BVerfGE 67, 149 - Wahlwerbung/WDR
 


BVerfGE 67, 149 (149):

Beschluß
des Zweiten Senats vom 30. Mai 1984
-- 2 BvR 617/84 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Deutschen Zentrumspartei, vertreten durch den Bundesvorsitzenden Gerhard Woitzik, Straberger Weg 12, Dormagen 11, - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Oswald Seitter, Matthias Besserer, Werastraße 99, Stuttgart 1 - gegen a) den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1984 - 15 B 1064/84 - b) den Beschluß des Verwaltungsgerichts Köln vom 15. Mai 1984 - 4 L 569/84 - hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Entscheidungsformel:
Der Westdeutsche Rundfunk wird verpflichtet, vor dem Wahltag zur Europawahl der Antragstellerin einen zweiten Sendetermin -- jedenfalls zur Wiederholung des bereits am 28. Mai 1984 gesendeten Wahlwerbespots -- im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" einzuräumen.
Im übrigen wird der Antrag abgelehnt.
 
Gründe:
I.
1. Die ARD hat den Parteien und politischen Vereinigungen, die sich an den Wahlen zum Europäischen Parlament am 17. Juni 1984 mit Wahlvorschlägen beteiligen, Sendezeiten für Wahlwerbung eingeräumt. Der Antragstellerin sind zwei Sendetermine in der Reihe "Parteien zur Europawahl" zugewiesen worden. Der erste Wahlwerbespot der Antragstellerin sollte am 15. Mai 1984, 20.15 Uhr, im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" gesendet werden. Die Ausstrahlung hat der für das ARD-Gemeinschaftsprogramm federführende Westdeutsche Rundfunk abgelehnt, da der Inhalt des Wahlwerbespots einen evidenten Verstoß gegen § 90 a und § 185 StGB darstelle.
Am 15. Mai 1984 hat die Antragstellerin durch ihren Bundesvorsitzenden beim Verwaltungsgericht Köln beantragt, dem

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WDR im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, den Wahlwerbespot zuzulassen und wie festgelegt zu senden.
Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht Köln durch Beschluß vom 15. Mai 1984 abgelehnt, da der Wahlwerbespot das rechtsstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland mit Unrechtssystemen wie dem NS-Staat gleichsetze und als Beschimpfung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland den Tatbestand des § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfülle. Die hiergegen erhobene Beschwerde hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen durch einen am Abend des 15. Mai 1984 erlassenen Beschluß zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, der Wahlwerbespot enthalte einen evidenten und schwerwiegenden Verstoß gegen § 185 StGB. Beleidigt würden die derzeit im Bundestag vertretenen und mit der Antragstellerin bei der Europawahl in Konkurrenz stehenden Parteien.
2. Mit der gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Köln und des Oberverwaltungsgerichts in Münster gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 4, Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 21 GG. Die Zurückweisung ihres Wahlwerbespots verstoße gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien im Wettbewerb um die Wählerstimmen und verletze sie in ihrer Meinungsfreiheit sowie in ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit. Sie könne es als eine nach ihrem Selbstverständnis im christlichen Glauben wurzelnde Partei nicht hinnehmen, daß ungeborenes menschliches Leben durch Abtreibung getötet werde.
Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit der der Westdeutsche Rundfunk verpflichtet werden soll, ihr umgehend und an geeigneter Stelle Sendezeit für den beanstandeten Wahlwerbespot einzuräumen.
Zu dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat der Westdeutsche Rundfunk Stellung genommen.
3. Die Antragstellerin hat für ihre zweite Wahlwerbesendung

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am 28. Mai 1984 eine in Text und Bild geänderte -- sich mit Fragen des Schwangerschaftsabbruchs gleichfalls kritisch auseinandersetzende -- Fassung des zurückgewiesenen Wahlwerbespots eingereicht. Dieser ist vom Westdeutschen Rundfunk im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" gesendet worden.
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
1. Der Antragstellerin steht als politischer Partei der Weg der Verfassungsbeschwerde offen, wenn sie -- wie hier -- behauptet, durch eine Verwaltungsmaßnahme in ihrem Recht auf gleichberechtigte Benutzung einer Anstalt des öffentlichen Rechts verletzt zu sein (BVerfGE 7, 99 [103]; 14, 121 [129]; 27, 152 [158]). Die Rundfunk- und Fernsehanstalten sind Anstalten des öffentlichen Rechts, die jedenfalls dann hoheitlich tätig werden, wenn sie in Ausübung des Rundfunkmonopols im Wahlkampf Sendezeiten für Wahlwerbung zuteilen oder verweigern (BVerfGE 47, 198 [223] m.w.N.).
2. Gegen die Zulässigkeit spricht auch nicht, daß der Rechtsweg im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren nicht erschöpft ist (vgl. BVerfGE 47, 198 [224]).
3. Durch eine einstweilige Anordnung darf zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Hauptsache nicht vorweggenommen werden (BVerfGE 12, 276 [279]; 15, 77 [78]; 46, 160 [163 f.]). Dadurch wird die Zulässigkeit des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im vorliegenden Fall jedoch nicht in Frage gestellt, da unter den obwaltenden Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde und der Antragstellerin in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte (vgl. BVerfGE 34, 160 [162 f.]).
III.
Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 32 Abs. 1 BVerfGG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vor

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läufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung sind hier gegeben.
1. Die Wahlwerbung in Hörfunk und Fernsehen gehört heute zu den wichtigen Mitteln im Wahlkampf der politischen Parteien. Die Vergabe von Hörfunk- und Fernsehzeiten für Wahlwerbesendungen muß daher dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien als dem für den gesamten Wahlvorgang gültigen Maßstab Rechnung tragen (BVerfGE 34, 160 [163]; 47, 198 [225]). Der Grundsatz der Chancengleichheit gebietet, bei der Zuteilung von Sendezeit an zur Teilnahme an einer Wahl zugelassene Parteien auch kleineren oder neuen Parteien eine angemessene Sendezeit zur Verfügung zu stellen (BVerfGE 47, 198 [225]). Dabei dürfen zum Zwecke der Wahlwerbung vorgesehene Sendungen der politischen Parteien nur bei einem evidenten und ins Gewicht fallenden Verstoß gegen allgemeine Normen des Strafrechts zurückgewiesen werden; das den Rundfunkanstalten zustehende Prüfungsrecht ist großzügig zu handhaben (BVerfGE 47, 198 [230 ff.]).
2. Die angegriffenen Beschlüsse sind im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen; sie nehmen jedoch die Entscheidung in der Hauptsache vorweg. Deshalb hat der Senat die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde in den Blick genommen (vgl. BVerfGE 63, 254). Bei dieser vorläufigen Prüfung haben sich erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Beschlüsse ergeben. Vorbehaltlich einer abschließenden Prüfung im Hauptverfahren erscheint es zweifelhaft, ob diese Entscheidungen zu Recht einen evidenten und ins Gewicht fallenden Verstoß gegen § 185 und § 90 a StGB angenommen haben.
3. Die Zurückweisung der zur Ausstrahlung am 15. Mai 1984 vorgesehenen Wahlwerbesendung der Antragstellerin greift im Hinblick darauf, daß ihr als kleinerer Partei lediglich zwei Ter

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mine für Wahlwerbespots im Gemeinschaftsprogramm "Deutsches Fernsehen" zugewiesen worden sind, in erheblichem Maße in ihr Recht auf Chancengleichheit ein. Bei dieser Sachlage ist es geboten, der Antragstellerin einen weiteren geeigneten Termin zur Ausstrahlung einer Wahlsendung einzuräumen; dies ist in der Zeit bis zum 15. Juni 1984 ohne schwerwiegende Nachteile für andere Parteien noch möglich. Anhaltspunkte dafür, daß die Antragstellerin in mißbräuchlicher Weise die Nachholung der zurückgewiesenen Wahlwerbesendung zu einem für sie günstigeren Zeitpunkt angestrebt hätte, liegen nicht vor.
4. Die Antragstellerin hat eine in Text und Bild geänderte -- sich jedoch mit Fragen des Schwangerschaftsabbruchs gleichfalls kritisch auseinandersetzende -- Fassung des beanstandeten Wahlwerbespots eingereicht. Diese unterscheidet sich von dem zurückgewiesenen Wahlwerbespot nicht so sehr, daß der Antragstellerin damit die Möglichkeit genommen wäre, ihre sachliche Aussage in aller Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen. In Anbetracht dessen erwächst ihr kein ins Gewicht fallender Nachteil im Sinne des § 32 BVerfGG, wenn ihre Wahlwerbesendung nicht in der ursprünglich beabsichtigten Fassung ausgestrahlt wird. Der damit verbundene Nachteil wiegt nicht so schwer, daß dessen Abwehr zum gemeinen Wohl dringend geboten ist; insoweit war deshalb der Antrag abzulehnen.
Ein Wahlwerbespot mindestens in der nunmehr vorliegenden Form ist der Antragstellerin jedoch zuzubilligen.
Zeidler Rinck Niebler Steinberger Träger Mahrenholz Böckenförde Klein