGE 66, 234 [244] m.w.N.). Die in dieser Rechtsprechung entwickelten Grundsätze machen eine eigenständige Beurteilung der jeweils angegriffenen Regelung anhand der mit ihr verbundenen tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten nicht entbehrlich.
Auch die Tatsache, daß die gerügte Benachteiligung ausschließlich Personen der Geburtsjahrgänge bis 1920 betrifft, vermag eine Ausnahme vom Erfordernis der Unmittelbarkeit nicht zu rechtfertigen. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Beschwerdeführerinnen wegen ihres fortgeschrittenen Alters ein gesteigertes Interesse an einer beschleunigten Durchführung ihres Verfahrens haben. Dennoch muß und kann auch ihnen zugemutet werden, den Rechtsweg zu beschreiten. Sie können ohne Zeitverlust beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Bescheid unter Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten beantragen und nach dessen Ablehnung die Sozialgerichte anrufen. Es deuten keine besonderen Umstände darauf hin, daß die Dauer des Rechtsstreits vor den Fachgerichten eine Verwirklichung des von ihnen in Anspruch genommenen Rechts von vornherein vereiteln würde. Eine unannehmbare Prozeßdauer kann jedenfalls nicht

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allgemein unterstellt werden, zumal die Sozialgerichte, falls sie die Ansicht der Beschwerdeführerinnen teilen, die Sache nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen müssen. Schließlich darf bei der Frage, ob es sinnvoll und zumutbar ist, fachgerichtliche Entscheidungen abzuwarten, nicht der entlastende Effekt für das Bundesverfassungsgericht übersehen werden (vgl. BVerfGE 69, 122 [125 f.]).
Herzog Simon Hesse Katzenstein Niemeyer Henschel
 
Abweichende Meinung des Richters Dr. Katzenstein zum Beschluß des Ersten Senats vom 25. Februar 1986
- 1 BvR 1384/85 und 30/86 -
Ich halte die Verfassungsbeschwerden für zulässig.
Die gegenteilige Auffassung der Mehrheit ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend (1). Der den Beschwerdeführerinnen zugemutete -- aussichtslose -- Antrag bei den Rentenversicherungsträgern eröffnet ihnen zwar den Rechtsweg vor die Sozialgerichte; angesichts der Fragestellung, welche die angegriffene Regelung aufwirft, werden fachgerichtliche Erkenntnisse jedoch die erforderliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nennenswert beeinflussen können (2). Die Mehrheitsmeinung führt daher zu einer vermeidbaren Verzögerung der Entscheidung, die den Beschwerdeführerinnen nicht zumutbar ist (3).
1. Schon die Beschlußgründe zeigen auf, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach welcher eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz unzulässig ist, soweit noch ein besonderer Vollzugsakt ergehen muß, erhebliche

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Ausnahmen kennt. Die von der Mehrheitsmeinung angeführte Entscheidung vom 14. Mai 1985 (BVerfGE 70, 35) nennt den Grund dafür, warum es diese Ausnahmen von einer an sich auch von mir für richtig gehaltenen Rechtsprechung geben kann und muß. Dort wird ausgeführt, daß die Befugnis, Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen eine Rechtsnorm zu erheben, nicht immer schon dann fehlt, wenn nach einfachem Recht noch ein ausführender Vollziehungsakt ergehen muß. Der Begriff der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit sei ein Begriff des Verfassungsprozeßrechts; er sei im Lichte der Funktion dieser Verfahrensordnung zu erfassen. Daß ein Vollziehungsakt erforderlich sei, um für einzelne Adressaten der Norm individuell bestimmte Rechtsfolgen eintreten zu lassen, sei lediglich Anzeichen für ein denkbares Fehlen der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit. Ob es ausschlaggebend sei, bedürfe in jedem Falle der Überprüfung anhand des Verfassungsprozeßrechts (vgl. BVerfGE 70, 35 [51]).
Unter den auch im Mehrheitsbeschluß genannten Ausnahmen von einer strikten Rechtsprechung, die sich vermehren ließen (z. B. BVerfGE 43, 291 [386 ff.]; 58, 81 [107]; 59, 1 [18]), kommt angesichts der vorliegenden Fallgestaltung den Entscheidungen besonderes Gewicht zu, in denen trotz eines notwendigen Vollziehungsakts Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein Gesetz deswegen zugelassen worden sind, weil den Verwaltungsbehörden jeder Prüfungs- und Entscheidungsspielraum fehlte und die angegriffenen Gesetzesbestimmungen keiner Auslegung zugänglich waren (vgl. BVerfGE 43, 108 [117]; 45, 104 [117 f.]; 58, 81 [104]). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht im letztgenannten Fall, in dem es glaubte, durch die Fachgerichte klären zu können, in welchem Ausmaß ein Beschwerdeführer durch die beanstandete Regelung konkret in seinen Rechten betroffen sei, entschieden, daß die strengen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz "grundsätzlich" auch gelten, wenn ein Auslegungs- und Entscheidungsspielraum für die Verwaltung fehlt (vgl. BVerfGE 58, 81 [104 f.]). Indes

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sen war dadurch jedenfalls bisher die ältere Rechtsprechung nicht aufgegeben worden (vgl. BVerfG, Beschluß vom 15. Oktober 1985 -- 2 BvR 1808/82 u.a. -- Umdruck S. 11 f.).
2. Vorliegend hätte der Gesichtspunkt, daß die Versicherungsträger nach der eindeutigen und klaren gesetzlichen Regelung gezwungen sind, Ansprüche solcher Antragsteller zurückzuweisen, die vor dem 1. Januar 1986 das 65. Lebensjahr vollendet haben, m. E. dazu führen müssen, mit der genannten Rechtsprechung von der Zulässigkeit dieser unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden auszugehen. Die im allgemeinen strengen Anforderungen an die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde dürfen nicht zum Selbstzweck werden und können daher nicht in solchen Fällen gelten, in denen evident ist, daß es sich bei der Beurteilung der angegriffenen Regelung um eine rein verfassungsrechtliche Frage handelt, hinsichtlich derer nicht erwartet werden kann, daß der Sachverstand und die Erfahrung der Fachgerichte dem Bundesverfassungsgericht nennenswerte Hilfe geben können.
Die Mehrheit meint allerdings, daß selbst dann, wenn der gerügten Verletzung des Gleichheitssatzes ein leicht überschaubarer und einfach strukturierter Sachverhalt zugrunde liegt, "sich nicht ausschließen lasse", daß die besonderen Kenntnisse der Sozialgerichte, ihre umfassende Erfahrung mit der Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Sachverhalte, dem Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der hier umstrittenen Regelung "von Nutzen" sein würden. Das kann auch ich nicht ausschließen. Indessen meine ich, dies sei kein ausreichender Grund dafür, die Beschwerdeführerinnen auf einen aussichtslosen Antrag an die Versicherungsträger und die anschließende Beschreitung des Rechtswegs zu verweisen. Jedenfalls müßte es doch einige Wahrscheinlichkeit dafür geben, daß die Auffassung der Sozialgerichte wirklich von "einigem Nutzen" sein wird. Eine solche Wahrscheinlichkeit aber sehe ich nicht.
Der Grund für die unterschiedliche Behandlung von Müttern danach, ob sie im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes das

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65. Lebensjahr bereits vollendet haben oder nicht, ist finanzieller Natur. Es ist bekannt, daß finanzielle Gründe seit vielen Jahren die grundsätzlich von allen maßgeblichen politischen Kräften geförderte Bestrebung zur Einführung von Kindererziehungszeiten gehindert haben. Finanzielle Erwägungen waren es auch, welche vorliegend den Gesetzgeber bewogen haben, solchen Müttern kein Erziehungsjahr anzurechnen, die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits 65 Jahre alt waren (BTDrucks. 10/2677, S. 30).
Ob diese Differenzierung den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes genügt, ist eine verfassungsrechtliche Frage. Auch bei der weiteren Überlegung, ob es dem Gesetzgeber erlaubt war, den von ihm bestimmten Stichtag des 31. Dezember 1920 zu wählen, stehen -- wie auch die Mehrheit nicht verkennt -- verfassungsrechtliche Aspekte im Vordergrund. Rechtlich werden die Instanzgerichte in der Sozialgerichtsbarkeit zur Entscheidung dieser Fragen schwerlich mehr beitragen können, als es durch eine Stellungnahme des Bundessozialgerichts möglich ist, die das Bundesverfassungsgericht erbitten kann. Zwar wird es zur verfassungsrechtlichen Beurteilung, ob der allgemeine Gleichheitssatz verletzt sein könnte, auch tatsächlicher Aufklärung bedürfen. Jedoch ist es für die Sozialgerichte schwieriger als für das Bundesverfassungsgericht, sich Zugang zu den maßgeblichen Gesetzgebungsmaterialien zu verschaffen, aus denen sich erst ersehen läßt, welches Gewicht den finanziellen Gesichtspunkten bei der Gesetzesnovellierung zugekommen ist.
3. Schließlich führt die Auffassung der Mehrheit, die Beschwerdeführerinnen seien zunächst gehalten, eine Entscheidung des zuständigen Sozialversicherungsträgers herbeizuführen, um dann die zu erwartende Ablehnung vor den Sozialgerichten anfechten zu können, zu einer unnötigen Verzögerung der wohl in jedem Fall erforderlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Denn selbst wenn es verhältnismäßig bald zu einer Vorlage eines Sozialgerichts käme, kann nicht davon ausgegangen werden, daß schon aufgrund einer solchen Vorlage alsbald eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergehen könnte. Da die Mehrheit

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meint, die besonderen Kenntnisse der Sozialgerichtsbarkeit für die Entscheidung nutzen zu können, ist schwerlich anzunehmen, daß sie sich mit den Darlegungen eines einzelnen Sozialgerichts zufriedengeben wird, ohne abzuwarten, welche Ansicht andere Sozialgerichte, vornehmlich die Gerichte höherer Instanzen, vertreten werden. Die dadurch eintretende Verzögerung ist aber den Beschwerdeführerinnen m. E. angesichts ihres Alters nicht zumutbar. Insofern liegt es anders als bei dem bereits entschiedenen Fall (vgl. BVerfGE 69, 122 [126]), in dem das Gericht bei der Verwerfung einer unmittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde davon ausgegangen ist, daß einem Beschwerdeführer die vorherige Antragstellung sowie die anschließende Beschreitung des Rechtswegs zumutbar sei.
Auch meine ich, daß es für die Beurteilung des vorliegenden Falles nicht darauf ankommen kann, ob die Ablehnung der Zulässigkeit unmittelbar gegen das Gesetz gerichteter Verfassungsbeschwerden in anderen Fällen einen entlastenden Effekt für das Bundesverfassungsgericht gehabt hat oder haben wird. Mir ist schon zweifelhaft, ob das hier zutreffend wäre, denn ich sehe aus den oben dargelegten Gründen nicht, daß die Sozialgerichte durch ihre Entscheidungen das Bundesverfassungsgericht nennenswert entlasten könnten. Im übrigen: Die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts soll seiner besonderen Funktion und seiner Funktionsfähigkeit dienen (vgl. BVerfGE 69, 122 [125 f.]); eine alsbaldige Entscheidung im vorliegenden Fall aber, die nicht allein die beiden Beschwerdeführerinnen dieses Verfahrens, sondern zahlreiche ältere Mütter beträfe, entspräche m. E. im besonderen Maße der Funktion des Bundesverfassungsgerichts, spezifisch verfassungsrechtliche Fragen alsbald zu klären.
Schließlich hätte die Mehrheit den Beschwerdeführerinnen einen Hinweis geben können und sollen, ob nach einer Antragstellung im Verwaltungsverfahren eine Vorabentscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG in Betracht zu ziehen ist.
Katzenstein