BVerfGE 62, 1 - Bundestagsauflösung I


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1. Im Organstreit kann der einzelne Bundestagsabgeordnete die behauptete Verletzung jedes Rechts, das mit seinem Status als Abgeordneter verfassungsrechtlich verbunden ist, im eigenen Namen geltend machen.  An der Gewährleistung der in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG festgelegten Dauer der Wahlperiode hat der Status des Abgeordneten Anteil.
2. Die Anordnung der Auflösung des Bundestages oder ihre Ablehnung gemäß Art. 68 GG ist eine politische Leitentscheidung, die dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten obliegt.  Ein Ermessen im Rahmen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ist dem Bundespräsidenten freilich nur dann eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.
3. Art. 68 GG normiert einen zeitlich gestreckten Tatbestand.  Verfassungswidrigkeiten, die auf den zeitlich vorangehenden Stufen eingetreten sind, wirken auf die Entscheidungslage fort, vor die der Bundespräsident nach dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers gestellt ist.
4. a) Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ist eine offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist.
b) Die Befugnis zur Konkretisierung von Bundesverfassungsrecht kommt nicht allein dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch anderen obersten Verfassungsorganen zu.  Dabei sind die bereits vorgegebenen Wertungen, Grundentscheidungen, Grundsätze und Normen der Verfassung zu wahren.
c) Bei der Konkretisierung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung ist zumal ein hohes Maß an Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen wie verfassungspolitischen Beurteilung und Bewertung der in Rede stehenden Sachverhalte zwischen den möglichen be

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troffenen obersten Verfassungsorganen unabdingbar und eine auf Dauer angelegte, stetige Handhabung unerläßlich.  Eine politisch umkämpfte und rechtlich umstrittene Praxis von Parlamentsmehrheiten und Regierungsmehrheiten reicht als solche hierfür nicht aus.
5. Vertrauen im Sinne des Art. 68 GG meint gemäß der deutschen verfassungsgeschichtlichen Tradition die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers.
6. Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren.  Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag.  Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG.
7. Eine Auslegung dahin, daß Art. 68 GG einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des Art. 68 GG nicht gerecht.  Desgleichen rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht.
8. a) Ob eine Lage vorliegt, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll ermöglicht, hat der Bundeskanzler zu prüfen, wenn er beabsichtigt, einen Antrag mit dem Ziel zu stellen, darüber die Auflösung des Bundestages anzustreben.
b) Der Bundespräsident hat bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG mit der Verfassung vereinbar sind, andere Maßstäbe nicht anzulegen; er hat insoweit die Einschätzungskompetenz und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten, wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.
c) Die Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien, zu Neuwahlen zu gelangen, vermag den Ermessensspielraum des Bundes

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präsidenten nicht einzuschränken; er kann hierin jedoch einen zusätzlichen Hinweis sehen, daß eine Auflösung des Bundestages zu einem Ergebnis führen werde, das dem Anliegen des Art. 68 GG näher kommt als eine ablehnende Entscheidung.
9. In Art. 68 GG hat das Grundgesetz selbst durch die Einräumung von Einschätzungsspielräumen und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurückgenommen als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art. 68 GG selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen.  Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.
 
Urteil
des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 1983
-- 2 BvE 1, 2, 3, 4/83 --
in dem Organstreitverfahren über den Antrag festzustellen, daß der Bundespräsident durch seine Anordnung über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages vom 6. Januar 1983 (BGBl. I S. 1) und seine Anordnung über die Bundestagswahl 1983 vom 6. Januar 1983 (BGBl. I S. 2) gegen Art. 68 Abs. 1 GG verstoßen und dadurch die Antragsteller in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt bzw. unmittelbar gefährdet hat -- Antragsteller: 1. Karl-Hans Lagershausen, Mitglied des Deutschen Bundestages, Schlüte, Berne -- Bevollmächtigter: Professor Dr. Rainer Wahl, Sundgauallee 68, Freiburg -- 2 BvE 1/83 --; 2. Friedhelm Rentrop, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, Bonn 1, 3. Hansheinrich Schmidt, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, Bonn 1, -- Bevollmächtigter der Antragsteller zu 2) und 3): Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, Beim Hochwald 30, Mannheim 31 -- 2 BvE 2/83 --, 2 BvE 3/83 --; 4. Karl Hofmann, Mitglied des Deutschen Bundestages, Rodacher Straße 46, Kronach, -- Bevollmächtigter: Professor Dr. Klaus Schlaich, Wolkenburgstraße 2, St. Augustin 2 -- 2 BvE 4/83 --, Antragsgegner: Bundespräsident Karl Carstens, Adenauerallee 135, Bonn 1, -- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Hermann Maassen, Mendelssohnstraße 12, Bonn-Bad Godesberg --.


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Entscheidungsformel:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
 
Gründe:
 
A.
Gegenstand der zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Organstreitverfahren ist die Frage, ob die Anordnungen des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983, den 9. Deutschen Bundestag aufzulösen und den Zeitpunkt der Neuwahl des Deutschen Bundestages auf den 6. März 1983 festzusetzen (BGBl. I S. 1, 2), die Antragsteller in ihrem Status als Abgeordnete des Bundestages unmittelbar gefährden oder verletzen.
I.
1. Die Antragsteller gehören dem 9. Deutschen Bundestag an, der am 5. Oktober 1980 gewählt worden und am 4. November 1980 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten ist. Der Antragsteller zu 1) wurde im Wege der Listennachfolge (§ 48 BWahlG) im Jahre 1982 Bundestagsabgeordneter; er gehört der Fraktion der CDU/CSU an. Die Antragsteller zu 2) und 3) gehören der Fraktion der F.D.P. an. Der Antragsteller zu 4) war bis zum 31. März 1982 Mitglied der Fraktion der SPD; seitdem ist er fraktionslos.
2. Bei der Wahl zum 9. Deutschen Bundestag erhielten die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 42,9% und die Freie Demokratische Partei (F.D.P.) 10,6% der Stimmen; dementsprechend entfielen auf die SPD 218 und auf die F.D.P. 53 Mandate. Die Christlich Demokratische Union (CDU) erhielt 34,2% und die Christlich-Soziale Union (CSU) 10,3% der Stimmen; CDU und CSU erhielten zusammen 226 Sitze.
a) SPD und F.D.P. hatten den Wahlkampf mit dem erklärten Ziel geführt, die bisherige sozialliberale Koalition fortzuführen. Dementsprechend kam es zur Koalitionsvereinbarung von SPD und F.D.P. Am 5. November 1980 wählte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der in den Fraktionen der SPD und der

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F.D.P. zusammengeschlossenen Abgeordneten Helmut Schmidt zum Bundeskanzler (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 9. Wp., Bd. 117, S. 11 f.). Nach Bildung der neuen Koalitionsregierung erklärte der Bundeskanzler am 24. November 1980 im Bundestag (a.a.O., S. 25):
    "Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Freie Demokratische Partei haben am 5. Oktober von den Bürgerinnen und den Bürgern unseres Landes, mit verstärkter Mehrheit, abermals den Auftrag erhalten, die sozialliberale Koalition und deren politischen Kurs fortzusetzen ..."
b) Am 3. Februar 1982 stellte Bundeskanzler Schmidt gemäß Art. 68 GG den Antrag, ihm "das Vertrauen auszusprechen" (BTDrucks. 9/1312), um sich der parlamentarischen Unterstützung seiner Regierung zu versichern (vgl. Deutscher Bundestag, StenBer. 84. Sitzung vom 5. Februar 1982, S. 5050 f.). Der Antrag wurde mit den Stimmen der Mitglieder der Fraktionen der SPD und der F.D.P. gegen die Stimmen der Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU angenommen (a.a.O., S. 5070).
c) Ungeachtet dieses Abstimmungsergebnisses traten im Zusammenhang mit den Haushaltsberatungen spätestens seit dem Frühsommer 1982 zunehmende Spannungen zwischen den Koalitionspartnern auf, die schließlich zum Bruch der Koalition führten. Nachdem am 17. September 1982 die vier der F.D.P. angehörenden Minister der Bundesregierung zurückgetreten waren, machte Bundeskanzler Schmidt am selben Tage im Bundestag den Vorschlag, die innenpolitische Krise durch Neuwahlen zum Bundestage zu überwinden (StenBer. S. 7074 B). Er bot der Opposition an, an einer Vereinbarung mitzuwirken, die den Weg zu unverzüglichen Neuwahlen über die Stellung der Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG eröffne (a.a.O., S. 7074 C, D, 7075 A, B).
Die Opposition lehnte diesen Vorschlag ab. Der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Kohl, wies in seiner Erwiderung darauf hin, daß das Grundgesetz für die zu bewältigende politische Situation zwar das Institut der Vertrauensfrage (Art.

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68 GG) vorsehe, jedoch nicht auf dem Weg der vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Vereinbarung. Anschließend stellte er fest (a.a.O., S. 7078 A):
    "Wir, die CDU/CSU, gehen den von der Verfassung vorgesehenen Weg. Wir werden zu unserer Verantwortung stehen. Wir werden versuchen, so rasch wie möglich eine handlungsfähige Regierung zu bilden, und uns dann der Wahlentscheidung unserer Mitbürger stellen."
Der Abgeordnete Genscher (F.D.P.) bekundete für seine Fraktion ebenfalls die Absicht, zunächst ohne Neuwahlen eine "handlungsfähige Regierung" zu bilden, fügte aber hinzu (a.a.O., S. 7082 C):
    "Wenn diese Regierung die jetzt unmittelbar vor uns liegenden Aufgaben erledigt hat, sollte sie sich mit diesen Aufgaben, ihrer Erledigung und ihrem Programm dem Wähler zur Wahl stellen. Sollte die Bildung einer solchen Regierung aus diesem Bundestag heraus nicht möglich sein, so muß es zu Neuwahlen kommen."
In den folgenden Tagen fanden Koalitionsverhandlungen zwischen den Vorsitzenden der CDU, der CSU und der F.D.P. und diesen Parteien angehörenden Abgeordneten statt. Am 21. September 1982 wurde darüber ein Kommunique veröffentlicht, in dem es u.a. heißt (Union in Deutschland, Informationsdienst der Christlich Demokratischen Union Deutschlands 28/82 vom 23. September 1982, S. 1):
    "Die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und FDP empfehlen ihren Fraktionen, am Freitag, dem 1. Oktober 1982, Helmut Kohl zum Bundeskanzler zu wählen. Sie gehen ... von der Erwartung aus, daß zeitgerechte Vereinbarungen für die politische Zusammenarbeit in der neuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit im Bundestag erreicht werden, die erfolgreiches, gemeinsames Handeln zur Lösung der wichtigsten Aufgaben deutscher Politik gewährleisten. Sie halten baldige Neuwahlen zum Bundestag für erforderlich. Helmut Kohl erklärt, daß er als gewählter Bundeskanzler noch in diesem Jahr den Zeitpunkt für das Ingangsetzen des verfassungsmäßigen Verfahrens bekanntgeben wird, damit am ersten Sonntag im März Neuwahlen zum Deutschen Bundestag stattfinden können."


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Am 28. September 1982 brachten die Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P. gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG den Antrag ein, der Bundestag möge Bundeskanzler Helmut Schmidt das Mißtrauen aussprechen und zu seinem Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl wählen (BTDrucks. 9/2004). Die Abstimmung über diesen Antrag fand am 1. Oktober 1982 statt. Für den Antrag stimmten von den anwesenden 495 voll stimmberechtigten Abgeordneten in geheimer Wahl 256, dagegen 235 Abgeordnete; vier Abgeordnete enthielten sich der Stimme (Deutscher Bundestag, StenBer. vom 1. Oktober 1982, S. 7201 B).
Am 13. Oktober 1982 gab der neue Bundeskanzler im Bundestag für die Bundesregierung u.a. folgende Erklärung ab (Sten- Ber. S. 7215 B):
    "Die Koalitionsparteien FDP, CSU und CDU haben vereinbart, sich am 6. März 1983 dem Urteil der Wähler zu stellen. Dies ist auch die Meinung der Bundesregierung. Ich weiß, daß es verfassungsrechtlich nicht einfach ist, diese Absicht zu verwirklichen. Aber ich gehe davon aus, Herr Kollege Wehner, daß Sie als Fraktionsvorsitzender der SPD und der Kollege Brandt als Parteivorsitzender der SPD gemeinsam mit den anderen Fraktions- und Parteivorsitzenden meine Einladung annehmen werden, gemeinsam über die in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeiten zu sprechen, aber auch jene Wege in unser Gespräch mit einzubeziehen, die die Enquete-Kommission Verfassungsreform dem Bundestag vorgezeichnet hat.
    Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß wir gemeinsam einen Weg finden, da wir doch gemeinsam draußen ... erklären: Wir wollen jetzt wählen. Am 6. März werden wir wählen."
Auch der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Dregger, griff in seiner Stellungnahme zur Regierungserklärung das Thema "Neuwahl am 6. März" auf und führte aus, daß sich das Regierungsprogramm der neuen Koalition auf das Wesentliche und auf das in den Monaten bis zum 6. März Notwendige konzentriere (a.a.O., S. 7251 A). Sodann fügte er hinzu (a.a.O., S. 7251 A, B):
    "Bis zum 6. März nächsten Jahres kann die neue Regierung die zerrütteten Staatsfinanzen nicht sanieren und die dramatisch stei

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    gende Massenarbeitslosigkeit nicht stoppen. Sie kann nur erste Notmaßnahmen ergreifen und erste Weichen in eine bessere Zukunft stellen ... Das, was in vielen Jahren angerichtet worden ist, kann nicht in wenigen Monaten wieder alles in Ordnung gebracht werden. Dazu ist mindestens eine ganze Legislaturperiode notwendig, die es ohne Neuwahlen nicht geben wird."
In ähnlichem Sinne nahm der Bundesminister des Auswärtigen und Bundesvorsitzende der F.D.P., Genscher, in derselben Debatte Stellung (a.a.O., S. 7254 A; S. 7255 A, B):
    "Wir aber werden am 6. März des nächsten Jahres Neuwahlen durchführen und uns dem Urteil der Wähler stellen. An der Herbeiführung dieser Neuwahlen mitzuwirken, wie wir sie für den 6. März 1983 wollen, sollte jedes Mitglied des Deutschen Bundestages als seine Pflicht betrachten ... Bevor wir am 6. März des nächsten Jahres diese Neuwahlen abhalten, wollen wir das Haus in Ordnung bringen, d.h. den Bundeshaushalt und die Spargesetze verabschieden."
Der bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU Dr. h. c. Strauß führte im Rahmen der Aussprache über die Regierungserklärung am 14. Oktober 1982 u.a. aus (a.a.O., S. 7323 D):
    "Bei einer Regierung, deren Chef in Übereinstimmung mit den Koalitionspartnern den 6. März als Tag der nächsten Bundestagswahl in der Öffentlichkeit verbindlich angegeben hat, kommt es doch nicht darauf an, jetzt in wenigen Monaten ein Programm zu entwerfen, für dessen Durchführung, für dessen Verhandlung man sicherlich mehr als einige Tage braucht - ich habe einige Erfahrung in Koalitionsverhandlungen aus den 50er und 60er Jahren -, für dessen Durchführung man vor allen Dingen einen längeren Zeitraum braucht. Darum ist diese Regierungserklärung - das war auch meine Meinung bei der Ausarbeitung des Koalitionspapiers - in der Hauptsache darauf abgestellt, in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die Wende einzuleiten, im übrigen bei den anderen Gebieten die Kontinuität zu gewährleisten oder - auch das soll hier offen gesagt werden - kontroverse Themen zwischen den Unionsparteien und der FDP auszuklammern."
Für die Fraktion der SPD erklärte der Abgeordnete Dr. Ehmke die Bereitschaft zu einer Erörterung aller mit der Neuwahl ver

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bundenen Aspekte einschließlich der "verfassungsrechtlichen". Der Bundeskanzler dürfe von seiner Zusage der Neuwahlen am 6. März nichts zurücknehmen (a.a.O., S. 7234 B, C).
3. Am 13. Dezember 1982 brachte der Bundeskanzler im Bundestag einen "Antrag gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes" ein, dem eine Begründung nicht beigegeben war (BTDrucks. 9/2304).
Im Rahmen der Beratung des Haushaltsgesetzes 1983 am 14. Dezember 1982 nahm der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Dregger, nach einem Hinweis auf die bisherige Arbeit der neuen Koalitionsregierung zu diesem Antrag wie folgt Stellung (StenBer., S. 8578 C, D; S. 8579 A, B):
    "Diese in nur zehn Wochen erreichten Erfolge der Regierung Kohl/ Genscher erlauben es, ohne Schaden für unser Land den Weg zu Neuwahlen zu öffnen. Diese Neuwahlen werden von allen demokratischen Parteien und, wie die demoskopischen Umfragen bestätigen, auch von der großen Mehrheit der Wähler gewollt. Der Bundeskanzler hat sich entschlossen, zu diesem Zweck den Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes zu stellen ... Da ... die Verwirklichung unseres Gesetzgebungsprogramms und die Abstimmung über diesen Antrag, unmittelbar aufeinander folgen und beides auch in einem inneren Zusammenhang steht, möchte ich ... dazu einige Bemerkungen machen. Die neue Regierung hat von der neuen Koalition einen inhaltlich und zeitlich begrenzten Auftrag erhalten. In der Bundestagsdebatte am 13. Oktober habe ich das Regierungsprogramm als ein Programm der Konzentration auf das jetzt Wichtigste und Dringlichste bezeichnet. Andere bedeutsame, aber weniger dringliche Aufgaben z.B. in der Innen- und Rechtspolitik blieben in den Koalitionsvereinbarungen und im Regierungsprogramm ausgespart. Der inhaltlichen Begrenzung entspricht die zeitliche Begrenzung des Regierungsauftrags. Es war von Anbeginn Geschäftsgrundlage der neuen Koalition, daß sie sich am 6. März 1983 den Wählern stellt. Auf der Grundlage dieses inhaltlich und zeitlich begrenzten Auftrages wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Diesen politischen möchte ich einige wenige verfassungsrechtliche Bemerkungen hinzufügen. Der Bundeskanzler ist jederzeit berechtigt, den Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes zu stellen. Dieser Antrag richtet sich an uns, den Deutschen Bundestag. Für die Fraktion der CDU/CSU erkläre ich: Um die Wirtschafts-

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    und Finanzkrise meistern und die schwerwiegenden außenpolitischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, treffen zu können, braucht die Regierung eine volle Legislaturperiode. Deshalb wollen wir Neuwahlen.
    Um für den Herrn Bundespräsidenten eine klare Entscheidungsgrundlage zu schaffen, füge ich hinzu: Ohne Neuwahlen sind wir nicht bereit, diese oder eine andere Regierung parlamentarisch zu unterstützen. Wir haben diesen Entschluß nicht aus Willkür, sondern aus wohlerwogenen Gründen gefaßt. Deshalb ist er unumstößlich.
    Auch bei kritischer Prüfung wird man sagen müssen: Mit diesem Entschluß bleiben wir Abgeordnete im Rahmen der Rechte, die die Verfassung uns zuweist. Die politischen Erwägungen, die unserem Beschluß zugrunde liegen, sind unsere Sache. Daß wir, die freigewählten Abgeordneten des deutschen Volkes, unsere Entscheidungen allein nach unserem Gewissen zu treffen haben, entspricht dem Wortlaut und dem Geist unserer Verfassung, dem Geist der repräsentativen Demokratie. Deshalb sind wir überzeugt: Unsere Entscheidung ist verfassungsgemäß."
Für die Fraktion der F.D.P. führte der Abgeordnete Hoppe in diesem Zusammenhang aus (a.a.O., S. 8593 A; S. 8595 A, B):
    "Es ist das zweite Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß der Bundestag vor seiner vorzeitigen Auflösung steht. Daß wir heute erneut über eine Entscheidung im Zusammenhang mit Art. 68 des Grundgesetzes debattieren, hat ebensowenig wie vor zehn Jahren etwas mit einer Bankrotterklärung einer Regierung oder mit Mißtrauen gegenüber dem amtierenden Bundeskanzler zu tun. Im Gegenteil: Die Regierung Kohl/Genscher wird nach nur 77tägiger Bewährungsfrist eine außerordentlich erfolgreiche Bilanz vorlegen können ... Wir haben uns angesichts des Zustandes der Staatsfinanzen und der Arbeitslosenzahlen für den Versuch entschieden, mit einem Notprogramm für Haushalt und Beschäftigung einen Dammbruch zu verhindern. Die Lösung der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme duldete keinen Aufschub ...
    Die Regierung Kohl/Genscher erhielt von uns einen begrenzten Auftrag, den sie in begrenzter Zeit zu erfüllen hatte. Dieser Auftrag ist übermorgen mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes und der Begleitgesetze erfüllt.
    Es ist für viele nicht leicht zu verstehen, warum einer Regierung,

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    die erfolgreich zehn Wochen lang zusammengearbeitet hat, danach nicht mehr das Vertrauen des Hauses ausgesprochen wird. Wenn sich die FDP-Fraktion am Freitag bei der Vertrauensabstimmung der Stimme enthält, spiegelt das aber unsere Vereinbarung zum Regierungswechsel wider. Sie war zeitlich und inhaltlich begrenzt. Der für das verabredete Regierungsprogramm ausgestellte Vertrauensbonus ist aufgebraucht. Es ist also konsequent, jetzt vor den Wähler zu treten."
Der Abgeordnete Dr. Ehmke sprach sich namens der Fraktion der SPD für Neuwahlen aus, äußerte aber gleichzeitig verfassungsrechtliche Bedenken gegen den vom Bundeskanzler gewählten Weg; die Sozialdemokraten hätten einen Rücktritt für die saubere Lösung gehalten (a.a.O., S. 8584 D).
Das Haushaltsgesetz 1983 wurde am 16. Dezember 1982 in namentlicher Schlußabstimmung mit der deutlichen Mehrheit von 266 Stimmen der Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Mitglieder der Fraktion der SPD (206) und von vier fraktionslosen Abgeordneten bei vier Enthaltungen angenommen.
Tags darauf fand die Beratung des Deutschen Bundestages über den Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 GG statt. Der Bundeskanzler begründete seinen Antrag im wesentlichen wie folgt (StenBer. S. 8938 f.):
    "... In der Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 habe ich das Programm der von FDP, CSU und CDU getragenen Bundesregierung vorgestellt und unsere Absicht bekräftigt, möglichst am 6. März 1983 vor den Wähler zu treten. Ich habe deshalb den Antrag gemäß Art. 68 des Grundgesetzes gestellt. Einen solchen Antrag hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher zweimal gegeben. Im September 1972 stellte Bundeskanzler Willy Brandt diesen Antrag mit dem erklärten Ziel, durch die Ablehnung des Antrags in die Lage versetzt zu werden, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Im Februar 1982 hat Bundeskanzler Helmut Schmidt einen solchen Antrag gestellt, um sich der Zustimmung der damaligen Koalition zu vergewissern.
    Meine Damen und Herren, auch wenn die Gründe im Jahre 1972 anders waren, knüpfe ich an das von Bundeskanzler Brandt damals

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    genannte Ziel an. Mein Antrag soll dazu beitragen, daß der Weg zu Neuwahlen geöffnet werden kann. Ich weiß, daß es über den Anwendungsbereich des Art. 68 des Grundgesetzes wie auch über andere Wege zur Auflösung des Bundestages während einer Legislaturperiode eine intensive öffentliche Diskussion gibt. Nach eingehender Prüfung aller wesentlichen Gesichtspunkte und nach Beratungen und Gesprächen mit den Vorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und Fraktionen hin ich zu der Überzeugung gelangt, daß der von mir eingeschlagene Weg im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Art. 68 des Grundgesetzes gibt dem Bundeskanzler die Möglichkeit, die Mitglieder des Deutschen Bundestages zu fragen, ob für die Weiterarbeit der Bundesregierung eine hinreichende parlamentarische Basis gegeben ist. Ich stelle Ihnen heute diese Frage ...
    Ich erinnere an die Vereinbarung, welche die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP im September 1982 getroffen haben. Wir sind damals in der Koalition gemeinsam zu der Auffassung gelangt, daß wir sofortige Neuwahlen angesichts der außergewöhnlichen Notlage, die wir vorgefunden haben, nicht verantworten können. Die Bewältigung dringender Probleme, für die in der früheren Regierung und Koalition keine Mehrheit zu erzielen war, duldete keinen Aufschub. Ich erinnere vor allem an die Lage der öffentlichen Finanzen, an die wirtschaftliche Situation und insbesondere an die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir mußten den Bundeshaushalt 1983 und die ihn begleitenden Gesetze verabschieden. Wir mußten unserem Land sowie unseren Partnern und Verbündeten in der Welt Klarheit über den künftigen außenpolitischen Kurs verschaffen. Deshalb war der Auftrag für diese Bundesregierung von Anfang an sachlich begrenzt. Deshalb haben wir von Anfang an angestrebt, dem Wähler sobald wie möglich Gelegenheit zu geben, sein Votum zur Politik der Koalition der Mitte, zu dieser neuen Politik, abzugeben.
    Meine Damen und Herren, das bedeutet:
    Erstens. Wir wollten ein auf das Notwendigste konzentriertes Dringlichkeitsprogramm.
    Zweitens. Wir wollten uns nach Verabschiedung des Programms unverzüglich dem Wähler stellen. Auf dieser Grundlage und gemäß dieser Absprache bin ich am 1. Oktober 1982 zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden ... Nachdem wir das Dringendste getan haben, ist es geboten, sich dem Votum des Wählers zu stellen. In zahlreichen Gesprächen habe

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    ich den Eindruck gewonnen: Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien wollen Neuwahlen ...
    Vor uns liegen außerordentlich schwierige Aufgaben. Es geht darum, unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland herauszuführen. Ob diese Aufgaben mit Aussicht auf Erfolg gelöst werden können, hängt entscheidend davon ab, daß die Arbeit der Parteien und Fraktionen, welche die Regierung tragen, von einem entschiedenen Wählerauftrag gestützt wird. Die notwendige Politik muß langfristig angelegt sein. Denn wir wollen nicht Stückwerk leisten, sondern dauerhafte Fundamente legen, wie CDU, CSU und FDP dies schon einmal zu Beginn der Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland getan haben ...
    Wir wollen und müssen den Staatshaushalt in Ordnung bringen. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft wiederbeleben. Wir müssen in der Außen- und Sicherheitspolitik unseren Weg zur Sicherung des Friedens in Freiheit weitergehen können, auch wenn wir dabei schwierige Auseinandersetzungen zu bestehen haben. Wir müssen dauerhafte Voraussetzungen für eine menschlichere Gesellschaft schaffen. In all diesen Fragen gibt es noch keine umfassenden, längerfristigen Absprachen der jetzigen Koalitionspartner. Die Koalitionsvereinbarung konzentrierte sich auf das in meiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 dargelegte Dringlichkeitsprogramm. Es konnte und kann sich nicht auf alle Felder der Politik in der notwendigen Breite und Vielfalt erstrecken.
    Das notwendige Dringlichkeitsprogramm ist erfüllt. Mit der Erfüllung dieses Programms ist für die Weiterarbeit der Koalition eine parlamentarische Grundlage nicht mehr gegeben. Wie wollen nun den Wähler bitten, uns den Auftrag für eine langfristige Politik der neuen Koalition der Mitte zu geben. Die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP sind grundsätzlich bereit, nach der Wahl erneut zusammenzuarbeiten. Für die weitere Arbeit der Koalitionsparteien bedarf es einer neuen parlamentarischen Grundlage ... Auch die SPD als Oppositionspartei hat klar erklärt, daß sie nicht bereit ist, eine Koalition einzugehen und daß sie Neuwahlen will. Keine im Deutschen Bundestag vertretene Partei oder Fraktion wird durch eine Parlamentsauflösung übervorteilt. Wenn gegen den Weg, den ich zu Neuwahlen eingeschlagen habe, der Einwand erhoben wird, daß die Verfassung manipuliert werde, so entbehrt dieser Einwand jeder Grundlage. Ich habe seit meiner Wahl zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Ihnen und der deutschen Öffentlichkeit in aller Offenheit meine Erwägungen vorgetra

    BVerfGE 62, 1 (14):

    gen. Ich habe alles vermieden, was den Anschein des Künstlichen oder der Manipulation erwecken könnte. Der Vorwurf der Manipulation wäre schon eher gerechtfertigt, wenn ich den Weg des Rücktritts gemäß Art. 63 des Grundgesetzes wählen würde. Art. 63 des Grundgesetzes setzt mehrere vergebliche Wahlgänge voraus, um den Weg zu Neuwahlen zu öffnen. In der augenblicklichen Situation würde es niemanden überzeugen, wenn ein derartiges Verfahren eingeschlagen würde, um den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages zu nötigen. Ich bin der Auffassung, daß der von mir gewählte Weg zur Auflösung des Bundestages überzeugend und verfassungsrechtlich einwandfrei ist ..."
Für die Fraktion der CDU/CSU nahm deren Vorsitzender, Dr. Dregger, zum Antrag des Bundeskanzlers Stellung und führte u.a. aus (a.a.O., S. 8948 C, D):
    "Der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn seinen Antrag gemäß Art. 68 des Grundgesetzes und die diesem Antrag zugrunde liegenden Erwägungen eingehend dargelegt. Unsere Erwägungen entsprechen den seinigen. Die Begründung dafür habe ich bereits am 14. Dezember 1982 zu Beginn der Haushaltsdebatte im einzelnen dargelegt. Diese Begründung gilt nach wie vor; ich nehme darauf Bezug. Die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden sich dementsprechend bei der Abstimmung zum Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes mit Ausnahme einiger weniger Kollegen der Stimme enthalten, die selbstverständlich das Recht haben, ihre abweichende Auffassung zum Ausdruck zu bringen ..."
Der Abgeordnete Genscher erklärte für die Fraktion der F.D.P. (a.a.O., S. 8951 C, D):
    "Die Regierungsparteien ... haben der Bundesregierung bei ihrer Bildung einen sachlich und deshalb auch zeitlich begrenzten Auftrag gegeben. Der Auftrag lautete, den Haushalt 1983 zu verabschieden, die Begleitgesetze zu beschließen und die Ziele der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu bekräftigen. Diesen Auftrag hat die Regierungskoalition erfüllt.
    Sie löst heute das am 1. Oktober 1982 gegebene Versprechen ein, vorzeitige Neuwahlen möglich zu machen. Sofortige Neuwahlen hätten wichtige Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit um Monate verschoben. Die Staatsverschuldung wäre bei späterer Verabschiedung des Bundeshaushalts in seiner jetzigen Form in un

    BVerfGE 62, 1 (15):

    vertretbarer Weise weiter gestiegen. Dafür konnten und wollten wir angesichts einer steigenden Zahl von Arbeitslosen die Verantwortung nicht übernehmen. Mit der Abstimmung über die von Ihnen gestellte Vertrauensfrage, Herr Bundeskanzler, machen wir nun den Weg frei für die Neuwahlen. Die sachliche und damit auch zeitliche Begrenzung des Auftrags war der feste Wille von Anfang an.
    Der Auftrag soll erneuert werden, aber erst, nachdem der Wähler das Wort gehabt hat. Das entspricht auch dem Willen der großen Mehrheit unserer Bürger. Die Tatsache, daß alle Parteien des Deutschen Bundestages für diese Neuwahlen eintreten und daß die Wahl eines anderen Bundeskanzlers von keiner dieser Parteien in diesem Bundestag angestrebt wird, gibt unserem Begehren nach Neuwahlen zusätzliches Gewicht. Diese Tatsache beseitigt auch die vom Verfassungsgesetzgeber befürchtete Gefahr, daß Art. 68 des Grundgesetzes von der jeweiligen Mehrheit zur Herbeiführung von Wahlen in einem ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt mißbraucht wird. Der Deutsche Bundestag gibt nach unserem Willen sein Mandat an die Bürger unseres Landes zurück."
In seiner Stellungnahme für die Fraktion der SPD äußerte der Abgeordnete Brandt u.a. (a.a.O., S. 8940 ff.):
    "Dies ist, Herr Bundeskanzler, ... nicht die Situation von vor zehn Jahren ... Die damalige Regierung hatte es mit einem Patt zu tun. Damals haben wir uns darauf verständigt, das nicht erstrebte und in der gegebenen Situation auch nicht zu erreichende Vertrauensvotum nach Art. 68 des Grundgesetzes zu nutzen, um Gustav Heinemann, dem damaligen Bundespräsidenten, die Möglichkeit zu geben, den Bundestag aufzulösen ... Diesmal haben wir es mit einer, was den Ausgangspunkt angeht, anderen Lage zu tun ...
    Es drängt sich hier die Frage auf ..., ob wirklich die zeitliche Begrenzung eines Regierungsmandats durch Koalitionsvereinbarung und ergänzende Fraktionserklärungen genügen soll, um die ... Auflösung des Bundestages zu ermöglichen. Wir Sozialdemokraten werden jedenfalls den weiteren Verlauf des Verfahrens ... daraufhin beobachten, ob hier erstmalig ein Beispiel dafür gegeben wird, daß ein Bundeskanzler ... mit seiner Parlamentsmehrheit das Ende einer Legislaturperiode des Bundestages nach eigenem Ermessen herbeiführen kann ... Politische Gründe für die zeitliche Begrenzung und die Erneuerung eines Regierungsmandats durch Wahlen lassen sich auch für andere, künftige Fälle denken. Nun können wird doch alle wohl nicht

    BVerfGE 62, 1 (16):

    wollen, daß eine jeweilige Regierung mit ihrer jeweiligen Mehrheit den ihr günstig erscheinenden Neuwahlzeitpunkt selbst aussucht, statt in der vom Grundgesetz bestimmten Vierjahresfrist ihre Aufgaben zu erfüllen und sich danach den Wählern zu stellen; das ist die Grundlage der Verfassung ... Da Sie, Herr Bundeskanzler, auch schon das Empfinden hatten, daß es einer neuen Entscheidung der Wählerinnen und Wähler bedürfte, sage ich auch nach der heutigen Einlassung, daß Sie sich am besten zum verfassungsrechtlich ganz unproblematischen Rücktritt hätten entschließen sollen ... Wir Sozialdemokraten wollen die Neuwahl, und wir bestehen auf ihr. Aber wir haben nicht Anteil an dem Risiko eines Scheiterns, das sich aus dem von der Regierung und den Regierungsparteien mit robuster Dickfelligkeit festgehaltenen Weg über die fiktive Vertrauensfrage ergeben kann ..."
In der Aussprache ergriffen die Antragsteller zu 3) und 4) das Wort und legten ihre verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Einwände dar (a.a.O., S. 8960 D; S. 8961 A, B, C; S. 8965 A).
Bei der namentlichen Abstimmung über den Antrag des Bundeskanzlers stimmten drei Abgeordnete der Fraktion der CDU/ CSU und fünf Abgeordnete der Fraktion der F.D.P. mit "Ja". Die Mitglieder der Fraktion der SPD (210), drei Mitglieder der Fraktion der F.D.P. sowie fünf fraktionslose Abgeordnete stimmten mit "Nein", während sich die Mehrzahl der Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. (insgesamt 248) der Stimme enthielt (a.a.O., S. 8971 B).
Die Antragsteller zu 1) und 3) nahmen an der Abstimmung über den Antrag gemäß Art. 68 GG nicht teil, der Antragsteller zu 2) stimmte mit "Ja", während der Antragsteller zu 4) eine "Nein"-Stimme abgab (a.a.O.).
4. a) Noch am selben Tag schlug der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vor, den Deutschen Bundestag aufzulösen. Der Bundespräsident entsprach diesem Antrag. Nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler erließ er die Anordnung vom 6. Januar 1983 über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages. Sie wurde im Bundesgesetzblatt vom 7. Januar 1983 (S. 1) veröffentlicht

BVerfGE 62, 1 (17):

und an diesem Tage dem Bundespräsidenten bekanntgegeben. Gleichzeitig ordnete der Bundespräsident nach Gegenzeichnung durch den bundeskanzler und den Bundesminister des Inneren gemäß § 16 BWahlG an, daß die Wahl zum Deutschen Bundestag am 6. März 1983 stattfinde (BGBl. I S. 2).
b) Am 7. Januar 1983 begründete der Bundespräsident in einer Fernseh- und Rundfunkansprache seine Entscheidung. Er führte dabei im wesentlichen aus (Bulletin der Bundesregierung vom 10. Januar 1983, S. 17 f.):
    "Ich habe heute den Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 6. März angesetzt ... Alles, was zu dem Thema im Bundestag gesagt worden ist, habe ich sorgfältig geprüft. Ich habe mit dem Bundeskanzler, mit den Vorsitzenden aller im Bundestag vertretenen Parteien, mit den Fraktionsvorsitzenden dieser Parteien, mit den Präsidenten von Bundestag und Bundesrat, mit meinem Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten und schließlich mit den für Verfassungsfragen zuständigen Bundesministern des Inneren und der Justiz gesprochen ...
    Ich stehe vor einer Situation, in der alle im Bundestag vertretenen Parteien - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - Neuwahlen für nötig halten. Dies jedenfalls haben sie öffentlich und auch mir gegenüber unzweideutig erklärt. In meinen letzten Gesprächen - vorgestern - haben sie mir auf meine ausdrückliche Frage hin ihre Auffassung nochmals bestätigt.
    Nun ist die Überzeugung aller Parteien von der Notwendigkeit von Neuwahlen sicher gewichtig. Sie kann aber nur dann zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages führen, wenn die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind ...
    Ein möglicher Weg, um zu Neuwahlen zu gelangen, nämlich eine Änderung des Grundgesetzes, die dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht geben würde, ist erwogen, aber nicht verwirklicht worden. So kann die Neuwahl nur auf einem der nach geltendem Verfassungsrecht vorgesehenen Wege herbeigeführt werden, das heißt
    -- entweder dadurch, daß der Bundeskanzler zurücktritt
    -- oder dadurch, daß der Bundestag einem Vertrauensantrag des Bundeskanzlers die Zustimmung verweigert.
    Mehrfach ist gesagt worden, der Bundeskanzler hätte zurücktreten und dadurch den Weg für Neuwahlen freimachen sollen. Dies wäre jedoch ein sehr komplizierter Weg gewesen, denn kei

    BVerfGE 62, 1 (18):

    nesfalls könnte der Bundespräsident im Falle des Rücktritts des Bundeskanzlers den Bundestag ohne weiteres auflösen. Es müßten vielmehr mehrere Wahlgänge zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers stattfinden. Nur wenn bei keinem dieser Wahlgänge die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht wird, könnte der Bundestag aufgelöst werden.
    Der Bundeskanzler hat sich für den anderen Weg entschieden. Er hat im Bundestag einen Vertrauensantrag gestellt.
    Der Bundestag hat diesem Antrag am 17. Dezember die Zustimmung verweigert, und der Bundeskanzler hat mir daraufhin die Auflösung des Bundestages vorgeschlagen.
    Damit waren die im Grundgesetz ausdrücklich genannten Voraussetzungen für die Auflösung gegeben, und ich hatte nun zu prüfen, ob der eingeschlagene Weg verfassungsrechtlich gangbar ist, und wenn ja, ob die vorgeschlagene Auflösung des Bundestages auch unter politischen Gesichtspunkten richtig oder mindestens vertretbar ist ...
    Zunächst möchte ich klarstellen, daß ich den Bundestag nicht auflösen würde, wenn nach meiner Überzeugung eine Mehrheit im Bundestag sich auf diesem Weg Vorteile bei der Wahl unter Verletzung der Interessen der Minderheit verschaffen würde.
    Dieser Fall ist jedoch, so meine ich, nicht gegeben. Regierung und Koalitionsparteien haben sofort nach dem Regierungswechsel im Herbst Neuwahlen im März angekündigt. Ob der von ihnen für die Wahl ins Auge gefaßte Zeitpunkt unter wahltaktischen Gesichtspunkten für sie günstig ist, war damals und ist heute nicht vorhersehbar.
    Auch die Opposition hat ungeachtet ihrer Vorbehalte gegen den eingeschlagenen Weg keine Einwendungen gegen den Wahltermin erhoben.
    Die Bedenken gegen das eingeschlagene Verfahren aber greifen nach meiner Ansicht nicht durch.
    Zunächst ist es dem Bundespräsidenten nicht möglich festzustellen, aus welchen Gründen der einzelne Abgeordnete dem Bundeskanzler die Zustimmung versagt hat.
    Ich halte mich an die öffentlich vorgetragenen Begründungen. Danach haben die Koalitionsparteien der neuen Regierung von vornherein nur eine sachlich und zeitlich begrenzte Unterstützung zugesagt.
    Sie haben erklärt, sie wollten zunächst den Haushalt nebst einigen dazugehörigen Gesetzen durchbringen, dann aber Neuwahlen herbeiführen.


    BVerfGE 62, 1 (19):

    Dementsprechend hatte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion am 14. Dezember im Bundestag erklärt, daß seine Fraktion ohne Neuwahlen nicht bereit sei, diese oder eine andere Regierung künftig parlamentarisch zu unterstützen.
    Der Sprecher der FDP-Fraktion hat erklärt, daß der für das verabredete Regierungsprogramm ausgestellte Vertrauensbonus nunmehr aufgebraucht sei.
    In unserem letzten Gespräch vor zwei Tagen haben mir die Koalitionsparteien diese ihre Haltung nochmals nachdrücklich bestätigt.
    Das sind Tatsachen, an denen ich nicht vorübergehen kann. Aus ihnen gibt sich nach meiner Überzeugung, daß eine handlungsfähige parlamentarische Mehrheit zur Unterstützung der Regierungspolitik nicht mehr vorhanden ist.
    In dieser kritischen Situation, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher einmalig ist, erscheint mir die von allen Parteien erhobene Forderung nach Neuwahlen auch politisch begründet.
    Nun meinen manche, die Lage könnte nach dem 6. März noch schwieriger sein, als sie jetzt ist.
    Diese Möglichkeit kann in der Tat niemand ausschließen, und auch ich habe sie bedacht.
    Aber eine solche Ungewißheit ist beinahe mit jeder Wahl verbunden.
    Wenn aus anderen Gründen vorgezogene Neuwahlen gerechtfertigt erscheinen, dürfen sie nach meiner Meinung nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß ihr Ausgang ungewiß sei ..."
II.
1. Mit ihren am 17., 18. und 20. Januar 1983 eingegangenen Anträgen wenden sich die Antragsteller gegen die Anordnungen des Bundespräsidenten. Sie beantragen festzustellen, daß die am 7. Januar 1983 bekanntgemachte Anordnung des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983 über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages (BGBl. I S. 1) gegen Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt und die Antragsteller in ihrem durch Art. 38 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordnete verletzt hat oder unmittelbar gefährdet.
Die Antragsteller zu 1) und 4) erstrecken ihren Feststellungs

BVerfGE 62, 1 (20):

antrag auch auf die Anordnung des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983 (BGBl. I S. 2) über die Bundestagswahl.
Zur Begründung ihrer Anträge machen die Antragsteller - mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Aspekte - im wesentlichen geltend:
a) Die angegriffenen Maßnahmen seien geeignet, sie in ihrem durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordnete zu verletzen oder jedenfalls unmittelbar zu gefährden. Ihr Recht auf das Mandat erstrecke sich auf die Dauer der vollen Wahlperiode. Dieser Status dürfe nur in einer dem Grundgesetz entsprechenden Weise vorzeitig beendet werden. Eine gegen Art. 68 GG verstoßende vorzeitige Beendigung der Wahlperiode betreffe neben dem Bundestag auch den Status des einzelnen Abgeordneten.
Der Bundespräsident sei der richtige Antragsgegner, obgleich seine Anordnungen zu ihrer Wirksamkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers bedurft hätten; denn der Bundespräsident habe die verfassungsrechtlich erhebliche Entscheidung getroffen.
An der begehrten Feststellung bestehe auch ein Rechtsschutzinteresse, zumal der Bundespräsident die im Streit befindlichen Maßnahmen zurücknehmen könne und müsse, wenn das Bundesverfassungsgericht ihre Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt habe.
b) Die angegriffenen Maßnahmen zur Auflösung des Bundestages seien mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Der Bundespräsident hätte den Bundestag nicht auflösen dürfen, da die Voraussetzungen des Art. 68 GG materiell nicht vorgelegen hätten.
aa) Die Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG erfolge nur dann gemäß der Verfassung, wenn die Vertrauensfrage aus Anlaß einer aktuellen oder drohenden Konflikts- oder Krisenlage zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit gestellt werde. Der Bundeskanzler müsse mit der Vertrauensfrage den Zweck verfolgen, eine Konfliktsituation entweder durch Wiedererlan

BVerfGE 62, 1 (21):

gung einer verlorenen Mehrheit oder durch Stabilisierung einer labilen Mehrheit im Parlament, im Falle ihrer Verneinung womöglich auf dem Wege über Neuwahlen, zu bewältigen (sogenannte echte Vertrauensfrage). Art. 68 GG meine mithin nicht einen Antrag, den ein von einer Parlamentsmehrheit getragener Bundeskanzler in Übereinstimmung mit dieser Mehrheit allein zu dem Zweck stelle, durch die Auflösung des Bundestages Neuwahlen herbeizuführen (sogenannte unechte Vertrauensfrage).
Das inhaltliche Erfordernis einer Konflikts- oder Krisenlage als Voraussetzung für eine verfassungsmäßige Vertrauensfrage ergebe sich bei zutreffender Auslegung der Norm. Für dieses Auslegungsergebnis sprächen sowohl der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 GG als auch sein Zweck, wie er sich aus dem systematischen Zusammenhang mit anderen Normen des Grundgesetzes, aus Strukturprinzipien der Verfassung sowie der Entstehungsgeschichte der Norm und ihrem historischen Hintergrund ergebe.
Der Begriff "Vertrauen" deute, auch wenn man den parlamentarischen Sprachgebrauch zugrunde lege, auf das Bemühen des Bundeskanzlers als ein finales Moment hin, sich im Interesse der Stabilität seiner Regierung der politischen Übereinstimmung mit der Parlamentsmehrheit zu versichern. Eine auf die Verneinung der Vertrauensfrage gerichtete Absicht des Bundeskanzlers sei damit nicht vereinbar.
Die Art. 63, 67, 68 und 81 GG in Verbindung mit Art. 39 GG zeigten in ihrem systematischen Zusammenhang ebenso wie das Fehlen eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages, daß das Grundgesetz bestrebt sei, stabile Regierungen zu gewährleisten. Es lasse deshalb eine Auflösung des Bundestages nur an zwei Stellen zu, die als eng begrenzte Ausnahmefälle zu verstehen seien. Die Regierung sei im repräsentativen Parlamentarismus ganz auf das Verhältnis zum Parlament verwiesen, das auf vier Jahre gewählt werde und die Pflicht habe, regierungsfähige Mehrheiten zu bilden. Würden über Art. 68 GG Neuwahlen ermöglicht, obgleich eine regierungsfähige Mehrheit vorhanden sei, so käme dies einer vom Grundgesetz nicht gewollten Stärkung plebiszitär-

BVerfGE 62, 1 (22):

demokratischer Elemente und einer Beeinträchtigung des Gedankens des repräsentativen und freien Mandats des Abgeordneten gleich. Der Gedanke eines begrenzten Wählerauftrags sei dem deutschen Verfassungsrecht fremd.
Art. 63 GG habe für einen Bundeskanzler, der durch Rücktritt zu Neuwahlen gelangen wolle, hohe Hürden errichtet, die nicht über Art. 68 GG unterlaufen werden dürften. Auch die mehrere Auswege offenhaltende Regelung in Art. 68 Abs. 1 GG lasse klar erkennen, daß die Auflösung als ultima ratio nur in Betracht kommen solle, wenn der Bundestag zur Lösung der Krise durch Bildung einer neuen Mehrheit nicht mehr fähig sei.
Eine formale und weite Interpretation des Art. 68 GG in dem Sinne, daß eine Vertrauensfrage auch bei vorhandener parlamentarischer Mehrheit zur Herbeiführung von Neuwahlen benutzt werden könne, lasse Art. 68 GG zur bloßen "Abwicklungsnorm" für Neuwahlen werden. Sie führe zu einer mit dem Grundgesetz nicht zu vereinenden Stärkung der Stellung des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten. Dem Bundeskanzler werde damit die Möglichkeit gegeben, im Zusammenwirken mit einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - nur bedingt durch das Einverständnis des Bundespräsidenten - die vom Grundgesetz festgelegte Wahlperiode zu verkürzen und sich einen ihm genehmen Wahltermin auszusuchen.
Eine bloß formale Handhabung des Art. 68 GG hätte - wenn der Bundeskanzler zuvor durch ein konstruktives Mißtrauensvotum in sein Amt gelangt sei - zur Folge, Art. 67 GG seine legitimierende Kraft zu nehmen. Das konstruktive Mißtrauensvotum werde zu einem Zwischenspiel zur Herbeiführung von Neuwahlen über eine unechte Vertrauensfrage abgeschwächt; der gemäß Art. 67 GG gewählte Bundeskanzler werde zu einem bloßen Übergangskanzler. Zweck des konstruktiven Mißtrauensvotums sei es jedoch, eine Regierungskrise durch Bildung einer neuen stabilen Regierung zu beenden. Die Neuwahl des Bundeskanzlers gemäß Art. 67 GG solle zu einer verfassungsrechtlich vollwer

BVerfGE 62, 1 (23):

tigen Regierung führen und an der regelmäßigen Dauer der bereits laufenden Wahlperiode nichts ändern.
Eine nur formale Anwendung des Art. 68 GG laufe im Ergebnis auf die Anerkennung eines modifizierten Selbstauflösungsrechts des Bundestages hinaus. Die Begründung einer solchen Kompetenz setze jedoch eine ausdrückliche Änderung des Grundgesetzes voraus (Art. 79 Abs. 1 GG).
Die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG bestätigte die Auffassung, daß eine Vertrauensfrage bei vorhandener parlamentarischer Mehrheit für den Bundeskanzler nicht als Mittel zur Herbeiführung von Neuwahlen eingesetzt werden dürfe. Der Parlamentarische Rat habe unter dem Eindruck negativer Erfahrungen in der Weimarer Republik das Recht zur Auflösung des Bundestages so weit wie möglich einengen wollen. Bei den Beratungen des jetzigen Art. 68 GG im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates sei man stets davon ausgegangen, daß die Vertrauensfrage in einer parlamentarischen Krise, d.h. von einem seiner Mehrheit verlustig gegangenen Bundeskanzler gestellt werde. Einzelne Äußerungen im Parlamentarischen Rat, die für sich genommen zu einem gegenteiligen Verständnis führen könnten, besagten, in den richtigen Zusammenhang gestellt, nichts anderes.
Art. 68 GG habe auch nicht durch einen von der Verfassungswirklichkeit ausgehenden Verfassungswandel einen anderen Inhalt erlangt. Weder die in der politischen Praxis wirksamen plebiszitären und parteienstaatlichen Kräfte noch der Wunsch der politischen Parteien nach "Legitimation durch den Wähler", wie er nach dem Koalitionswechsel der F.D.P. allseits bekräftigt worden sei, hätten einen solchen Wandel des normativen Gehalts des Art. 68 GG bewirken können. Die Regelungen in Art. 63, 67 und 68 GG seien eindeutig und ließen eine stärkere Berücksichtigung plebiszitärer Elemente nur im Wege der Verfassungsänderung zu. In diesem Sinne seien auch die Vorschläge der Enquete- Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages für die Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages zu verstehen. Die Auflösung des Bundestages im Jahre 1972 habe

BVerfGE 62, 1 (24):

einen Wandel im Verständnis des Art. 68 GG schon deshalb nicht herbeiführen können, weil der Bundeskanzler damals über keine Mehrheit im Bundestag verfügt habe. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Auflösung sei überdies umstritten.
bb) Im vorliegenden Fall habe eine materielle Auflösungslage im Sinne einer Krise zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit nicht bestanden. Aus der Neuwahlabsprache vom 20. September 1982 zwischen den neuen Koalitionsparteien CDU, CSU und F.D.P. sowie aus den Erklärungen der Fraktionssprecher im Bundestag aus Anlaß der Vertrauensfrage gehe unbezweifelbar hervor, daß die Abgeordneten der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. dem Bundeskanzler am 17. Dezember 1982 nur deswegen mehrheitlich nicht das Vertrauen ausgesprochen hätten, weil sie eine ansonsten nicht vorhandene Auflösungssituation hätten herbeiführen wollen, um auf diese Weise den Weg für die "versprochenen" Neuwahlen freizumachen. Das Bestehen einer Auflösungslage sei von den Fraktionssprechern der CDU/CSU und F.D.P. allein deshalb behauptet worden, um dem Art. 68 GG der Form nach zu genügen. Fakten für eine tatsächliche Krisensituation seien nicht erkennbar. Die Umstände ließen vielmehr den sicheren Schluß zu, daß der Bundeskanzler die politische Unterstützung der Bundestagsmehrheit am 17. Dezember 1982 nicht verloren habe. Er sei erst am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Mißtrauensvotum in sein Amt gewählt worden. In der Zeit bis zum 17. Dezember 1982 seien keine Ereignisse eingetreten, welche die politische Unterstützung des Bundeskanzlers durch die Mehrheitsfraktionen in Frage gestellt hätten. Vielmehr sei noch am 16. Dezember 1982 das Haushaltsgesetz 1983 mit klarer Mehrheit verabschiedet worden. Überdies hätten die Koalitionsfraktionen und -parteien ihre Absicht bekundet, auch nach der angestrebten Neuwahl die Koalition mit demselben Bundeskanzler fortzusetzen.
Der Hinweis auf den in der Koalitionsabsprache enthaltenen, nur begrenzten Regierungsauftrag und auf das "Verbrauchtsein" der politischen Unterstützung für den Bundeskanzler führe zu

BVerfGE 62, 1 (25):

keiner abweichenden Beurteilung. Man habe damit lediglich die äußere Form der Auflösungssituation darzustellen versucht, um alsdann durch ein einmaliges Nichtbestätigen einer kurz zuvor noch bewiesenen Mehrheit die Chance auf eine vierjährige Fortdauer der weiterbestehenden Koalition zu erlangen. Eine solche "Begrenzung des Vertrauens" sei mit Art. 67 GG unvereinbar; sie verstoße gegen Geist und Sinn des Art. 68 GG und sei deshalb unbeachtlich. Was Art. 67 GG verwehre, dürfe über Art. 68 GG nicht zu einer legalen und legitimen Möglichkeit werden. Im übrigen seien begrenzte Absprachen und Differenzen in Sachfragen nicht untypisch für Koalitionen und deshalb nicht ohne weiteres als Ausdruck einer instabilen Mehrheit anzusehen. Auch die Auffassung der neuen Koalitionsregierung, angesichts der Schwere der von ihr zu bewältigenden Probleme benötige sie den Zeitraum einer vollen vierjährigen Wahlperiode, vermöge die Begrenzung des Vertrauens verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Das Grundgesetz kenne kein Instrumentarium zur Verbesserung der Legitimitätsgrundlage einer handlungsfähigen Regierung nach den Erfordernissen der jeweiligen politischen Lage. Kein Verfassungsorgan, auch nicht das Parlament, dürfe sich nach dem Willen des Grundgesetzes seiner Verantwortung vorzeitig entziehen.
Unerheblich sei in diesem Zusammenhang schließlich, daß die vom Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen angestrebte Neuwahl auch von der Oppositionsfraktion gefordert werde. Das Einverständnis aller Bundestagsfraktionen sei ein Merkmal, das dem Art. 68 GG wesensfremd sei. Soweit seine Voraussetzungen erfüllt seien, verlange Art. 68 GG, anders als das Institut der Selbstauflösung, keine Rücksichtnahme auf parlamentarische Minderheiten.
cc) Der Bundespräsident habe gemäß Art. 68 GG die Befugnis und die Pflicht, die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 GG und damit die Rechtmäßigkeit der vor seiner Ermessensentscheidung liegenden Rechtshandlungen zu prüfen. Fehle es an einer dieser Voraussetzungen, so dürfe er die Auflösung des Bundes

BVerfGE 62, 1 (26):

tages nicht anordnen. Da dem Bundespräsidenten eine eigene Entscheidungskompetenz zustehe, seien fehlende materielle Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 68 GG ihm zuzurechnen. Zwar habe der Bundespräsident - ebenso wie der Bundeskanzler und der Bundestag - bei der Beurteilung der materiellen Auflösungssituation einen Einschätzungs- oder Beurteilungsspielraum. Liege die Auflösungssituation aber - wie hier - evident nicht vor, so sei er verpflichtet, die Auflösungsanordnung zu unterlassen. Eine Abschwächung der Prüfungspflicht des Bundespräsidenten aus Respekt vor den Entscheidungen der anderen beteiligten Verfassungsorgane Bundeskanzler und Bundestag sei nicht anzuerkennen, da die Auflösung des Bundestages in die Rechtsstellung der einzelnen Abgeordneten eingreife.
Das Bundesverfassungsgericht sei im Organstreitverfahren befugt, das Fehlen rechtlicher Tatbestandsmerkmale des Art. 68 GG festzustellen.
2. Der Bundespräsident als Antragsgegner beantragt, die Anträge zurückzuweisen. Er tritt ihrer Zulässigkeit nicht entgegen, hält sie indes jedenfalls für unbegründet:
Die Verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Deutschen Bundestages seien sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinne nach erfüllt.
a) Der Einwand, der Bundeskanzler habe keine "echte" Vertrauensfrage gestellt, finde in Art. 68 GG keine Stütze. Diese Bestimmung unterscheide nicht zwischen "echter" und "unechter" Vertrauensfrage. Der Wortlaut des Art. 68 GG, der ein bedeutsames Verfahren regle und wichtige Kompetenzen zuweise, müsse einen hohen Rang einnehmen. Auch die Entstehungsgeschichte spreche bei unbefangener Auslegung eher dafür, daß der Parlamentarische Rat die sogenannte unechte Vertrauensfrage nicht habe ausschließen wollen. Schließlich habe auch Bundeskanzler Brandt im Jahre 1972 bei seiner Vertrauensfrage deren Verneinung beabsichtigt und für den Eintritt des gewünschten Ergebnisses Vorsorge getroffen.
b) Die Bundestagsmehrheit, die den Bundeskanzler am 1. Ok

BVerfGE 62, 1 (27):

tober 1982 gewählt habe, habe auch nicht über die Abstimmung vom 17. Dezember 1982 hinaus fortbestanden. Tatsächlich habe der Bundeskanzler am 17. Dezember im Deutschen Bundestag keine Unterstützung mehr für seine Politik vorgefunden. Dies ergebe sich aus den Erklärungen der Sprecher der Koalitionsfraktionen im Bundestag, die auf den nur begrenzten Regierungsauftrag hingewiesen hätten, und aus den von ihm, dem Bundespräsidenten, mit den Fraktionsvorsitzenden geführten Gesprächen. Angesichts der Ernsthaftigkeit und der Unerschütterlichkeit des von den Koalitionsparteien eingenommenen Standpunktes habe er davon ausgehen müssen, daß eine - vom Grundgesetz gewollte und politisch erstrebenswerte - stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr habe zustande gebracht werden können. Von welchen, sicherlich unterschiedlichen, Motiven sich die einzelnen Abgeordneten bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage hätten leiten lassen, habe er nicht feststellen können. Schließlich hätten auch sachliche Differenzen zwischen den Koalitionsparteien bestanden. Der Bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU habe in der Debatte über die Regierungserklärung ausgeführt, diese sei auch darauf abgestellt, kontroverse Themen zwischen den Unionsparteien und der F.D.P. "auszuklammern".
In der Überzeugung, daß die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG auch materiell erfüllt gewesen seien, habe er sich dadurch bestärkt gesehen, daß der Bundeskanzler, der Bundesminister des Inneren und die Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. seine Auffassung geteilt hätten. Der Rechtsauffassung dieser Organe, die in die Verantwortung des Art. 68 GG einbezogen seien, komme großes Gewicht zu. Die Fraktion der SPD habe zwar Bedenken gegen das eingeschlagene Verfahren vorgebracht, dieses aber nie als verfassungswidrig bezeichnet. Bei seiner Prüfung der Voraussetzungen habe einen ganz besonderen Stellenwert die evidente Tatsache eingenommen, daß es keinen Anhaltspunkt für die Annahme gegeben habe, eine Mehrheit im Bundestag wolle sich auf Kosten einer Minderheit unlautere Vorteile verschaffen. Der eher verfassungspolitische

BVerfGE 62, 1 (28):

Einwand, das beanstandete Verfahren könne zu Wiederholungen auffordern, sei nicht begründet, da die Hürden des Art. 68 GG nicht leicht zu überwinden seien und stets geprüft werden müsse, ob vitale Interessen der Bundestagsfraktionen mißachtet würden.
Schließlich sei die Auflösung des Bundestages auch unter politischen Gesichtspunkten richtig, mindestens aber vertretbar gewesen. Die Bundesrepublik Deutschland habe sich nach dem Koalitionswechsel der F.D.P., der diese Partei in eine "dramatische Zerreißprobe" geführt habe, in einer politischen Krise befunden, die zudem mit einer wirtschaftspolitischen Krise einhergegangen sei.
3. Nach Auffassung der Bundesregierung ist die beanstandete Auflösung des 9. Deutschen Bundestages mit Art. 68 GG vereinbar.
a) Der Vertrauensantrag des Bundeskanzlers sei entsprechend dem Wortlaut dieser Bestimmung keinen rechtlichen Voraussetzungen unterworfen; auf die Beweggründe für diesen Antrag komme es nicht an. Auch die Motive der einzelnen Abgeordneten für ihre Abstimmungsentscheidung entzögen sich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung. Die Abgeordneten seien gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nur ihrem Gewissen unterworfen; ihre Entscheidungen seien höchstpersönlich und von den Partei- und Fraktionsführungen unabhängig. Der Vertrauensantrag des Bundeskanzlers sei zwar ein notwendiges Verfahrenselement, dränge aber die bedeutsame Stellung des Bundestages und die Entscheidung des Bundespräsidenten nicht in den Hintergrund.
Ungeschriebene materiellrechtliche Schranken für das Verfahren gemäß Art. 68 GG bedürften der Rechtfertigung durch besonders schwerwiegende Gründe. Art. 68 GG gehöre zu den staatsorganisationsrechtlichen Vorschriften, bei denen es auf die subjektiven Beweggründe der für die staatlichen Organe handelnden Personen aus Gründen der Rechtssicherheit regelmäßig nicht ankomme.
Der Vertrauensantrag vom 13. Dezember 1982 entspreche aber auch dem Geist des Grundgesetzes. Der Begriff des "Vertrauens"

BVerfGE 62, 1 (29):

sei moralisch überfrachtet. Es gehe bei der Vertrauensabstimmung primär nicht um das Vertrauen in die Person des Bundeskanzlers, sondern um die Feststellung, ob der Bundeskanzler noch die für ein Weiterregieren, d.h. die zur Verwirklichung eines Sachprogramms erforderliche Mehrheit im Bundestag hinter sich habe. Von einer tragfähigen "Regierungsprogrammehrheit" könne nur gesprochen werden, wenn damit zu rechnen sei, daß die Regierung für ihre Politik mit der Zustimmung einer ausreichenden Mehrheit der Abgeordneten rechnen könne. Stabile Mehrheiten könnten deshalb nicht allein durch die Addition der Mitgliederzahlen der koalierenden Fraktionen ermittelt werden.
b) Der Bundeskanzler habe nicht mehr die für ein Weiterregieren erforderliche Mehrheit im Bundestag. Dies sei das Ergebnis der Abstimmung über die Vertrauensfrage vom 17. Dezember 1982. Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. sei nur zur Erfüllung eines gegenständlich und zeitlich begrenzten Auftrags gebildet worden. Wesentliche Sachfragen, z.B. aus den Bereichen der Innen- und Rechtspolitik, seien aus den Koalitionsvereinbarungen ausgeklammert worden. Kontroverse Auffassungen in wichtigen Sachfragen bestünden fort.
Der Bundeskanzler habe den Vertrauensantrag nicht nur zur Erfüllung eines von den Koalitionsparteien vereinbarten Neuwahlversprechens gestellt. Die Neuwahlen seien vielmehr nur deshalb ins Auge gefaßt worden, weil sich die Koalitionsparteien nur auf ein begrenztes Sachprogramm verständigt hätten. Die Neuwahl solle nicht irgendwelche Zweifel hinsichtlich der Legitimität der Wahl des Bundeskanzlers durch das konstruktive Mißtrauensvotum beseitigen, sondern die Bildung einer Bundesregierung aufgrund einer Regierungsprogrammehrheit im Parlament ermöglichen.
Der Vertrauensantrag sei unter den gegebenen Umständen nicht rechtsmißbräuchlich, zumal mit ihm auch nicht der Zweck verfolgt worden sei, den günstigsten Zeitpunkt für Neuwahlen zu nutzen, um eine bestehende Regierungsmehrheit weiter auszubauen. Die Bestätigung der gegenwärtigen Regierung durch den

BVerfGE 62, 1 (30):

Wähler könne keineswegs als sicher angesehen werden; außerdem strebten alle im Bundestag vertretenen Parteien Neuwahlen an.
Die Auflösung des Bundestages stehe auch in Einklang mit Sinn und Zweck des Art. 68 GG. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie werde nicht aus den Angeln gehoben, da dem Bundestag als zentralem Repräsentativorgan des parlamentarischen Regierungssystems im Rahmen des Art. 68 GG eine entscheidende Funktion zukomme. Die Verfassung müsse das politische Faktum respektieren, daß Koalitionsparteien eine Entscheidung für so bedeutungsvoll ansähen, daß sie sich ohne Bundestagsneuwahl nicht in der Lage sähen, einen Kompromiß einzugehen. Der Einwand, die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages stelle eine Umgehung des Verbots einer Selbstauflösung dar, gehe fehl. Im Falle des Art. 68 GG hänge die Auflösung des Bundestages nicht allein von dessen Entschließung ab, sondern zusätzlich von den Entscheidungen des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten. Die beanstandete Maßnahme entfalte keine Präzedenzwirkung in dem Sinne, daß die Bundesregierung künftig mehr oder weniger beliebig einen ihr genehmen Zeitpunkt auswählen könne, in dem Neuwahlen stattfinden sollten. Die Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 GG komme nur in Ausnahmesituationen in Betracht.
Art. 67 GG werde nicht unterlaufen. Diese Bestimmung sehe nicht vor, daß eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages nur dann den Bundeskanzler durch Wahl eines Nachfolgers ablösen könne, wenn diese sich auf ein umfassendes Regierungsprogramm geeinigt habe. Schließlich werde durch die beanstandete Maßnahme auch nicht Art. 63 GG ausgehöhlt, der die Möglichkeit der Bundestagsauflösung nach dem Rücktritt des Bundeskanzlers eröffne. Für die Koalitionspartner sei es nicht darum gegangen, die Eignung des Bundeskanzlers für dieses Amt in Frage zu stellen. Auch habe bei der gegebenen Parteienkonstellation keine Fraktion angestrebt, den Bundeskanzler über Art. 63 GG durch einen anderen Bewerber zu ersetzen.
 


BVerfGE 62, 1 (31):

B.
Die Anträge sind zulässig.
1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG gegeben. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.
a) Zwischen dem Bundespräsidenten als oberstem Bundesorgan und den Antragstellern als durch das Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) mit eigenen Rechten ausgestatteten anderen Beteiligten im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (vgl. BVerfGE 60, 374 [378] m.w.N.) besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten aus Art. 68 Abs. 1 GG einerseits und aus dem Abgeordnetenstatus der Antragsteller (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG) andererseits.
b) Ein verfassungsrechtliches Verhältnis, das Gegenstand eines Organstreits im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sein kann, wird nicht nur durch die vom Bundespräsidenten angeordnete Auflösung des Bundestages, sondern auch durch die Bestimmung des Wahltages begründet. Die Befugnis des Bundespräsidenten, den Wahltag zu bestimmen, ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz, sondern aus § 16 BWahlG. Die Anordnung der Neuwahl wird aber als staatsorganisatorischer Akt mit Verfassungsfunktion (vgl. BayVerfGH N. F. 27, 119 [124 f.]) von der Verfassung in Art. 39 Abs. 1 und 2 GG vorausgesetzt. Als eine Annex-Entscheidung der Bundestagsauflösung teilt sie deren rechtliches Schicksal.
2. Der einzelne Abgeordnete des Bundestages ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Organstreitverfahren parteifähig im Sinne von § 63 BVerfGG, soweit er - wie hier - mit seinem verfassungsrechtlichen Status verbundene Rechte geltend macht (vgl. BVerfGE 43, 142 [148]; 60, 374

BVerfGE 62, 1 (32):

[379]). Dies gilt auch dann, wenn - worauf der Bundespräsident in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat - der Organstreit das politisch ausgewogene und verfassungsrechtlich festgelegte System der Kompetenzen von Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident betrifft.
3. Die Antragsteller sind antragsbefugt (§ 64 Abs. 1 BVerfGG).
a) Im Organstreit kann der einzelne Abgeordnete die behauptete Verletzung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, im eigenen Namen geltend machen (vgl. BVerfGE 2, 143 [166]; 4, 144 [151]; 10, 4 [10 f.]; 43, 142 [149]; 60, 374 [379]). Dies gilt erst recht, wenn es nicht um einzelne Rechte aus dem Status, sondern um den Status selbst geht (vgl. BVerfGE 6, 445 [448 f.]).
b) Die Antragsteller sind in ihrer Rechtsstellung als Abgeordnete unmittelbar betroffen; sie können insoweit auch in eigenen Rechten verletzt sein.
Die in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG festgelegte Dauer der Wahlperiode bringt nicht nur zum Ausdruck, in welchen Abständen die demokratische Legitimation der Volksvertretung durch die Wähler (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) erneuert werden muß; die zeitliche Festlegung der Wahlperiode auf vier Jahre soll von Verfassungs wegen dem Bundestag als zentralem demokratischen Verfassungsorgan auch die wirksame und kontinuierliche Erfüllung seiner Aufgabe ermöglichen. An dieser Gewährleistung hat der Status des einzelnen Abgeordneten notwendigerweise Anteil. Daraus folgt: Ebensowenig wie die laufende Wahlperiode außerhalb des in der Verfassung vorgesehenen Verfahrens verlängert werden darf (vgl. BVerfGE 1, 14 [33]; 18, 151 [154]), darf sie entgegen den Bestimmungen des Grundgesetzes verkürzt werden. Eine solche Verkürzung würde zugleich in den vom Grundgesetz gewährleisteten Status des Abgeordneten eingreifen.
Zwar richtet sich die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten - dem Wortlaut des Art. 68 GG folgend - nur gegen den Bundestag. Sie zieht jedoch letztlich das Erlöschen der Mandate aller Abgeordneten nach sich. Spätestens am dreißigsten Tage

BVerfGE 62, 1 (33):

nach der vom Bundespräsidenten bestimmten Wahl muß der neue Bundestag zusammentreten (Art. 39 Abs. 2 GG); damit endet die Wahlperiode des alten Bundestages (Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG). Dies gilt auch dann, wenn der Bundestag aufgelöst wird (BTDrucks. 7/5491 S. 6, b II 1).
4. Die Organklagen richten sich gegen den Bundespräsidenten. Dies ist zulässig. Der Bundespräsident ist nach § 63 BVerfGG parteifähig. Es ist auch schlüssig vorgetragen, daß er nach Art. 68 Abs. 1 GG die rechtliche Verantwortung für die Anordnungen vom 6. Januar 1983 trägt, gegen die sich die Antragsteller wenden.
Dem steht nicht entgegen, daß die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten und die Bestimmung des Wahltages gemäß Art. 58 GG der Gegenzeichnung bedürfen. Der Bundespräsident wird nicht deshalb seiner verfassungsrechtlichen Pflichten und seiner rechtlichen Verantwortlichkeit ledig, weil die Gegenzeichnung des Bundeskanzlers Wirksamkeitsvoraussetzung der Bundestagsauflösung ist und sie vom Bundeskanzler - etwa aufgrund zwischenzeitlich veränderter Umstände - ungeachtet seines Antrags und Vorschlags gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG noch verweigert werden könnte. Die Gegenzeichnung des Bundeskanzlers bringt lediglich zum Ausdruck, daß er die politisch-parlamentarische Verantwortlichkeit für die Maßnahme des Bundespräsidenten übernimmt. Sie hindert nicht daran, die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Anordnung des Bundespräsidenten, wie sie hier vorliegt, zum Gegenstand einer gegen ihn gerichteten Organstreitigkeit zu machen.
5. Die Antragsteller haben ersichtlich ein Rechtsschutzinteresse an der begehrten Entscheidung.
6. Die Form- und Fristerfordernisse (§ 64 Abs. 2 und 3 BVerfGG) sind erfüllt.
 
C.
Die Anträge sind unbegründet. Die Anordnungen des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983 über die Auflösung des 9. Deut

BVerfGE 62, 1 (34):

schen Bundestages und über die Festsetzung der Wahl zum Deutschen Bundestag auf den 6. März 1983 verstoßen nicht gegen das Grundgesetz. Sie sind mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar. Sie verletzen oder gefährden die Antragsteller nicht in ihrem durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Status als Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
I.
Gemäß den Anträgen der Antragsteller sind Entscheidungsgegenstand der vorliegenden Organstreitverfahren die bezeichneten Anordnungen des Antragsgegners vom 6. Januar 1983 über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages und die Festsetzung der Wahl zum Deutschen Bundestag auf den 6. März 1983. Die Verfassungsmäßigkeit der Anordnung über die Festsetzung der Neuwahl hängt im vorliegenden Fall ausschließlich von der Verfassungsmäßigkeit der Auflösungsanordnung ab; Gründe, die daneben selbständig die Verfassungswidrigkeit der Festsetzung der Neuwahl bewirken könnten, sind nicht ersichtlich und von den Antragstellern auch nicht geltend gemacht worden.
Prüfungsmaßstäbe für die Anordnungen des Bundespräsidenten sind Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 und Art. 68 GG. Der Status der Antragsteller als Abgeordnete gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wäre verletzt, wenn diese Anordnungen gegen Art. 68 GG verstießen.
1. Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen, nachdem ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gefunden hat. Das Recht zur Auflösung kann nur binnen 21 Tagen ausgeübt werden. Es erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt (Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG). Zwischen dem Antrag des Bundeskanzlers und der Abstimmung im Bundestag müssen 48 Stunden verstrichen sein (Art. 68 Abs. 2 GG). Die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten bedarf gemäß Art. 58 Satz 1

BVerfGE 62, 1 (35):

GG zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler.
2. Die Anordnung der Auflösung oder ihre Ablehnung ist eine politische Leitentscheidung, die dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten obliegt. Dies folgt schon aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG, der davon spricht, daß der Bundespräsident den Bundestag auflösen kann; demgegenüber bestimmt zum Beispiel Art. 67 GG, daß der Bundespräsident auf Ersuchen des Bundestages den im Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums gestürzten Bundeskanzler entlassen und seinen gewählten Nachfolger zum Bundeskanzler ernennen muß. Für ein Ermessen des Bundespräsidenten spricht auch das Sinngefüge des Art. 68 GG insgesamt: Die Vorschrift ermöglicht die Auflösung nur, wenn drei oberste Verfassungsorgane - Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident - in einem gestuften Verfahren jeweils selbständige politische Beurteilungen gefällt haben. Der Sinn dieses Gefüges kann nur sein zu verwehren, daß die Auflösung des Bundestages von einem der beteiligten obersten Verfassungsorgane allein angestrebt und bewirkt werden kann; sie soll nur möglich sein über ein Zusammenwirken und unter der gegenseitigen politischen Kontrolle aller Beteiligten. Dies legt einen selbständigen politischen Beurteilungs- und Handlungsbereich auch des Bundespräsidenten nahe, der, wie auch die Art. 63 Abs. 4 und 81 GG belegen, in diesem politischen Spannungsfeld nicht auf bloße Repräsentationsaufgaben und Vollzugsakte beschränkt ist.
3. Ein Ermessen im Rahmen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ist dem Bundespräsidenten freilich nur dann eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Die Verfassungsmäßigkeit seiner Entscheidung hängt mithin davon ab, daß die Tatbestandsmerkmale des Art. 68 GG in verfassungsmäßiger Weise erfüllt sind. Art. 68 GG normiert einen zeitlich gestreckten Tatbestand; an seinem Schluß steht, wenn das Verfahren nicht schon vorher sein Ende findet, die Entscheidung des Bundespräsidenten. Verfas

BVerfGE 62, 1 (36):

sungswidrigkeiten, die auf den zeitlich vorangehenden Stufen eingetreten sind, wirken auf die Entscheidungslage fort, vor die der Bundespräsident nach dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers gestellt ist. Sind die formellen oder materiellen Tatbestandserfordernisse des Art. 68 GG nicht in verfassungsgemäßer Weise erfüllt, darf der Bundespräsident den Bundestag nicht auflösen; insoweit ist ihm ein Ermessen nicht eröffnet.
II.
Es ist zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht umstritten, daß die dem Wortlaut der Vorschrift zu entnehmenden Verfahrensschritte bis zur Auflösungsanordnung vom 6. Januar 1983 vorlagen. Die Antragsteller ziehen indes in Zweifel, daß damit auch schon den Tatbestandserfordernissen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG genügt war. Nach ihrer Rechtsauffassung ist eine Auflösungsanordnung nur dann verfassungsmäßig, wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit dem Ziel stellt, hierfür die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zu erhalten und damit eine politische Regierungskrise abzuwenden. Sie betrachten dies als in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenes Tatbestandserfordernis; es müsse mithin in diesem Sinne eine materielle Auflösungslage gegeben sein.
1. Der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG enthält ein solches Tatbestandsmerkmal nicht. Es liegt insbesondere nicht im Sinne des Wortes "Vertrauen" beschlossen, das in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG verwendet ist. Der verfassungsrechtliche Sinn dieses Begriffs im Grundgesetz ist verfassungsgeschichtlich bestimmt. Er war - zusammen mit dem Begriff der "Verantwortlichkeit" des Reichskanzlers - der zentrale Begriff bei der verfassungsrechtlichen Einführung des parlamentarischen Regierungssystems auf Reichsebene, zunächst gegen Ende des Kaiserreichs durch das Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918 (RGBl. S. 1274), wonach der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedurfte und für seine

BVerfGE 62, 1 (37):

Amtsführung auch dem Reichstag verantwortlich wurde (Art. 15), und sodann in der Weimarer Reichsverfassung, wonach der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedurften und jeder von ihnen zurücktreten mußte, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzog (Art. 54).
Vertrauen in diesem Sinne bedeutete, daß die Reichsregierung in ihrem Fortbestand vom Reichstag abhängig sein sollte und durch die Verweigerung des Vertrauens vermittels eines förmlichen Beschlusses zum Rücktritt gehalten war. Positiv ausgesprochen bekundete es förmlich die Bereitschaft des Reichstages, die Person des Reichskanzlers und sein vorgelegtes Regierungsprogramm parlamentarisch zu unterstützen; negativ, in Form der Verweigerung des Vertrauens oder des förmlichen Mißtrauensvotums, bekundete es den Verlust dieser Unterstützung und zog von Verfassungs wegen den Rücktritt der Regierung oder des einzelnen Ministers nach sich. Als abgeschwächte Form wurde es seit 1920 im Wege von Tolerierungsbeschlüssen gegenüber Minderheitsregierungen in unterschiedlichsten Varianten gehandhabt (vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI [1981], S. 329 ff.).
Auch im Rahmen des Art. 68 GG meint Vertrauen die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers, mithin die förmliche Kundgabe der Bereitschaft, das zumindest in Umrissen vorgezeichnete Regierungsprogramm oder ein konkretes Verhalten, mit dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verbindet, grundsätzlich zu unterstützen. In diesem Sinne liegt auch der Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG die Kundgabe parlamentarischen Vertrauens zugrunde. Daß im parlamentarischen System dieses "Vertrauen" mit jeder neuen politischen Entwicklung, einschließlich jeder neuen Beurteilung und Einschätzung der gegebenen politischen Lage, durch die Abgeordneten in Frage gestellt werden kann, also von Natur aus nicht auf Dauer versichert wird, versteht sich letztlich im Blick

BVerfGE 62, 1 (38):

auf die Gewährleistung des repräsentativen freien Abgeordnetenmandats in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG von selbst.
Für den Begriff des Mißtrauens in Art. 67 GG gilt nichts anderes. Er enthält keinen Vorwurf mangelnder Pflichterfüllung an einen Bundeskanzler, sondern besagt nur, daß die Mehrheit der Abgeordneten nicht mehr gewillt ist, den bisherigen Kanzler oder sein Regierungsprogramm weiterhin parlamentarisch zu unterstützen oder wenigstens zu dulden. Art. 68 GG gilt für jeden Bundeskanzler, nicht lediglich für den "Minderheitskanzler", der Neuwahlen anstrebt. Aus seinem Wortlaut läßt sich nicht herleiten, daß der Bundeskanzler einen Vertrauensantrag allein mit dem Ziel stellen darf, die parlamentarische Unterstützung seiner Regierung herbeizuführen oder zu festigen; der Wortlaut allein schließt es nicht aus, daß hinter der Vertrauensfrage von vornherein der politische Wille stehen darf, auf diesem Wege zur Auflösung des Bundestages zu gelangen, und daß die Abgeordneten mit ihrer Stimmabgabe diesen Weg eröffnen sollen. Denn der Bundestag steht bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage notwendigerweise vor der Alternative, entweder das Vertrauen auszusprechen oder den Weg zu Neuwahlen zu eröffnen. Die Verweigerung des Vertrauens in einer Abstimmung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG verwehrt es mithin nicht, daß der Abgeordnete willens sein darf, den bisherigen Bundeskanzler später - eventuell auch nach Neuwahlen - wieder zum Bundeskanzler zu wählen und parlamentarisch zu unterstützen.
2. Damit ist jedoch nur gesagt, daß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG von seinem Wortlaut her sich zunächst als eine offene Vorschrift darstellt. Ihr Sinn erschließt sich erst durch die in ihr selbst angelegte Systematik und den Sinnbezug, der sich aus ihrer Stellung und ihrem Stellenwert im gesamten Verfassungsgefüge ergibt; dieser Sinnbezug wird nicht zuletzt auch durch den verfassungsgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die Regelung geschaffen wurde, wie auch durch ihre bisherige Handhabung durch oberste Verfassungsorgane seit Inkrafttreten des Grundgesetzes erhellt.
Die Berücksichtigung der Handhabung einer Verfassungsnorm

BVerfGE 62, 1 (39):

durch oberste Verfassungsorgane bei ihrer Sinnbestimmung bedeutet nicht schon, den Rechtswert, der sich im Verfassungsrecht ausdrückt, den jeweiligen Machtverhältnissen auszuliefern. Sie anerkennt vielmehr den Umstand, daß Verfassungsnormen wegen der Eigenart der von ihnen geregelten Sachverhalte oftmals einen sehr hohen Grad an Allgemeinheit aufweisen, der der Konkretisierung bedarf, noch ehe die Norm auf Einzelfälle anwendungsfähig wird, ein Befund, wie er auch in anderen Sachbereichen der Rechtsordnung nicht selten anzutreffen ist. Die Befugnis zu solcher Konkretisierung obliegt für das Bundesverfassungsrecht nicht allein dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch anderen obersten Verfassungsorganen. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Konkretisierung die bereits vorgegebenen Wertungen, Grundentscheidungen, Grundsätze und Normen der Verfassung zu wahren sind. Verfassungsdurchbrechungen sind auch auf diesem Wege nicht zulässig. Da es sich dabei indes um die Konkretisierung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Staates handelt, ist zumal ein hohes Maß an Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen wie verfassungspolitischen Beurteilung und Bewertung der in Rede stehenden Sachverhalte zwischen den möglichen betroffenen obersten Verfassungsorganen unabdingbar und eine auf Dauer angelegte, stetige Handhabung unerläßlich. Diese Übereinstimmung kann für die Auslegung der Verfassung von Gewicht sein. Eine politisch umkämpfte und rechtlich umstrittene Praxis von Parlaments- und Regierungsmehrheiten reicht als solche hierfür nicht aus.
a) Die schon in Art. 68 GG selbst angelegte Systematik wie auch seine Stellung im weiteren Verfassungsgefüge machen deutlich, daß diese Norm vornehmlich darauf angelegt ist, während der laufenden Wahlperiode eines Bundestages einem amtierenden Bundeskanzler zu ermöglichen, ausreichende parlamentarische Unterstützung zu gewinnen oder zu festigen; sie will eine vorschnelle Auflösung des Bundestages verhindern und damit zu politischer Stabilität im Verhältnis von Bundeskanzler und Bundestag - freilich nicht zu politischer Unbeweglichkeit - beitragen.

BVerfGE 62, 1 (40):

So fordert Art. 68 GG nicht nur, daß drei verschiedene oberste Verfassungsorgane - Bundeskanzler, Bundestag, Bundespräsident - aufgrund jeweils eigenständiger Beurteilung mitentscheiden; Bundeskanzler wie Bundestag sind in der Lage und gehalten, falls politische Umstände dies erfordern, das Verfahren zur Auflösung des Bundestages auch dann noch abzubrechen, wenn der Vertrauensantrag keine mehrheitliche Zustimmung gefunden hat. Der Bundeskanzler kann davon absehen, dem Bundespräsidenten einen Auflösungsvorschlag zu unterbreiten; der Bundestag kann den Weg zu seiner Auflösung noch jederzeit dadurch verstellen, daß er nach Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG einen neuen Bundeskanzler wählt; kein Bundestag wird leichthin über die Vertrauensabstimmung den Weg zu seiner Auflösung freigeben, kehrt doch erfahrungsgemäß bei Neuwahlen ein beträchtlicher Teil der bisherigen Abgeordneten nicht ins Parlament zurück. Der Bundespräsident ist nicht gehalten, dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers zu entsprechen; 21 Tage nach der Abstimmung erlischt sein Auflösungsrecht. Der Bundeskanzler schließlich kann - etwa bei zwischenzeitlicher Veränderung der politischen Ausgangslage - die Gegenzeichnung der Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten verweigern. Hinzu kommt:
b) Das Grundgesetz hat ein parlamentarisches Regierungssystem normiert, das stärker ausgeprägt und zugleich mehr auf Stabilität der Regierung angelegt ist als unter der Weimarer Reichsverfassung. Die Bestimmung des Bundeskanzlers ist, anders als die des Reichskanzlers unter der Bismarck'schen wie unter der Weimarer Reichsverfassung, grundsätzlich in die Hände des Parlaments gelegt (Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG); die Abberufung des Kanzlers ist nicht einfach als Sturz, sondern nur als Ersetzung, wiederum nur durch das Parlament, möglich (Art. 67 GG); die Stellung des Kanzlers ist weiterhin gestärkt durch sein Recht, die Minister nach seiner Wahl dem Bundespräsidenten zur Ernennung oder Entlassung vorzuschlagen (Art. 64 GG). Keine dieser Bestimmungen entspricht der Weimarer Reichsverfassung.
Das in Art. 25 WRV vorgesehene Recht des Reichspräsidenten,

BVerfGE 62, 1 (41):

den Reichstag aufzulösen, war nur dahin begrenzt, daß die Auflösung "nur einmal aus dem gleichen Anlaß" erfolgen durfte, eine Begrenzung, die sich jedenfalls nicht als Auflösungshemmnis erwiesen hat; kein Reichstag der Weimarer Republik hat über seine volle, in der Verfassung als Regel vorgesehene Wahlperiode amtiert; auch die nach Art. 50 WRV für die Anordnung der Auflösung erforderliche Gegenzeichnung durch den Reichskanzler stellte letztlich keine wirkungsvolle Beschränkung des Auflösungsrechts dar; denn der Reichspräsident konnte einen unwilligen Reichskanzler jederzeit entlassen (Art. 53 WRV). Ebenso stand auch nach dem Verfassungsentwurf der Paulskirche das Auflösungsrecht dem "Reichsoberhaupt" (§ 106 des Verfassungsentwurfs von 1849), nach Art. 24 Satz 2 der Reichsverfassung von 1871 dem Bundesrat unter Zustimmung des Kaisers zu; in beiden Fällen war es nicht an materielle Voraussetzungen verfassungsrechtlicher Art gebunden.
Demgegenüber schließt das Grundgesetz ein freies Auflösungsrecht aus. Allein in den Fällen der Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und Art. 68 GG eröffnet es unter engen verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Voraussetzungen den Weg zu einer Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten. Die Einordnung der Auflösungstatbestände in den Abschnitt über die Bundesregierung kennzeichnet den Zusammenhang mit dem parlamentarischen Regierungssystem, wie es in Art. 63 und Art. 67 GG konsequent verwirklicht ist.
Die Vorschriften der Art. 63 Abs. 4 GG und Art. 68 GG lassen die Auflösung durch den Bundespräsidenten nur zu, wenn sich für die Wahl des Bundeskanzlers nicht die von Art. 63 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte Mehrheit findet oder wenn ein im Amt befindlicher Bundeskanzler nicht das Vertrauen im Sinne des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG besitzt, das heißt nicht die ausreichende parlamentarische Unterstützung für seine Person oder sein Regierungsprogramm findet. Auch im Falle des Art. 63 Abs. 4 GG ist die Auflösung von einer Reihe von Voraussetzungen abhängig; der Bundespräsident darf den Bundestag nur dann auflösen,

BVerfGE 62, 1 (42):

wenn die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages seinem Wahlvorschlag nicht gefolgt ist, innerhalb von 14 Tagen einen anderen Bundeskanzler nicht gewählt und in einem daraufhin stattfindenden Wahlgang der Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat.
Art. 68 GG selbst wie sein Zusammenhang mit weiteren Vorschriften des VI. Abschnitts des Grundgesetzes belegen mithin, daß das Grundgesetz deutliche und hohe Hemmschwellen für eine Auflösung des Bundestages errichtet; ein freies Auflösungsrecht ist nicht vorgesehen.
Verfassungsgeschichtlich gesehen geht die Stoßrichtung des Art. 68 GG nicht in erster Linie gegen ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, sondern gegen das praktisch unbegrenzte Auflösungsrecht, das der Reichspräsident unter der Weimarer Verfassung mit Gegenzeichnung eines dazu willigen Reichskanzlers handhaben konnte und gehandhabt hat.
c) Aus dem normativen Zusammenhang erschließt sich danach, daß die Auflösung des Bundestages auch über den Weg des Art. 68 GG stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag voraussetzt und als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal erfordert, daß der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann. Im Falle des Art. 63 Abs. 4 GG wird der Bundestag unter der drohenden möglichen Auflösung herausgefordert, einen "Mehrheitskanzler" zu wählen; im Regelfall des Art. 68 GG wird er dazu angehalten, dem Bundeskanzler mehrheitlich parlamentarische Unterstützung zu gewähren. Die Vorschriften zielen mithin vorrangig darauf ab, Regierungsfähigkeit herzustellen, zu gewinnen oder zu erhalten - und zwar mit dem amtierenden Bundestag, und sei es auch über die Wahl eines anderen Bundeskanzlers. Erst wenn das Drohen der Auflösung ohne Wirkung bleibt, liegt die Auflösung - im Falle des Art. 68 GG nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers - im Ermessen des Bundespräsidenten.
Eine Auslegung dahin, daß Art. 68 GG einem Bundeskanzler,

BVerfGE 62, 1 (43):

dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des Art. 68 GG nicht gerecht. Desgleichen rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht. Daß Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundestag sich von Verfassungs wegen solchen Aufgaben nach besten Kräften zu stellen haben, folgt aus ihrer Verpflichtung auf das Gemeinwohl, daraus, daß ihnen Staatsgewalt anvertraut ist, und letztlich aus dem Sinn von Staatlichkeit.
Insbesondere verfehlt es grundlegend den Sinn des Art. 68 GG wie der vom Grundgesetz geformten repräsentativen Demokratie, die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen mit der Behauptung zu fordern, ein über ein konstruktives Mißtrauensvotum neu gewählter Bundeskanzler bedürfe neben seiner verfassungsmäßigen Legalität noch einer durch Neuwahlen vermittelten Legitimität. Demgegenüber ist von Verfassungs wegen festzustellen: Auch der über Art. 67 GG gewählte Bundeskanzler besitzt wegen der Verfassungsmäßigkeit seiner Wahl die volle demokratische Legitimität. Es wäre im Hinblick auf die Bewahrung des demokratischen Rechtsstaats, den das Grundgesetz verfaßt hat, ein unverantwortliches Unterfangen, verfassungsmäßige Verfahren mit der Behauptung abzuwerten oder auszuhöhlen, sie erforderten daneben weitere Legitimationen. Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Grundprinzips der freien Wahl und des repräsentativen freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG.
Dementsprechend kann es für sich allein auch keine Rechtfertigung für die Auflösung des Bundestages abgeben, daß alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen einig sind. Dies mag allenfalls

BVerfGE 62, 1 (44):

belegen, daß ein konkreter Mißbrauch nicht gegeben ist; als Rechtfertigungsgrund für den Weg der Auflösung wäre eine solche Einigkeit allein unzureichend.
Solche verfehlten Auslegungen beließen als Mißbrauchsschranke für die Anwendung des Art. 68 GG allein die Abstimmung des Bundestages und die Entscheidungsmacht des Bundespräsidenten. Art. 68 GG indes fordert mehr: Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG; es muß erfüllt sein, damit ein Verfahren nach Art. 68 GG im Einzelfall verfassungsmäßig ist.
d) Dieses Ergebnis wird schließlich auch durch den normativen Zusammenhang bestärkt, in dem die beiden Auflösungstatbestände der Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und Art. 68 GG mit Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG stehen. Als an eng umgrenzte Voraussetzungen gebundene Ausnahmen bestätigen sie die Regel der vierjährigen Wahlperiode. Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG ist nicht lediglich eine wahltechnisch gemeinte Festlegung für die vom Demokratiegrundsatz geforderte periodische Erneuerung der Mandate der Volksvertreter. Sie will auch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments in einer modernen Massendemokratie sichern. Die Wahlperiode abzukürzen, soll nur aus besonderen und schwerwiegenden Gründen, wie sie in Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und Art. 68 GG festgelegt sind, möglich sein, nämlich nur dann, wenn die Regierungsfähigkeit infolge der politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag während einer laufenden Wahlperiode nicht mehr ausreichend gewährleistet erscheint.
3. Die Entstehungsgeschichte steht der gefundenen Auslegung

BVerfGE 62, 1 (45):

des Art. 68 GG nicht entgegen; sie trägt aber zu ihrer Bestätigung bei.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt ausgesprochen, daß die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden sollen, als sie auf einen "objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen" (vgl. BVerfGE 1, 299 [312]; 6, 55 [75]; 6, 389 [431]; 10, 234 [244]; 36, 342 [367]; 41, 291 [309]). Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (vgl. BVerfGE 11, 126 [130]; 13, 261 [268]; 54, 277 [298 f.]).
Ob diese Grundsätze auch uneingeschränkt für die Auslegung von Verfassungsnormen gelten können, mag dahinstehen. Denn mehr als die Interpretation der Gesetze hat die der Verfassung mit dem Problem der Offenheit des Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu dienen bestimmt ist (vgl. hierzu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., S. 5 ff., 15 ff.). Insbesondere hinsichtlich des organisatorischen Teils der Verfassung, zu dem Art. 68 GG gehört, wird die Aufgabe der Verfassungsinterpretation dahin verstanden, wechselnden Gestaltungsmöglichkeiten Raum zu lassen (vgl. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 [2091, 2099]; vgl. auch Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., S. 189 f.). Dennoch kann die Entstehungsgeschichte einer solchen Norm nicht völlig unberücksichtigt bleiben, insbesondere dann nicht, wenn sich für ihre Auslegung feste Grundsätze noch nicht haben bilden können (BVerfGE 1, 117 [127]). Ausschlaggebende Bedeutung kommt den Verfassungsmaterialien allerdings in der Regel nicht zu (BVerfGE 6, 389 [431]; 41, 291 [309]; 45, 187 [227]).
b) Der Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG läßt sich zwar

BVerfGE 62, 1 (46):

unschwer entnehmen, daß der Verfassungsgeber bemüht war, durch die Norm einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments Grenzen zu setzen. Insoweit steht sie mit dem hier festgestellten Verständnis der Bestimmung in Einklang. Sie besagt jedoch keinesfalls eindeutig, daß der Verfassungsgeber die Möglichkeit, über Art. 68 GG die Auflösung des Bundestages anzustreben, nur für den Minderheitskanzler vorgesehen wissen wollte:
Unbeschadet aller Auffassungsunterschiede im einzelnen war bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat allerdings die Vorstellung vorherrschend, Art. 68 GG sei um eines "Minderheitskanzlers" willen notwendig. So wiesen z.B. die Abgeordneten Dr. Dehler und Dr. von Brentano bei den Beratungen des jetzigen Art. 68 GG auf den Zusammenhang dieser Bestimmung mit dem Bestehen einer "obstruktiven Mehrheit gegen die Regierung" (Dr. Dehler, Parl. Rat, Verh. d. Hauptausschusses, Prot. vom 16. November 1948, S. 34 f.) oder die Existenz eines "Minderheitskabinetts" (Dr. von Brentano, a.a.O., Prot. vom 17. November 1948, S. 44) hin. Die vorgestellte politische Lage wurde nur allgemein umschrieben, etwa als "parlamentarische Krise" (Dr. Dehler, a.a.O.) oder als "Fall eines ernsthaften politischen Konflikts" (Dr. Katz, a.a.O., S. 44). Allerdings hat gerade Dr. Katz alternativ hierzu auch den Fall angesprochen, "daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen" (a.a.O.); hier wird nicht sicher erkennbar, ob Dr. Katz dabei auch politische Lagen im Auge hatte, die sich nicht nur auf den Minderheitskanzler beziehen.
Dieser Befund ist - angesichts der Vielgestaltigkeit politischer Situationen und der völlig im Banne der Ereignisse der ausgehenden Weimarer Republik stehenden Beratungen - notwendigerweise vage und keinesfalls präjudizierend im Sinne einer Festlegung auf einen Numerus clausus von Fallgestaltungen. Sicher läßt sich aus den Materialien zu Art. 68 GG nur entnehmen, daß eine instabile, die Regierungsarbeit erheblich störende Lage im Verhältnis Regierung und Parlament als "Anwendungssituation" des Art. 68 GG vorausgesetzt wurde.

BVerfGE 62, 1 (47):

Dagegen wurde die Möglichkeit, daß der Kanzler die Vertrauensfrage stellt, um zu Neuwahlen zu kommen, sein Ziel mithin gar nicht das Vertrauen selbst ist, in die Überlegungen deutlich einbezogen (Dr. von Brentano, a.a.O., S. 28; Dr. Katz, a.a.O., S. 44; Dr. Dehler, S. 34 und 28. Sitzung des Organisationsausschusses - 0. 28, 21). Im Bericht des Hauptausschusses an das Plenum wird nicht die Vertrauensfrage als Waffe der Regierung gegenüber dem Parlament bezeichnet, sondern das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten (Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht des Hauptausschusses zum Entwurf des Grundgesetzes, S. 31). Dies allein macht hinreichend deutlich, daß aus der Sicht des Verfassungsgebers der Bundeskanzler das Verfahren gemäß Art. 68 GG mit dem primären Ziel, zu Neuwahlen zu gelangen, einleiten darf.
c) Daß Art. 68 GG nur auf die im Parlamentarischen Rat angesprochenen Fallgestaltungen Anwendung finden und nur insoweit einen Weg zu Neuwahlen eröffnen sollte, läßt sich sonach nicht feststellen. Man wollte eine Norm schaffen, die Grenzen setzt und die die im Rückblick auf Weimar vor Augen stehenden Gefahren für die Stabilität der neuen Republik bannen sollte, ohne den notwendigen politischen Freiraum über Gebühr einzuschränken. Nicht eine "Patentlösung" für alle denkbaren Konfliktsfälle sollte geschaffen werden, sondern eine Bestimmung, die durch ihre besondere Ausgestaltung, die Beteiligung von Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident mit den daraus folgenden Wechselwirkungen und Prüfungspflichten eine greifende Sicherung gegen jeden Mißbrauch gewährleistet. Die festgestellte Auslegung des Art. 68 GG entspricht dieser Zielsetzung.
4. a) Während in der Weimarer Republik nicht ein einziger Reichstag über die gesamte, verfassungsrechtlich vorgesehene Dauer seiner Wahlperiode amtierte, ist in den mehr als 33 Jahren der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der Weg zu Neuwahlen über Art. 68 GG erst einmal - im Jahre 1972 - beschritten worden. Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG kam überhaupt nicht zur Anwendung. Auch vom konstruktiven Mißtrauensvotum des

BVerfGE 62, 1 (48):

Art. 67 GG ist bislang nur zweimal, davon einmal, im Jahre 1972, erfolglos Gebrauch gemacht worden. Art. 81 GG endlich, der, wie Art. 67 GG, schwere Störungen im Verhältnis von Bundeskanzler und Bundestag ohne das Mittel der Neuwahl beheben helfen soll, ist noch in keinem Fall beansprucht worden.
Dieser Befund spiegelt nicht nur die vergleichsweise große Stabilität der parteipolitischen Kräfteverhältnisse und den Willen wie die Fähigkeit der jeweiligen Volksvertretung wider, tragfähige Regierungsmehrheiten zu bilden und Regieren zu ermöglichen. Sie belegt auch den äußerst zurückhaltenden Umgang mit dem Mittel der Parlamentsauflösung durch alle betroffenen obersten Verfassungsorgane. Von der Inanspruchnahme eines - durch das Grundgesetz nicht vorgesehenen - Selbstauflösungsrechts des Bundestages, erzwungen jeweils durch seine Mehrheit, kann keine Rede sein.
b) Ebensowenig belegt die bisherige Praxis, daß Art. 68 GG dazu benutzt wurde, zugunsten von Regierungsparteien den jeweils günstigsten Zeitpunkt für Neuwahlen auszusuchen, um ihnen bei Wahlen eine "Prämie auf den legalen Machtbesitz" zu verschaffen. Es erscheint ohnedies fragwürdig, ob dieses Prämienkalkül zutreffend wäre: in Großbritannien, auf das in diesem Zusammenhang immer wieder verwiesen wird, weil dort der Premierminister zufolge einer feststehenden Übung (convention) den Zeitpunkt für Neuwahlen in der Regel während des letzten Jahres einer laufenden Wahlperiode festsetzt, hat in den Unterhauswahlen seit 1945 in etwa der Hälfte der Fälle die jeweilige Opposition die Mehrheit im Unterhaus errungen; Prämien auf Besitz der Macht scheinen mithin durch Abschläge darauf aufgewogen zu werden.
c) Im Jahre 1972 hatte der amtierende Bundeskanzler - in einer Lage instabiler Mehrheitsverhältnisse - die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG ebenfalls mit dem Ziel der Auflösung des Bundestages gestellt. Der Abstimmung blieben Regierungsmitglieder fern, die als Abgeordnete des Bundestages stimmberechtigt gewesen wären, um sicherzustellen, daß die Vertrauensfrage ver

BVerfGE 62, 1 (49):

neint und so der Weg für Neuwahlen eröffnet werde. Keines der nach Art. 68 GG beteiligten Verfassungsorgane, weder Bundeskanzler, Bundestag noch Bundespräsident, haben Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens bekundet. Diesem Vorgang kann seine Bedeutung für die Auslegung der Verfassungsbestimmung nicht abgesprochen werden. Es waren die obersten Verfassungsorgane, die, in ihrem Pflichtenkreis fortwährend zu Verwirklichung und Konkretisierung des Grundgesetzes gehalten, in der gegebenen politischen Lage des Jahres 1972 übereinstimmend das Verfahren und die Entscheidung zur Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten als verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet haben. Das Bundesverfassungsgericht kann das Gewicht dieser einhelligen Überzeugung auf höchster Ebene nicht unbeachtet lassen, erst recht nicht, wenn in dieser Rechtsauffassung die gleiche Zielsetzung zum Ausdruck kommt, von der sich auch der Parlamentarische Rat ersichtlich hat leiten lassen: Offenheit der Norm für die Bewältigung außergewöhnlicher politischer Krisensituationen im Verhältnis von Bundeskanzler und Bundestag, wirksame Begrenzung politischer Gestaltungsmöglichkeiten durch ein mehrstufiges Verfahren mit entsprechenden Prüfungsstationen, das der freien Kontrollentscheidung des Parlaments und der Kritik der Öffentlichkeit unterliegt. Es ist nicht der Vorgang eines Verfassungswandels, der im Rückblick auf diese Entscheidungen der betroffenen obersten Verfassungsorgane sichtbar wird; es ist der Beginn einer Staatspraxis, die einem neuen, besonderen politischen Sachverhalt gerecht zu werden versuchte und auf diesem Wege die Krise löste. Das darin zum Ausdruck kommende schöpferische Moment der Rechtsfindung und Rechtsgewinnung ist der Verfassungsrechtsordnung nicht fremd. Es muß hier berücksichtigt und in die festgestellten tatbestandlichen Grenzen des Art. 68 GG einbezogen werden. Von einer Durchbrechung der Verfassung kann in diesem Fall, wie aufgezeigt, keine Rede sein.
5. Ob die Kräfteverhältnisse im Bundestag eine Lage ausweisen, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene und

BVerfGE 62, 1 (50):

unterstützte Politik des Kanzlers nicht mehr sinnvoll ermöglicht, ob also dieses Tatbestandsmerkmal des Art. 68 GG im Einzelfall vorliegt, hat der Bundeskanzler bereits zu prüfen, wenn er beabsichtigt, einen Antrag mit dem Ziel zu stellen, darüber die Auflösung des Bundestages anzustreben. Die gleiche Prüfung obliegt dem Bundestag. Dem Bundespräsidenten hat das Grundgesetz im Rahmen dieses Verfahrens die Rolle einer neutralen Entscheidungsinstanz zugewiesen (vgl. Parl. Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes, S. 26). Er hat nicht nur zu prüfen, ob das angestrengte Verfahren auf den vorangehenden Stufen den verfassungsrechtlichen Erfordernissen entspricht; er hat, wenn diesen Erfordernissen genügt ist, im Rahmen seines Ermessens die politische Leitentscheidung zu treffen, ob die Auflösung des Bundestages und damit die Verkürzung der laufenden Wahlperiode des Art. 39 Abs. 1 GG mit all ihren politischen Folgen sinnvoll ist und von ihm politisch vertreten werden kann.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei Entscheidungen mit Prognosecharakter geachtet (vgl. die Übersicht in BVerfGE 50, 290 [333]). Gleiches gilt für politische Entscheidungen der Exekutive von weitreichender Bedeutung, zumal wenn sie auf einer Einschätzung, Wertung und Beurteilung politischer Vorgänge und Verhältnisse beruhen (vgl. BVerfGE 46, 160 [164 f.]; 49, 89 [131]; 55, 349 [364 f.]).
Der Bundespräsident kann bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG mit der Verfassung vereinbar sind, andere Maßstäbe nicht anlegen; er hat insoweit die Einschätzungs- und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten. Kommt der Bundeskanzler zu der Auffassung, daß seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten bei den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems erschöpft sind, so kann der Bundespräsident nicht seine eigene Beurteilung der politischen Gegebenheiten an die Stelle der Auffassung des Bundeskanzlers setzen.

BVerfGE 62, 1 (51):

Das Grundgesetz geht gerade im Verhältnis der obersten Verfassungsorgane zueinander von je eigenen, kompetenzrechtlich abgesteckten Verantwortungsbereichen dieser Organe aus, denen die Rechtsordnung in Form von  Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräumen Rechnung trägt. Muß mithin nach pflichtgemäßer Beurteilung des Bundespräsidenten eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers nicht eindeutig vorgezogen werden, so hat der Bundespräsident - bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens des Bundeskanzlers - die Beurteilung des Bundeskanzlers als mit dem Grundgesetz vereinbar hinzunehmen.
b) Unberührt hiervon bleibt, daß der Bundespräsident, nachdem er die Verfassungsmäßigkeit der vorangehenden Akte von Bundeskanzler und Bundestag bejaht hat, im Rahmen seines Ermessens die Lage selbständig und insoweit ohne Bindung an die Einschätzungen und Beurteilungen des Bundeskanzlers und ohne inhaltliche Bindung an die Abstimmung des Bundestages und den Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers zu beurteilen hat.
6. Der Senat verkennt nicht, daß das Grundgesetz selbst in Art. 68 GG durch die Einräumung von Einschätzungs- und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurückgenommen hat als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art. 68 GG selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten politischen Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.
III.
Die Überprüfung der angegriffenen Anordnungen des Bundespräsidenten vom 6. Januar 1983 am dargelegten verfassungs

BVerfGE 62, 1 (52):

rechtlichen Maßstab ergibt, daß sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Die von Art. 68 GG geforderten Verfahrensschritte sind ersichtlich erfüllt. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der Bundespräsident und vor ihm der Bundeskanzler und der Bundestag in ihrer Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im 9. Deutschen Bundestag zu dem Ergebnis gekommen sind, der Bundeskanzler könne eine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik künftig nicht mehr sinnvoll verfolgen. Die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten, deswegen den 9. Deutschen Bundestag aufzulösen, läßt Verfassungsverletzungen ebenfalls nicht erkennen.
1. Der Bundeskanzler hatte im Dezember 1982 Anlaß, davon auszugehen, daß aufgrund der außergewöhnlichen Lage, in der sich die Abgeordneten einer Koalitionspartei nach der Beendigung der bisherigen Koalition befanden, eine dauerhafte stabile parlamentarische Mehrheit nicht zustande gebracht werden konnte. Zwar waren einige vordringliche, sachlich und zeitlich eng begrenzte Vorhaben auf den Weg gebracht worden.
Der Bundeskanzler hat in der Begründung seines Antrages gemäß Art. 68 GG in der Sitzung des Bundestages am 17. Dezember 1982 dargelegt, daß er eine zeitlich und sachlich weiterreichende parlamentarische Unterstützung nicht habe. Dies ist von den Sprechern der Koalitionsfraktionen bekräftigt worden. Diese Einschätzung mag durch anderslautende Äußerungen im vielfältigen Spektrum politischer Meinungen mit Zweifeln versehen und möglicherweise auch abweichend beurteilt werden können. Ihr kann von Verfassungs wegen jedoch nicht entgegengetreten werden.
a) Die Freie Demokratische Partei und die Fraktion der F.D.P., auf deren politische Unterstützung der Bundeskanzler angewiesen war, da eine große Koalition nach den festen und übereinstimmenden Bekundungen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD nicht in Frage kam, gerieten im Zusammenhang mit der Beendigung der sozialliberalen Koalition in tiefgreifende Rich

BVerfGE 62, 1 (53):

tungskämpfe; dies durfte der Bundeskanzler dahin bewerten, daß sie ernsthafte Zweifel an einer beständigen politischen Unterstützung des Bundeskanzlers im 9. Deutschen Bundestag begründeten, wie vor dem Hintergrund folgender Ereignisse deutlich wird:
aa) Die am 17. September 1982 zerbrochene sozialliberale Koalition bildete die Grundlage einer seit fast 13 Jahren bestehenden, zum dritten Male erneuerten politischen Gemeinsamkeit, deren Ende verbreitet als "Ende einer Ära" empfunden wurde. Vor der Bundestagswahl 1980 hatte sich die F.D.P. unzweideutig für ein neuerliches Zusammengehen mit der SPD ausgesprochen, das auf die Dauer einer Legislaturperiode angelegt war. Auf ihrem Bundesparteitag im Juni 1980 hatte der Parteivorsitzende Genscher hierzu ausgeführt, daß die Fortsetzung der sozialliberalen Koalition notwendig sei, weil nur sie die Fähigkeit zu Reformen aufbringe; zugleich richtete er heftige Angriffe gegen die damalige Opposition und schloß die Wahl ihres Kanzlerkandidaten aus (Liberale Dokumente, Juni 1980, S. 2 f., in Die Neue Bonner Depesche. Die Liberale Zeitung. Nr. 6/Juni 1980). Mit dieser Wahlaussage, die ausdrücklich mit einer Unterstützung der Wiederwahl des damaligen Bundeskanzlers Schmidt verknüpft war, errang die F.D.P. ihren bisher zweitgrößten Erfolg bei einer Bundestagswahl.
Es blieb nicht aus, daß der Bruch dieses Bündnisses inmitten der Legislaturperiode vor diesem Hintergrund heftige Auseinandersetzungen hervorrief. Nach einer stürmisch geführten Debatte billigte der Bundesvorstand der F.D.P., an den diese Frage herangetragen worden war, am 17. September 1982 nur mit der knappen Mehrheit von 18 zu 15 Stimmen, daß seine Mitglieder Genscher und Mischnick in Koalitionsverhandlungen mit der bisherigen Opposition eintraten; das Vorstandsmitglied Meyer erklärte während der Sitzung seinen Rücktritt. Der Landesverband Schleswig-Holstein sprach sich für einen Sonderparteitag aus; allgemein entstand der Eindruck, die F.D.P. stehe vor einer Zerreißprobe.

BVerfGE 62, 1 (54):

In dieser kritischen Situation signalisierte die SPD, daß ihr Mitglieder der F.D.P., die mit einem neuen politischen Kurs nicht einverstanden waren, willkommen seien. Das Präsidium der SPD beschloß: "Die SPD bietet einem wertbezogenen sozialen Liberalismus, soweit er in der 'gewendeten' F.D.P. in die Wirkungslosigkeit gedrängt wird, politisches Heimatrecht" (Tagespresse vom 22. September 1982).
Auch auf den unteren Ebenen der Partei machte sich weithin Unmut breit. So nahmen z.B. 116 "Funktionsträger" des Landesverbandes Hamburg der F.D.P., unter ihnen die beiden stellvertretenden Landesvorsitzenden und weitere Vorstandsmitglieder, in einer Anzeige offen gegen ihren Parteivorsitzenden Stellung. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, der Landesverband Hamburg der F.D.P. stehe kurz vor der Spaltung.
Am 22. September 1982 sprach sich nach den Landesverbänden Schleswig-Holstein, Berlin und Hamburg auch der Landesverband Bremen für einen Sonderparteitag der Bundespartei aus; dieser hatte danach satzungsgemäß unverzüglich stattzufinden. Von der Durchführung des Sonderparteitages wurde später allerdings mit Rücksicht auf einen nahen ordentlichen Bundesparteitag abgesehen.
Am 26. September 1982 fanden in Hessen Landtagswahlen statt. Die F.D.P., für die im Jahre 1978 6,8% der Stimmen abgegeben worden waren, errang nur noch 2,9% der Stimmen und gelangte nicht mehr in den Landtag.
Am 26. September 1982 forderten mehrere hundert Teilnehmer einer linksliberalen Veranstaltung in Norderstedt, an sozialliberalen Zielsetzungen festzuhalten. Am selben Tag wandte sich demgegenüber der Vorsitzende der saarländischen F.D.P., Klumpp, auf dem Landesparteitag gegen einen "breit angelegten Vernichtungsfeldzug" gegen seine Partei.
Am 28. September 1982 wurde im Bundesvorstand der F.D.P. mit der äußerst knappen Mehrheit von 18 zu 17 Stimmen ein Antrag abgelehnt, mit dem vorgesehenen konstruktiven Mißtrauensantrag gegen Bundeskanzler Schmidt bis zum Ergebnis

BVerfGE 62, 1 (55):

des beantragten Sonderparteitages zuzuwarten. Der Koalitionskompromiß wurde ebenfalls nur mit knapper Mehrheit von 19 zu 16 Stimmen gebilligt. Aus Protest gegen diese Entscheidung trat der Generalsekretär der F.D.P., Verheugen, von seinem Amt zurück. Diesen Entschluß interpretierten die Bundestagsabgeordneten Schuchardt, Bergerowski und Hölscher als Ausdruck des Widerstandes "weiter Teile der Partei gegen den Kurs Genschers" (Pressemeldung vom 30. September 1982).
Bei den Landtagswahlen in Bayern am 10. Oktober 1982 erlitt die F.D.P. erneut einen Rückschlag; sie fiel von 6,2% auf 3,2% der Stimmen zurück und gelangte nicht mehr in den Landtag.
Mehrere Landesverbände forderten den Bundesvorsitzenden der F.D.P. auf, sein Amt niederzulegen. Dabei vertrat ein Sonderparteitag der baden-württembergischen F.D.P. mehrheitlich die Auffassung, dieser habe die F.D.P. in eine Situation hineingeführt, in der ihre Glaubwürdigkeit, ihre liberale Identität und ihre Existenz aufs äußerste gefährdet seien. Diese Bestrebungen richteten sich zwar unmittelbar gegen die Person des Parteivorsitzenden, sie wurden jedoch auch als stellvertretend für eine inhaltliche Frontstellung gesehen.
Zum Bundesparteitag der F.D.P. Anfang November 1982 ließ sich der schleswig-holsteinische Landesvorsitzende Ronneburger als Gegenkandidat für den Parteivorsitz aufstellen. Er bezeichnete seine Kandidatur als einen Versuch, alle Teile der F.D.P. zusammenzuhalten. Für ein Festhalten der F.D.P. an der Koalition mit der CDU und CSU über den 6. März 1983 hinaus gab er keine Erklärung ab. Zwar errang der Parteivorsitzende Genscher mit 222 gegen 169 Stimmen wieder den Vorsitz; dies brachte die Partei jedoch nicht zur Ruhe. In einem Beschluß zum Koalitionswechsel mißbilligte der Bundesparteitag die Art und Weise des Zustandekommens der Koalitionsvereinbarungen mit der CDU/CSU und bezeichnete die bisherigen Vereinbarungen als unzureichend (Die Neue Bonner Depesche, Nr. 11/November 1982, S. 8). Eine Reihe von prominenten Parteimitgliedern verließ in kurzer Folge die Partei, unter ihnen der frühere Staats

BVerfGE 62, 1 (56):

minister im Auswärtigen Amt, Moersch, das Vorstandsmitglied der F.D.P. und frühere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, von Schoeler, die Bundestagsabgeordneten Hölscher, Frau Matthäus-Maier und Frau Schuchardt sowie der frühere Generalsekretär der Partei, Verheugen. Am 28. November 1982 gründeten zahlreiche ehemalige F.D.P.-Mitglieder eine neue Partei unter dem Namen "Liberale Demokraten" (Pressemeldung vom 29. November 1982).
Bei den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft am 19. Dezember 1982 ging der Stimmenanteil der F.D.P. von 4,9% bei der Bürgerschaftswahl vom 6. Juni 1982 auf 2,6% zurück.
bb) Die Spannungen innerhalb der F.D.P., die durch den Koalitionswechsel hervorgerufen worden waren, blieben auf die Fraktion der F.D.P. im Deutschen Bundestag nicht ohne Auswirkungen. Die beschriebenen Gegensätze zwischen Befürwortern und Gegnern des Koalitionswechsels traten auch dort - wenngleich in abgemilderter Form - offen zutage.
Am 17. September 1982 sprach sich die Fraktion der F.D.P. zwar dafür aus, in Koalitionsverhandlungen mit der Fraktion der CDU/CSU einzutreten. In geheimer Abstimmung fand sich hierfür jedoch nur eine Mehrheit von 33 zu 18 Stimmen bei einer Enthaltung. Mehrere der Fraktion der F.D.P. angehörende Bundestagsabgeordnete (Schuchardt, Matthäus-Maier, Hölscher) forderten öffentlich, daß sich die Bundestagsabgeordneten nicht an einem Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Schmidt beteiligen dürften.
Auch in der Folge zeigten sich in der Fraktion starke Strömungen, die den eingeschlagenen Kurs in Richtung auf ein Zusammengehen mit der CDU/CSU ablehnten. Das Ergebnis der Koalitionsgespräche fand kurz vor dem ins Auge gefaßten konstruktiven Mißtrauensvotum in der Fraktion die Zustimmung von 32 Abgeordneten; 20 Abgeordnete stimmten dagegen, zwei Abgeordnete enthielten sich der Stimme.
Die darin erkennbar gewordenen Differenzen in der Sache, die sich im übrigen auf eine ohnehin inhaltlich nur begrenzte

BVerfGE 62, 1 (57):

Übereinkunft bezogen, fanden auch in der Debatte über den Antrag nach Art. 67 GG deutlichen Ausdruck.
In der Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. konnte der Fraktionsvorsitzende Mischnick nur für einen Teil der Mitglieder seiner Fraktion sprechen, weil diese im Meinungsstreit über diesen Vorgang ihre Geschlossenheit verloren hatte (Deutscher Bundestag, StenBer., 118. Sitzung vom 1. Oktober 1982, S. 7184 D).
Namhafte, der F.D.P. angehörende Abgeordnete, wie der frühere Bundesminister Baum und die damalige Staatsministerin Frau Dr. Hamm-Brücher, widersprachen der neuen Koalition mit Nachdruck.
Der Abgeordnete Baum sah in diesem Schritt eine Abkehr vom Wählerauftrag, die die Zahl derer vermehre, die sich den politischen Parteien gegenüber ablehnend verhielten. Der neuen Koalition fehle nicht nur die politische Legitimation, sondern ihr ermangele auch die inhaltliche Begründung. Liberale Zielsetzungen, mit denen die Partei im Jahre 1980 um Wähler geworben habe, seien fallengelassen oder ausgeklammert worden. Liberale Rechtsstaatspolitik sei zur Disposition gestellt worden. Es bestünden "Zweifel, ob die neue Koalition 'im Zweifel für die Freiheit' eintreten" werde. Einigung im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik sei teilweise nur um den Preis von Zugeständnissen erzielt worden, die dem früheren Koalitionspartner verweigert worden seien. Neuwahlen nach der Regierungsbildung seien "die einzige Chance für einen neuen Anfang. Ohne Klarheit und Eindeutigkeit über den Neuwahltermin (lasse) sich verlorenes Vertrauen nicht zurückgewinnen" (a.a.O., S. 7192 ff.).
Die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher vertrat die Auffassung, daß der politische Liberalismus über diesen Konflikt in eine schwere Existenzkrise geraten sei. Es habe das "Odium des verletzten demokratischen Anstands", wenn Abgeordnete einer Fraktion, "die mit einer klaren Aussage für eine Koalition und gegen eine andere ein hohes Wahlergebnis erzielt haben, nach zwei Jahren entgegen diesem Versprechen einen Machtwechsel

BVerfGE 62, 1 (58):

ohne vorheriges Wählervotum herbeiführen". Der Wähler müsse hierzu befragt werden (a.a.O., S. 7195, 7196).
Mehrere Abgeordnete, die der Fraktion der F.D.P. angehörten, kehrten sich, wie bereits ausgeführt, von ihrer Partei ab und stellten ihre Mitarbeit in der Fraktion ein. Angesichts ihrer begrenzten personellen Möglichkeiten ergaben sich für die Fraktion der F.D.P. nur schwer zu lösende Probleme, den neuen Kurs in den für die Arbeit des Deutschen Bundestages wichtigen Ausschüssen abzusichern (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Oktober 1982).
cc) Die in der Fraktion der F.D.P. und in der Partei selbst aufgebrochenen Meinungsunterschiede bildeten den Hintergrund für die Entscheidung der mit der Suche nach einem Ausweg aus der politischen Krise beauftragten Organe, baldige Neuwahlen ins Auge zu fassen. Von Anfang an erhoben sich in der Fraktion der F.D.P. nur wenige Stimmen, die den Gedanken verfochten, mit der Fraktion der CDU/CSU bis zum Ende der Wahlperiode zusammenzugehen. Schon bei Beginn der Koalitionsverhandlungen war deutlich, daß ein naher Termin für Neuwahlen in der Partei vorausgesetzt wurde. Dieser Ausgangspunkt bildete die Basis der mehrheitlich getroffenen Entschließungen der F.D.P. und der Fraktion der F.D.P., mit den Vertretern der CDU und der CSU und der Fraktion der CDU/CSU in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Zwar war die dargelegte krisenhafte Erschütterung der Partei in diesem frühen Zeitpunkt noch nicht in allen ihren Einzelheiten gegenwärtig. Sie war jedoch angesichts des bekannten Kräftespektrums innerhalb von Partei und Fraktion in ihren Grundstrukturen angelegt und deshalb klar vorauszusehen. Die Möglichkeit, daß sich die Partei spalte, galt als greifbar. Hieraus ergibt sich, daß bei den mehrheitlich getroffenen Entscheidungen in der F.D.P. und in der Fraktion der F.D.P., eine inhaltlich begrenzte Koalition anzustreben und einzugehen, die Überlegung, daß Neuwahlen stattzufinden hätten, nicht hinweggedacht werden darf. Es würde die Sicht des damals vorhandenen politischen Spielraums unzulässig verkürzen, behielte man nur den Umstand

BVerfGE 62, 1 (59):

im Auge, daß sich letztlich eine tragfähige Mehrheit für die neue Koalition in der Fraktion gefunden hat. Daß eine derartige Mehrheit in ebensolcher Weise hätte zustande gebracht werden können, wenn eine auf die Dauer der Legislaturperiode angelegte Koalition angestrebt worden wäre, ist von Sprechern der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. verneint worden.
Die Forderung nach nahen Neuwahlen stellte auch nicht eine nur vorübergehende Handlungsanleitung dar. Sie begleitete vielmehr den gesamten Weg der neuen Koalition. Dies zeigt sich nachdrücklich in dem Votum des Bundesparteitages der F.D.P. vom November 1982. Hierzu heißt es: "Der vor der Bildung der Regierung Dr. Kohl/Genscher genannte Wahltermin für den Bundestag im März 1983 ist für die F.D.P. bindend und unverzichtbar. Der Bundesparteitag erwartet von der F.D.P.-Bundestagsfraktion und den F.D.P.-Ministern, daß dieser Termin eingehalten und durchgesetzt wird" (abgedruckt in Die Neue Bonner Depesche, Nr. 11/November 1982, S. 8). Anhaltspunkte dafür, daß die Mehrheit der Mitglieder der Fraktion der F.D.P. in der Folgezeit ihren Sinn gewandelt und sich den in der Partei erhobenen Forderungen verschlossen hätten, sind nicht ersichtlich.
dd) In dieses Bild der politischen Vorgaben fügt es sich ein, daß sich die neugebildete Koalition nur zu begrenzter sachlicher Zusammenarbeit imstande sah. Man einigte sich lediglich auf ein "Notprogramm", das infolge haushaltsrechtlicher Notwendigkeiten und wirtschaftspolitischer Bedrängnisse unabweisbar erschien. Abgesehen davon, daß weitreichende Vorhaben sich bis zu der ins Auge gefaßten Neuwahl schon aus zeitlichen Gründen kaum hätten verwirklichen lassen (vgl. hierzu die Ausführungen des Bundesministers des Innern Dr. Zimmermann im Deutschen Bundestag, StenBer., 122. Sitzung vom 14. Oktober 1982, S. 7358), sparte man wichtige Bereiche aus den Absprachen aus und beschränkte sich auf das - insbesondere anhand der wirtschaftlichen und finanziellen Lage von Staat und Wirtschaft - aktuell für notwendig Erachtete (vgl. die Ausführungen des Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Dregger, im Deutschen Bundestag,

BVerfGE 62, 1 (60):

StenBer., 121. Sitzung vom 13. Oktober 1982, S. 7251). In den Äußerungen führender Politiker der Regierungsfraktionen wurde deutlich, daß ein Spielraum für weitergehende politische Entscheidungen der Koalition nicht gesehen wurde.
In der Aussprache über die Regierungserklärung wies der Abgeordnete Dr. Hirsch (F.D.P.) auf den Umstand hin, daß Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung im Bereich der Innenpolitik und auch im Bereich der Rechtspolitik nur wenige festgeschriebene Positionen enthielten. Viele Einzelfragen der Innenpolitik seien an Kommissionen verwiesen worden, die im März 1983 Vorschläge unterbreiten sollten. Er ließ keinen Zweifel daran, daß Entscheidungen der Regierung, die den vereinbarten Kommissionen vorgriffen oder mit den Grundsätzen einer liberalen Innenpolitik nicht vereinbar seien, keine Aussicht auf parlamentarische Unterstützung der Fraktion der F.D.P. besäßen (Deutscher Bundestag, StenBer., 122. Sitzung vom 14. Oktober 1982, S. 7353).
Auch der Abgeordnete Hoppe (F.D.P.) unterstrich anläßlich der Beratung des Haushaltsgesetzes 1983, daß die Freien Demokraten sich angesichts der wirtschaftlichen Lage für den Versuch entschieden hätten, "mit einem Notprogramm für Haushalt und Beschäftigung einen Dammbruch zu verhindern". Die Regierung habe von der Fraktion der F.D.P. nur einen begrenzten Auftrag erhalten. Dieser sei mit der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes erfüllt (Deutscher Bundestag, StenBer., 138. Sitzung vom 14. Dezember 1982, S. 8595).
b) Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, daß der Bundeskanzler im Dezember 1982 auch im Blick auf die nicht weiter aufschiebbaren schweren Entscheidungen, die die Probleme der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes, der äußeren Sicherheit und der Innenpolitik fordern, angesichts der politischen Kräfteverhältnisse davon ausging, daß eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit des Bundestages getragene und unterstützte Politik nicht mehr sinnvoll möglich sein werde. Diesen Tatbestand hatten die Führungskräfte der Koalitionsparteien und eine große Mehrheit

BVerfGE 62, 1 (61):

der in den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zusammengeschlossenen Abgeordneten bereits Ende September bei den Erörterungen über die Bildung der neuen Koalition vorhergesehen, als sie sich verfassungsrechtlich unbedenklich darum bemühten, durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers gemäß Art. 67 GG und die Herbeiführung einer Koalitionsabsprache über dringlichste politische Entscheidungen, wie die zum Bundeshaushalt 1983 und seinen Begleitgesetzen, das aus ihrer Sicht mindestens Gebotene in einem "Notprogramm" zu verwirklichen. Die weitere Entwicklung hat diese Einschätzung, wie dargelegt, nicht entkräftet, sondern bekräftigt. Nach der Verabschiedung des sogenannten Notprogramms sahen sich die Abgeordneten beider Koalitionsfraktionen ersichtlich nicht mehr imstande, auch künftig weiterreichende Entscheidungen des Bundeskanzlers mitzutragen, zumal die F.D.P. zu diesem Zeitpunkt noch im Begriff stand, die aus dem Koalitionswechsel erwachsenen außerordentlichen Schwierigkeiten zu überwinden, und glaubte, angesichts ihrer Festlegungen in der Vergangenheit nur durch baldige Neuwahlen zu Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit zurückzufinden. Die Vorstellung, die Mitglieder der Fraktionen der F.D.P. und der CDU/CSU hätten, nachdem eine Mehrheit von ihnen den Abgeordneten Dr. Kohl zum Bundeskanzler gewählt hatte, von Verfassungs wegen die neue Koalition bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode mitzutragen, ist, wie schon dargelegt, verfassungsrechtlich nicht haltbar (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG).
Nachdem sich der Bundesparteitag der F.D.P. mit großer Mehrheit und mit Unterstützung ihrer der Bundesregierung angehörenden Minister dafür ausgesprochen hatte, daß ein Wahltermin im März 1983 unverzichtbar sei, kann es als ausgeschlossen gelten, daß ein Versuch des Bundeskanzlers, seine Regierungsarbeit desungeachtet bis zum Ende der Wahlperiode weiterzuführen, von der Fraktion der F.D.P. mitgetragen worden wäre. Zu einer anderen Einschätzung brauchte sich der Bundeskanzler von Verfassungs wegen jedenfalls nicht gedrängt zu sehen. Eine

BVerfGE 62, 1 (62):

materielle Auflösungslage, wie sie Art. 68 GG verlangt, ist damit plausibel dargetan.
Für die Annahme, die Koalitionsvereinbarung sei ohne sachlichen Grund nur deshalb begrenzt worden, um dadurch vorgezogene Neuwahlen zu erreichen, fehlt es nach alledem an Anhaltspunkten.
Auf die Frage, ob die Entscheidung des Bundeskanzlers von weiteren Motiven begleitet wurde, kommt es hiernach nicht an. Art. 68 GG fordert neben dem Vorliegen formeller Voraussetzungen und einer materiellen Auflösungslage nicht noch als zusätzliche negative Voraussetzung das Fehlen weiterer Zielsetzungen, die für sich allein genommen als Gründe für die Auflösung des Bundestages von der Verfassung nicht hingenommen werden.
2. Die Abstimmung des Deutschen Bundestages über die von Bundeskanzler Dr. Kohl gestellte Vertrauensfrage nach Art. 68 GG gibt zu weitergehenden verfassungsrechtlichen Bedenken keinen Anlaß. Es ist nicht zu beanstanden, daß eine Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages die Einschätzung des Bundeskanzlers geteilt hat.
3. Auch der Vorschlag des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, ist ersichtlich frei von verfassungsrechtlichen Mängeln; denn zwischen der Abstimmung des Bundestages und diesem Vorschlag haben sich keine erkennbaren Umstände ereignet, die den Bundeskanzler von Verfassungs wegen genötigt hätten, den von ihm beabsichtigten Auflösungsvorschlag in Frage zu stellen.
4. a) Anhaltspunkte dafür, daß der Bundespräsident mit der Anordnung, den 9. Deutschen Bundestag aufzulösen, die ihm von der Verfassung gezogenen Grenzen überschritten hätte, liegen nicht vor. Der Bundespräsident hat den ihm vom Bundeskanzler unterbreiteten Vorschlag, den Bundestag aufzulösen, überprüft und das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 GG zu Recht für gegeben erachtet.
b) Es kann nicht festgestellt werden, daß dem Bundespräsidenten bei der Ausübung des ihm eingeräumten weiten politi

BVerfGE 62, 1 (63):

schen Ermessens ein Verstoß gegen das Grundgesetz unterlaufen wäre. Der Bundespräsident hat ersichtlich Ermessenserwägungen angestellt. Er hat ihnen seine Beurteilung zugrunde gelegt, daß eine politische Lage gegeben war, in der die parlamentarische Unterstützung des Bundeskanzlers nicht mehr ausreichend gewährleistet war, und hat dies mit den Folgen der Alternative, den Bundestag nicht aufzulösen, abgewogen. Der Einschätzung des Bundespräsidenten kann eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung nicht eindeutig vorgezogen werden; mehr hatte das Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen.
Die Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien, zu Neuwahlen zu gelangen, vermochte den Ermessensspielraum des Bundespräsidenten nicht einzuschränken; er konnte hierin jedoch einen zusätzlichen Hinweis sehen, daß eine Auflösung des Bundestages zu einem Ergebnis führen werde, das dem Anliegen des Art. 68 GG näher kommt als eine ablehnende Entscheidung.
Es fehlt schließlich jeder Anhaltspunkt dafür, daß für die Anordnung der Auflösung des Deutschen Bundestages die Erwägung irgendeine Rolle gespielt hätte, daß einzelne Abgeordnete, Gruppen oder Fraktionen durch die Neuwahlen aus dem Parlament ausgeschaltet werden sollten.
5. Die Auflösung des Deutschen Bundestages entsprach Art. 68 GG. Sie hat mithin Rechte der Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 GG nicht verletzt.
 
D.
Die Entscheidung zu Abschnitt B ist einstimmig, zu den Abschnitten C I und II mit 7 zu 1 und zu Abschnitt III im Ergebnis mit 6 zu 2 Stimmen ergangen.
Zeidler, Rinck, Wand, Dr. Rottmann, Dr. Dr. h.c. Niebler, Steinberger, Träger, Mahrenholz
 


BVerfGE 62, 1 (64):

Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Zeidler zur Begründung des Urteils des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 -- 2 BvE 1-4/83 --
Wohl dem Ergebnis der Entscheidung, nicht aber allen Teilen ihrer Begründung vermag ich zuzustimmen.
1. Zu Recht wird festgestellt, daß die Verfassung dem Bundespräsidenten hinsichtlich der ihm im Verfahren nach Art. 68 GG abverlangten Entscheidung außerordentlich weite Befugnisse einräumt. Dies gilt für die ihm aufgegebene Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 GG vorliegen, ebenso wie für die anschließend zu treffende Entscheidung, ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch machen will. Seine Entschließungen können vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob der Bundespräsident die im Grundgesetz statuierten tatbestandlichen Voraussetzungen verkannt oder die im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte evident falsch gewertet hat. Inhalt, Zweck und Grenzen seines Entscheidungsfreiraumes sind dadurch gekennzeichnet, daß dem Bundespräsidenten im Regelungssystem des Art. 68 GG ausnahmsweise eine politische Führungsrolle mit weitreichender Entscheidungs-  und Gestaltungsmacht übertragen worden ist; er ist derjenige, der hier in erster Linie als Hüter und Wächter der Verfassung eingesetzt ist. Daraus folgen als Leitlinie und Programm für sein Handeln vorrangig zwei Zielorientierungen: die Wahrung der verfassungsrechtlichen Lauterkeit und die Gewährleistung der politischen Sinnhaftigkeit des Verfahrens.
2. Der dem Bundesverfassungsgericht unterbreitete Vorgang wird zunächst dadurch gekennzeichnet, daß er auf dem vielseitig, wiederholt und nachdrücklich bekundeten Willen der politischen Führungskräfte beruht, in Abkürzung der Legislaturperiode zu vorzeitigen Neuwahlen des Deutschen Bundestages zu kommen.
a) In der Mitteilung über die Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU und F.D.P. vom 23. September 1982 (Informationsdienst der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Union in Deutschland, Bonn) heißt es u.a.: "Die Partei- und Fraktions

BVerfGE 62, 1 (65):

vorsitzenden von CDU/CSU und F.D.P. ... halten baldige Neuwahlen zum Bundestag für erforderlich. Helmut Kohl erklärt, daß er als gewählter Bundeskanzler noch in diesem Jahre den Zeitpunkt für das In-Gang-Setzen des verfassungsmäßigen Verfahrens bekanntgegeben wird, damit am ersten Sonntag im März Neuwahlen zum Deutschen Bundestag stattfinden können."
Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Dr. Dregger hat am 14. Dezember 1982 im Deutschen Bundestag hinsichtlich der am 1. Oktober 1982 erfolgten Wahl eines neuen Bundeskanzlers von einer "zeitlichen Begrenzung des Regierungsauftrages" gesprochen und sinngemäß hinzugefügt, daß der Antrag nach Art. 68 GG eingesetzt werden solle, um die Voraussetzungen für Neuwahlen zu schaffen (StenBer. 8578 D, 8579 A).
Für die Fraktion der F.D.P., der anderen die neue Regierung tragenden Partei, hat der Abgeordnete Hoppe ausgeführt, sie habe einen "begrenzten Auftrag" erhalten, "den sie in begrenzter Zeit zu erfüllen hatte". Der für das verabredete Regierungsprogramm ausgestellte Vertrauensbonus sei "aufgebraucht" (StenBer. 8595 B).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hat der Bundesminister des Innern diese Äußerungen zitiert und ergänzend bestätigt, daß die neue Koalition bereits im Herbst 1982 einen in mittlerer Zukunft liegenden Wahltermin für Neuwahlen ins Auge gefaßt habe. "Die Partner der Koalition halten also - wie dargelegt - aus zwingenden politischen Gründen vor einer Erneuerung des Regierungsprogramms eine Erneuerung ihrer politischen Legitimation und Bestätigung ihres jeweiligen Auftrages durch den Wähler für erforderlich."
b) Damit haben sich die Partner der neuen Regierungskoalition dazu bekannt, aus freien Stücken, nur auf der Grundlage ihres Willensentschlusses, die Legislaturperiode verkürzen zu wollen. Hierbei bewegen sie sich außerhalb der Verfassung. Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG dauert die Legislaturperiode vier Jahre. Dies ist zwar nicht unumstößlich, wie sich aus der Existenz von Vorschriften ergibt, die eine vorzeitige Auflösung des Bundes

BVerfGE 62, 1 (66):

tages ermöglichen (Art. 63 Abs. 4, 68 GG). Ordnungsgefüge und Sinnzusammenhang der Verfassung lassen aber erkennen, daß diese Auflösungsmöglichkeiten nicht nach freiem Belieben erweitert werden können.
Das Grundgesetz geht davon aus, daß mit der Wahl eines Bundeskanzlers implizite der "Ausspruch des Vertrauens" verbunden ist, wie eine Gesamtschau der Bestimmungen in Art. 63, 67 und 68 GG erweist. Das Phänomen eines sektoral oder temporär eingeschränkten Vertrauens ist dem Grundgesetz fremd. Die Mentalreservation bei der Kanzlerwahl, das mit der Wahl ausgesprochene Vertrauen in der einen oder anderen Richtung nur als begrenzt gelten lassen zu wollen, ist verfassungsrechtlich daher unbeachtlich.
Der dem Bundesverfassungsgericht unterbreitete Vorgang läuft darauf hinaus, daß sich politische Führungskräfte des Rechtes berühmen, nur auf der Grundlage ihrer eigenen Vorstellungen von politischer Zweckmäßigkeit und darauf beruhender Willensentschließung nach Belieben die Dauer der Legislaturperiode verkürzen zu können. Dies zielt auf eine punktuelle stillschweigende Durchbrechung der Verfassung, die die Verfassungsväter aus wohlerwogenen Gründen, gestützt auf die gerade in dieser Beziehung besonders reichhaltigen Erfahrungen unter der Weimarer Verfassung, durch die Bestimmung des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG verhindert wissen wollen. Der Wille der Parteien "als solcher" konnte das eingeschlagene Verfahren danach nicht legitimieren.
Greift in einer solchen Lage ein Bundeskanzler zu dem Instrument des Art. 68 GG, um durch eine unechte Vertrauensfrage mittels eines von vornherein vereinbarten Abstimmungsergebnisses die formalen Voraussetzungen einer Bundestagsauflösung und damit von Neuwahlen zu schaffen, verfehlt er damit den dem Art. 68 GG innewohnenden Leitgedanken, Regierung und Parlament so lange wie nur irgend sinnvoll möglich in Funktion zu halten. Er unterläuft die Entscheidung des Grundgesetzes, das - anders als die meisten Landesverfassungen - eine Selbstauflösung des Parlaments unter keinen Umständen vorsieht.


BVerfGE 62, 1 (67):

3. Aus den vom Bundeskanzler und den Parteien bekundeten Argumenten durfte mithin eine Auflösung des Bundestages nicht erfolgen. Dem Bundespräsidenten standen als Grundlage seiner Entscheidung jedoch noch weitere und andersartige Gründe zur Seite, unabhängig davon, ob diese von den Beteiligten erkannt oder geltend gemacht worden sind, so daß er gleichwohl aus den nachfolgenden Erwägungen in der gegebenen Situation den Bundestag auflösen durfte. Dabei gilt vorrangig folgendes:
a) Seit Schaffung des Grundgesetzes haben Rolle und Funktion des Bundeskanzlers einen Bedeutungswandel erfahren. Während die Mitglieder des Parlamentarischen Rates noch von dem Vorstellungsbild geleitet waren, über die Person des Kanzlers werde erst nach erfolgter Wahl im Parlament entschieden, hat sich in der Wirklichkeit des politischen Lebens unter dem Grundgesetz eine immer stärker wirksame personalisierte plebiszitäre Komponente durchgesetzt. Das begann bereits in den 50er Jahren mit der herausragenden Persönlichkeit Adenauers, dessen Verbleiben im Amt die Bundestagswahlen thematisch beherrschte. Am Ende der Großen Koalition 1969 wurde der Wahlkampf dominiert von dem Slogan "Auf den Kanzler kommt es an". Der letzte Bundestagswahlkampf im Herbst 1980 stand im Zeichen einer besonderen Polarisierung zwischen Kanzler und Kanzlerkandidaten. In diesem Spannungsfeld hatte der Vorsitzende der F.D.P. versprochen: "Wer F.D.P. wählt, garantiert, daß Helmut Schmidt Bundeskanzler bleibt", und damit zugleich eine eindeutige Koalitionsaussage gemacht.
b) Der Bundespräsident war von Verfassungs wegen nicht gehindert, diese Tatsachen, die im Laufe der Jahrzehnte allgemein zu einer Veränderung im Verständnis vom Kanzleramt geführt haben, in seine Einschätzung einzubeziehen. Dem steht nicht entgegen, daß es sich beim Grundgesetz um eine Verfassung nach den Grundsätzen der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat schon frühzeitig entschieden, daß Verfassungsbestimmungen einen Bedeutungswandel erfahren können, "wenn in ihrem Bereich neue,

BVerfGE 62, 1 (68):

nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchten oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen ..." (BVerfGE 2, 380 [401]).
    Siehe ferner BVerfGE 3, 407 (422); 33, 199 (203 f.); 39, 169 (181 ff.); 41, 360 (369 f.); 45, 187 (227, 229); 54, 11 (36 ff.); 56, 54 (78 f.); 59, 336 (356 f.).
    Ernst Benda, Konsens, Meinungsforschung und Verfassung, DÖV 1982, 877 ff. (880): "Die tragenden Verfassungsprinzipien sind ... zu einem gewissen Grade offene Begriffe".
    Zum Begriff einer sog. "Living constitution" vgl. W. Zeidler, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 16. Cappenberger Gespräch, 1980, S. 53. Aus den Äußerungen in der Literatur siehe z.B. Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, 1895; P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in Festgabe für Th. Maunz, 1971, S. 285 ff.; K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in Festschrift für U. Scheuner (hrsg. von H. Ehmke/J. H. Kaiser/W. Kewenig/K. M. Meessen/W. Rüfner, 1973, S. 123 ff. [139]; K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 1977, S. 80; sowie neuestens B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982.
Bei unverändertem Verfassungsinhalt kann sich danach ein neues Rechtsverständnis durchsetzen, dem auch mit der historischen Interpretationsmethode nicht entgegengetreten werden kann. Die Beratungen des Parlamentarischen Rates standen im Banne der Erfahrungen aus der Weimarer Republik, und von daher ist es unbezweifelbar richtig, daß kein Unterschied gemacht werden sollte zwischen einem gemäß Art. 63 und einem gemäß den Art. 67 oder 68 des Grundgesetzes gewählten Bundeskanzler. Der Parlamentarische Rat ging aus von der Konstruktion eines größtmöglichen Zwanges zur Stabilität, Kontinuität und zeitlich vollen Ausschöpfung der Legislaturperiode. Aber dies alles beruht auf der Geschichte von Weimar.
Indessen hat die Bundesrepublik inzwischen ihre etwa zwei

BVerfGE 62, 1 (69):

einhalbmal so lang dauernde eigene Geschichte. Die aus ihr gewonnenen Erfahrungen treten neben den historisch-entstehungsgeschichtlichen Aspekt und sind bei der Auslegung des Grundgesetzes mindestens gleichrangig heranzuziehen. Demzufolge kann nicht außer Betracht bleiben, daß bei der Bundestagswahl der Wähler weithin das von der Welt der politischen Tatsachen honorierte Gefühl hat, mit seiner Stimmabgabe über die Person des künftigen Kanzlers zu entscheiden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß ein gemäß Art. 67 GG ins Amt berufener Bundeskanzler sich mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet fühlen mag, das seine Amtsautorität mindert. Skepsis in der Bevölkerung allgemein könnte durchschlagen bis in den Kreis der eigenen organisierten Anhängerschaft und durch den Ruch eines "Kanzlers zweiter Güte" die politische Handlungsfähigkeit lähmen.
c) Der Bundespräsident hat überdies in der mündlichen Verhandlung vortragen lassen, daß er auf Grund der am 5. Januar 1983 mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden geführten Gespräche von dem Faktum habe ausgehen müssen, "daß eine - vom Grundgesetz gewollte und politisch erstrebenswerte - stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr zu erreichen war". Er hat weiter erklärt, daß er den Bundestag nicht aufgelöst hätte, wenn nach seiner Überzeugung eine Mehrheit im Bundestag sich auf diesem Wege Vorteile bei der Wahl unter Verletzung der Interessen der Minderheit verschaffen würde; sein Bevollmächtigter hat diesen Gesichtspunkt als vorrangig bekräftigt.
4. Der Bundespräsident stand vor der Wahl des geringeren Übels: auf der einen Seite eine manipulierte Selbstauflösung des Bundestages, die durch eine "gesetz-zielwidrig" (Lerche) gestellte Vertrauensfrage instrumental ins Werk gesetzt worden ist; auf der anderen Seite die Amtsführung durch einen Bundeskanzler, der zwar die im Rechtssinne vollwertige Amtsgewalt innehat, dessen zur vollen politischen Handlungsfähigkeit erforderliche Glaubwürdigkeit im weitesten Sinne aber in Frage gestellt wird.
Es ist dem Bundesverfassungsgericht nicht möglich, im einzel

BVerfGE 62, 1 (70):

nen die Überzeugungsbildung des Bundespräsidenten nachzuprüfen, und es ist auch nicht seine Aufgabe, darüber zu befinden, ob der Bundespräsident in der konkreten politischen Situation die bestmögliche Entscheidung getroffen hat. Wenn sich der Bundespräsident unter Berücksichtigung aller Umstände im Hinblick auf die Gewichtung der verschiedenen Rechtsgüter und politischen Interessen in dieser besonderen Situation für die Auflösung des Bundestages entschieden hat, so ist das verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Zeidler
 
Abweichende Meinung des Richters Dr. Rinck zu dem Urteil des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 -- 2BvE 1-4/83 --
Ich bedauere, der Entscheidung nicht zustimmen zu können. Dabei leiten mich folgende Erwägungen:
I.
Art. 68 GG lautet:
    "Art. 68 Vertrauensfrage - Bundestagsauflösung
    (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
    (2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen."
Schon der Wortlaut des Art. 68 GG schließt es aus, daß ein Bundeskanzler, der ersichtlich das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages hat, nach dieser Norm die Auflösung des Bundestages anstrebt, einleitet und erreicht. Der Bundes

BVerfGE 62, 1 (71):

präsident darf in einem solchen Fall den Bundestag nicht auflösen.
Eine Befugnis des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, kommt vielmehr nur in Betracht, wenn folgende Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind:
    -- Der Bundeskanzler hat einen Antrag gestellt, ihm das Vertrauen auszusprechen; nach Ablauf von 48 Stunden hat der Bundestag darüber abgestimmt; der Antrag hat nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gefunden.
    -- Der Bundeskanzler hat bei dem Bundespräsidenten beantragt, den Bundestag aufzulösen.
    -- Seit der Abstimmung über die Vertrauensfrage ist die Frist von 21 Tagen noch nicht verstrichen; der Bundestag hat auch noch keinen anderen Bundeskanzler mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt.
Wenn alle diese Voraussetzungen vorliegen, dann kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen.
Art. 68 GG umschreibt den Tatbestand anschaulich anhand bestimmter Stadien des parlamentarischen Verfahrens. Die genannten Tatbestandsvoraussetzungen müssen nicht nur kumulativ gegeben sein, sie müssen überdies zeitlich und logisch aufeinander folgen. Fehlt es an einer vorgehenden Voraussetzung, kann die nächste nicht eintreten. Fehlt es auch nur an einer Voraussetzung, ist für eine Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten kein Raum.
Art. 68 GG spricht von einem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen. Der Wortlaut legt es nahe, sich darunter einen Antrag vorzustellen, dessen Sinn und Zweck es ist, möglichst viel Zustimmung zu erlangen, und der gestellt wird, weil eine sichere parlamentarische Mehrheit für die Politik des Bundeskanzlers fraglich geworden ist.
Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, daß der verfassungsrechtlich überkommene Begriff "Vertrauen", den Art. 68 GG aufgreift, den beschriebenen engen Sinn hat. Das Vertrauen ge

BVerfGE 62, 1 (72):

genüber dem Kanzler (der Regierung, einzelnen Ministern) ist ein zentraler Begriff des parlamentarischen Regierungssystems. Seine Kehrseite ist die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung. Inhaltlich bedeutet "Vertrauen": Die Regierung kommt ins Amt und bleibt im Amt, wenn und solange sie von einer Mehrheit der Mitglieder des Parlaments getragen wird. Die Aussprache des Vertrauens ist die formalisierte Erklärung, den Bundeskanzler und das von ihm vertretene Regierungsprogramm unterstützen zu wollen.
Das Vertrauenserfordernis als Grundlage für eine Regierung im parlamentarischen System prägt sich in zwei Formen aus: "positiv" derart, daß dem Kanzler (der Regierung, einzelnen Ministern) bei der Wahl oder durch ausdrücklichen Ausspruch zu anderer Gelegenheit das Vertrauen bekundet wird; "negativ" als Mißtrauensvotum, durch das mit umgekehrter Zielrichtung das fehlende Vertrauen festgestellt wird. Die institutionelle Ausprägung des Vertrauenserfordernisses in einzelnen Verfassungen ist verschieden. So lautete etwa Art. 54 WRV:
    "Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht."
Gemeinsam ist dem Art. 68 GG und dem Art. 54 WRV der Inhalt des Begriffs "Vertrauen".
Vertrauen in dem beschriebenen Sinne zu suchen und zu finden, ist Gegenstand des Art. 68 GG. Die Norm spricht auch davon, daß der auf Aussprache des Vertrauens gerichtete Antrag Zustimmung findet. Finden setzt aber Suchen voraus.
Daß Art. 68 GG auch eine Vertrauensfrage gemeint haben könnte, die nur gestellt wird, damit sie von Abgeordneten, die sich in ihrer Zielsetzung mit dem Bundeskanzler einig wissen und die ihn persönlich zur Fortsetzung des Amtes für geeignet halten, aufgrund einer vertrauensvollen Übereinkunft nicht bejaht wird, läßt sich dem Wortsinn dieser Vorschrift nicht entnehmen.

BVerfGE 62, 1 (73):

Das aus dem Wortlaut gewonnene Textverständnis bestätigt sich, wenn man Art. 68 GG in dem Zusammenhang, in den er eingeordnet ist, in den Blick nimmt, nach seinem Zweck fragt und zur Behebung etwa verbliebener Zweifel die Entstehungsgeschichte heranzieht.
II.
1. a) Art. 68 GG steht mit den Art. 63 und 67 GG - wie sich schon aus der ihnen gemeinsamen Zuordnung zum Abschnitt VI "Die Bundesregierung" des Grundgesetzes ergibt - in einem engen Zusammenhang. An einen Anwendungsfall des Art. 68 GG knüpft ferner der Art. 81 GG an.
Art. 63 GG regelt die Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers. Bedeutsam ist hier insbesondere sein Absatz 4. Für den Fall, daß auch der wiederholte Versuch, einen Bundeskanzler mit den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zu wählen, scheitert, hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder einen Minderheitskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
Nach Art. 67 GG kann der Bundestag dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. Art. 67 GG kennt, anders als Art. 54 WRV, nicht das destruktive Mißtrauensvotum. Eine Opposition, die sich nur im Negativen, in der Ablehnung des amtierenden Kanzlers und seiner Politik, einig ist, soll nicht den Kanzler stürzen dürfen. Strenggenommen geht es in Art. 67 GG, obwohl sein Inhalt allgemein mit "konstruktives Mißtrauensvotum" bezeichnet wird, weniger um den Ausspruch des Mißtrauens gegenüber dem bisherigen Kanzler als vielmehr um den Ausspruch des Vertrauens gegenüber dem neuen Kanzler.
Nach Art. 81 GG kann, wenn im Falle des Art. 68 GG der Bundestag nicht aufgelöst wird, der Bundespräsident auf Antrag

BVerfGE 62, 1 (74):

der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates für eine Gesetzesvorlage den Gesetzgebungsnotstand erklären, wenn der Bundestag sie ablehnt, obwohl die Bundesregierung sie als dringlich bezeichnet hat. Das gleiche gilt, wenn eine Gesetzesvorlage abgelehnt worden ist, obwohl der Bundeskanzler mit ihr den Antrag nach Art. 68 GG verbunden hatte.
Diesen Vorschriften und Art. 68 GG ist gemeinsam, daß sie darauf gerichtet sind, im Zusammenwirken des Bundestages, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesregierung (im Falle des Art. 81 GG zusätzlich des Bundesrates) regierungsfähige Mehrheiten herzustellen, zu erhalten, durch neue zu ersetzen oder aber - falls dies ausscheidet - einer Minderheitsregierung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit zu schaffen. Als ultima ratio ist in zwei Fällen (Art. 63 Abs. 4 und Art. 68 Abs. 1 GG) die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten vorgesehen. Dabei ist das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG (im Gegensatz zu Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG, wonach der Bundespräsident binnen sieben Tagen den Minderheitskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen hat) so ausgestaltet, daß der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen kann.
Art. 63, 67, 68 und 81 GG bilden zusammen gesehen ein System der gegenseitigen Gewaltenhemmung. Ziel dieses ausbalancierten Systems ist, daß die Regierungsaufgaben stets von einer handlungsfähigen Exekutive wahrgenommen werden. Insofern kommt der Auflösung des Bundestages, die an enge Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft ist, nur eine begrenzte Funktion zu.
Jede der genannten, im systematischen Zusammenhang stehenden Normen hat ihre besondere Funktion: Art. 63 Abs. 1 bis 3 und Art. 67 GG treffen Regelungen für den Fall, daß sich (ursprüngliche oder neue) Mehrheiten im Sinne des Art. 121 GG zur Wahl eines Bundeskanzlers und zur Unterstützung einer von ihm gebildeten Bundesregierung zusammenfinden. Art. 63 Abs. 4 GG findet Anwendung, wenn eine derartige Mehrheit ersichtlich

BVerfGE 62, 1 (75):

nicht vorhanden ist. Art. 81 GG knüpft an eine negativ beantwortete Vertrauensfrage, sei es isoliert, sei es verbunden mit einer Gesetzesvorlage, an. Er ermöglicht dann der Minderheitsregierung die politische Handlungsfähigkeit. Art. 68 GG eröffnet dem Bundeskanzler die Möglichkeit, sich des Vertrauens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zu vergewissern. Spricht der Bundestag dem Bundeskanzler das Vertrauen aus, ist damit die Anwendung des Art. 68 GG erschöpft. Eine Auflösung des Bundestages kommt nur in Betracht, wenn die Vertrauensfrage negativ beantwortet wird. Damit kann neben dem Anwendungsbereich der Art. 63 Abs. 1 bis 3 und 67 GG nur der Fall gemeint sein, daß der Bundestag ebenso wie im Fall des Art. 63 Abs. 4 GG nicht in der Lage ist, eine positive Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG zu bilden.
Eine Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG trotz Fortbestehens einer regierungsfähigen Mehrheit, die ihren Kandidaten jederzeit nach Art. 67 GG zum Kanzler wählen kann oder gewählt hat, würde das ausbalancierte System der Art. 63, 67, 68 und 81 GG umstoßen.
Eine Auslegung des Art. 68 GG, die eine Auflösung des Bundestages in einer solchen Situation zuließe, würde insbesondere der zur Kanzlerwahl und Regierungsbildung fähigen Mehrheit das geben, was das Grundgesetz ihr verweigert: einen Weg zur Auflösung des Bundestages über ein destruktives Mißtrauensvotum. Das Grundgesetz kennt, wie gezeigt, nur das sog. konstruktive Mißtrauensvotum. Ein zur Auflösung des Bundestages führendes destruktives Mißtrauensvotum ist nicht nur im Grundgesetz nicht enthalten, der Grundgesetzgeber hat es - wie im einzelnen noch zu zeigen sein wird - ausdrücklich abgelehnt.
Die von Art. 68 GG vorausgesetzte Krisenlage kann vielerlei Gestalt haben: Die bisherige Regierungsmehrheit ist kleiner als die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages geworden, die negative Mehrheit jedoch nicht willens oder in der Lage, ein kon

BVerfGE 62, 1 (76):

struktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG einzubringen; es besteht zwischen (zusammengeschmolzener) bisheriger Mehrheit und bisheriger Opposition eine Patt-Situation; die bisherige regierungsfähige Mehrheit verfügt nur (noch) über eine Mehrheit von wenigen Stimmen; die bisherige Mehrheit ist zwar noch - mehr oder weniger stark - vorhanden, unabhängig davon wird jedoch - gegen und ohne den amtierenden Kanzler - über eine neue Regierungsmehrheit unter Einbeziehung von Teilen der noch an der amtierenden Regierung beteiligten Mehrheit und der bisherigen Opposition verhandelt. Allen diesen Krisenfällen ("echten" Krisenfällen) ist gemein, daß es - wenn die übrigen Voraussetzungen nach Art. 68 GG hinzutreten - zu einer Auflösung des Parlaments kommen kann. Dabei hat die Vertrauensfrage immer den Sinn, zunächst als Appell an die bisherige Mehrheit, als "kalkulierte Drohung" zu wirken, um diese dazu zu bringen, sich erneut zu einer die Regierung tragenden Mehrheit zusammenzufinden oder diese zu bekräftigen. Dieser Sinn fehlt jedoch, wenn die Vertrauensfrage gestellt wird, ohne daß die Mehrheitsfähigkeit der Regierung in Frage gestellt ist, und die Vertrauensfrage lediglich dazu dienen soll, die Grundlage für die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 GG (Antrag des Bundeskanzlers und Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten) zu schaffen.
b) Der aus dem Zusammenspiel der Art. 68, 63, 67, 81 GG gewonnene Sinn und Anwendungsbereich der Norm wird durch den inneren Aufbau des Art. 68 GG bestätigt: Satz 2 des Art. 68 Abs. 1 GG lautet: Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der

BVerfGE 62, 1 (77):

Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. Art. 68 GG ordnet sich damit selbst in aufschlußreicher Weise in die Regelung des parlamentarischen Regierungssystems des Grundgesetzes ein: Auch wenn der Bundestag dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen ausgesprochen und der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorgeschlagen hat, kann der Bundestag der Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten zuvorkommen, indem er einen anderen Bundeskanzler wählt. Solange das Parlament fähig ist, mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Bundeskanzler zu wählen und/oder zu stützen, ist die Auflösung ausgeschlossen. Gleiches gilt, sobald es diese Fähigkeit, falls sie verloren war, zurückgewonnen hat. Die Regierungsbildung aus dem Parlament heraus hat also während der Dauer der Legislaturperiode Vorrang vor Neuwahlen.
In Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG ist der Vorrang der auf die Bildung einer über eine Mehrheit verfügenden Regierung gerichteten Art. 63 Abs. 1 bis 3, 67 GG oder auch der Vorrang des wieder erstarkten und bestätigten Vertrauens statuiert. Sind die Voraussetzungen für die Anwendung dieser, einen höheren Grad an Regierungsstabilität und -kontinuität gewährleistenden Normen gegeben, so ist der Weg zur Minderheitsregierung einschließlich des Gesetzgebungsnotstandes oder zur Auflösung des Bundestages verschlossen. Nur wenn der Bundestag nicht fähig und in der Lage ist, durch die Wahl und/oder Unterstützung eines Bundeskanzlers für eine handlungsfähige Regierung zu sorgen, greift Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ein. Dagegen eröffnet er nicht die Möglichkeit, trotz Vorhandenseins einer Regierungsmehrheit durch eine verabredete Verneinung der Vertrauensfrage zu einer Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu gelangen. Nach der inneren Systematik beider Sätze des Art. 68 Abs. 1 GG und damit nach dem Wortlaut und Wortsinn der Norm insgesamt fehlt die rechtliche Voraussetzung für eine Auflösungsverfügung des Bundespräsidenten, solange der Bundeskanzler eine die Hand

BVerfGE 62, 1 (78):

lungsfähigkeit der Regierung gewährleistende Mehrheit hinter sich hat.
Vielmehr setzt Art. 68 GG eine Situation voraus, in der die Ablehnung des Vertrauensantrages des Bundeskanzlers durch den Bundestag anzeigt, daß der Bundeskanzler nicht mehr von der Mehrheit, die ihn gewählt hat, getragen wird und in der auch eine andere Mehrheitsbildung nicht möglich zu sein scheint. Der Bundeskanzler kann - aber muß nicht - in einem solchen Fall zurücktreten. Tritt er zurück, kann es nach Art. 63 Abs. 4 GG zur Auflösung des Bundestages kommen, wenn nicht ein anderer Kanzler gewählt wird. Tritt er nicht zurück, muß er entweder versuchen, mit demselben Bundestag weiterzuarbeiten, oder dessen Auflösung dem Bundespräsidenten vorschlagen. Beantragt er die Auflösung, so liegt die letzte Entscheidung beim Bundespräsidenten. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß die mißbräuchliche Anwendung des Auflösungsrechts durch den Regierungschef - z.B. zu parteipolitischen Zwecken - verhindert oder zumindest eingeschränkt wird. Andererseits soll die Möglichkeit bestehen, einen zur Mehrheitsbildung unfähigen Bundestag aufzulösen oder durch die Auflösungsandrohung ihn zur mehrheitlichen Duldung der bestehenden oder zur mehrheitlichen Bildung einer neuen Regierung zu drängen. Der Bundespräsident kann die Auflösung nicht erzwingen, aber er kann sie verhindern.
2. Aus dem inneren Aufbau des Art. 68 GG hat sich wie aus der Stellung der Norm im Zusammenhang mit Art. 63, 67, 81 GG ergeben, daß es zum Antrag des Bundeskanzlers, den Bundestag aufzulösen, in verfassungsmäßiger Weise nur kommen kann, wenn der seiner Regierungsmehrheit nicht mehr sichere Kanzler die Vertrauensfrage gestellt und sie negativ beantwortet erhalten hat. Umgekehrt ist eine Bundestagsauflösung verfassungswidrig, wenn der Kanzler ohne Vorliegen einer derartigen Krisensituation und in der erkennbaren, ausschließlichen Absicht der Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten ein künstliches Mißtrauensvotum im äußeren Gewande einer Vertrauens

BVerfGE 62, 1 (79):

frage herbeiführt und im Anschluß daran vorschlägt, den Bundestag aufzulösen.
Das Ergebnis gewinnt noch an Überzeugungskraft, wenn man die Norm im größeren systematischen Zusammenhang des Grundgesetzes betrachtet.
Bei der gebotenen Zusammenschau ist neben der Stellung des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes insbesondere Art. 39 GG von Gewicht.
a) Ist die von Art. 68 GG vorausgesetzte Krisenlage gegeben, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen, er kann die Auflösung aber auch verweigern.
Dieses Ermessen des Bundespräsidenten würde wesentlich beschränkt, wenn er an das formale Ergebnis einer Abstimmung über die Vertrauensfrage gebunden wäre und deren Anlaß sowie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht in seine Prüfung einbeziehen könnte. Andererseits würde dem Bundespräsidenten eine größere Teilhabe an der Staatsleitung zuwachsen, als ihm das Grundgesetz eingeräumt hat, wenn er, ohne daß der von Art. 68 GG vorausgesetzte Krisenfall  vorliegt, aufgrund einer künstlich herbeigeführten Ablehnung der Vertrauensfrage die gleiche Rechtsfolge aussprechen könnte, die Art. 68 GG nur für den Krisenfall vorsieht. Es hinge dann nämlich von einer rechtlich nicht mehr gebundenen Entscheidung des Bundespräsidenten ab, ob eine Bundestagsmehrheit Neuwahlen zu jedem ihr günstig erscheinenden Zeitpunkt erreichen kann oder nicht.
b) Art. 39 GG bestimmt in seinem Absatz 1, daß der Bundestag auf vier Jahre gewählt wird. Die Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages.
Art. 39 GG trägt im Zusammenwirken mit den Art. 20 Abs. 2 (insbesondere Satz 2), 29, 118, 38 Abs. 1 GG zu der besonderen Ausprägung der repräsentativen Demokratie unter dem Grundgesetz entscheidend bei.
Art. 39 Abs. 1 GG sieht grundsätzlich eine vierjährige Legislaturperiode vor, die nur in den beiden Fällen des Art. 63 Abs. 4

BVerfGE 62, 1 (80):

Satz 3 und des Art. 68 GG vorzeitig beendet werden kann. Ein generelles Auflösungsrecht des Bundespräsidenten oder ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen, auch der Mehrzahl der Bundesländer, nicht. Im konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts hatte das Auflösungsrecht den Sinn, sich eines unbequemen Parlaments zu entledigen und mit Hilfe neuer Wahlen nach Möglichkeit ein Parlament zu erhalten, das den Wünschen der Krone gefügiger war. Heute ist dieses Auflösungsrecht zu einem Mittel geworden, um während der normalen Legislaturperiode dem Bürger vorzeitig Gelegenheit zu geben, seinem Willen in zusätzlichen Wahlen Ausdruck zu geben. Dem gleichen Zweck kann auch ein etwa von der Verfassung vorgesehenes parlamentarisches Selbstauflösungsrecht dienen. Auf diese Weise sollen Spannungen zwischen dem im Parlament gebildeten und dem unmittelbar bekundeten Volkswillen abgemildert werden, die mit einer längeren Dauer der Legislaturperiode verbunden sind. Das Grundgesetz hat sich aber gegen das Selbstauflösungsrecht entschieden.
Diesen Befund hat - als gesicherten Stand der Staatsrechtswissenschaft - auch die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages festgehalten (vgl. Schlußbericht der Kommission; BTDrucks. 7/5924, S. 39 ff.; im folgenden: Bericht). Sie hat insbesondere darauf hingewiesen, daß sich aus Art. 68 GG ein Weg zur Auflösung des Bundestages in anderen als den von dieser Vorschrift erfaßten Anwendungsfällen nicht gewinnen läßt. Sie war der Ansicht, daß die vom Grundgesetz vorgesehenen verfassungsrechtlichen Mittel zur Behebung politischer Funktionsstörungen de constitutione lata nicht für alle denkbaren Lagen ausreichend sind und hat daher ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages mit Zwei-Drittel-Mehrheit auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages vorgeschlagen (Bericht S. 34, 40). Der Deutsche Bundestag hat zwar, schon bevor der Abschlußbericht der Kommission vorlag, nach ihren Vorschlägen Art. 39 Abs. 1 und 2 GG geändert. Er hat aber ohne nennenswerte Diskussion (vgl. Vhdl. des Deutschen Bundestages, 8. Wahl

BVerfGE 62, 1 (81):

periode, 73. Sitzung vom 17. Februar 1978, Sten. Prot. S. 5757 bis 5788, insbesondere S. 5775 f. [5776] = Debattenbeitrag des Abgeordneten Dr. Wendig [F.D.P.]) davon abgesehen, das von der Kommission als weitere Änderung des Art. 39 GG vorgeschlagene Recht des Bundestages zur vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode (Selbstauflösungsrecht) einzuführen.
Angesichts dieser gewollten, unveränderten Verfassungslage beschränkt jede Erweiterung der Auflösungsmöglichkeiten über ihren eigentlichen Anwendungsfall hinaus in verfassungswidriger Weise die Volksvertretung. Diese wäre gehindert, ihre Aufgabe, der sie sich auch selbst nicht entziehen darf, während der vollen Dauer der Legislaturperiode zu erfüllen.
Das Grundgesetz sieht, abgesehen von den tatbestandlich eng gefaßten Sonderfällen der Art. 63 Abs. 4 und Art. 68 GG, aus gutem Grunde die volle Legislaturperiode nach Art. 39 GG vor: Andernfalls wäre eine kontinuierliche Gesetzgebungs- und Regierungsarbeit in hohem Maße gefährdet. Dies gilt insbesondere für Maßnahmen, die zum Wohle des Ganzen notwendig erscheinen, aber nicht jeder Interessengruppe von vornherein einsichtig sind. Für einen ins Gewicht fallenden Teil der Wählerschaft unerwünschte Maßnahmen können - wie die Erfahrung lehrt - im Vorfeld von Wahlen, bei denen der Wettbewerb um die Wählerstimmen immer mehr in den Vordergrund rückt und rationale Argumente gegenüber gefühlsbetonten Appellen leicht ins Hintertreffen zu geraten drohen, kaum oder gar nicht mehr ergriffen und durchgesetzt werden.
Einer Erweiterung der von Art. 68 GG vorgesehenen Auflösungsmöglichkeiten stehen daher nicht nur verfassungsrechtliche, sondern auch gute verfassungspolitische Gründe entgegen.
c) Weist aber die Systematik des Grundgesetzes Art. 68 GG seine spezifische Tragweite und Bedeutung zu, so steht auch Art. 79 GG einer Ausweitung seines Anwendungsbereiches entgegen. Wenn die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Art. 68 GG nicht vorliegen, kann auch der Wille aller im Bundestag vertretenen Parteien oder einer qualifizierten Mehrheit der Abge

BVerfGE 62, 1 (82):

ordneten den verfassungswidrigen Weg zur Auflösung des Bundestages nicht verfassungsmäßig machen.
Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). Mit dieser Bestimmung soll der Vorrang des geschriebenen Verfassungsrechts gesichert werden, der seinerseits die allgemeine und umfassende Gültigkeit der Verfassung voraussetzt, ohne die sie nicht rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens sein kann.
Der Bestand des geltenden Verfassungsrechts soll sich aus der Verfassungsurkunde selbst ergeben; jeder soll ohne Schwierigkeiten erkennen können, was de constitutione lata gilt.
Deshalb ist es unzulässig, die Verfassung im Einzelfalle außer acht zu lassen, auch wenn dies mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten geschieht, während die Verfassung im übrigen fortgilt. Dies würde zur Entstehung einer Nebenverfassung führen, die die Verfassung, auch wenn sie formal unangetastet bliebe, der Sache nach innerlich aushöhlen müßte. Der Vorrang und die stabilisierende Wirkung der geschriebenen Verfassung, die Rechtsklarheit und die Rechtsgewißheit, die sie schafft, wären preisgegeben zugunsten der Zulassung einer wachsenden und immer unübersehbarer werdenden Zahl von stillschweigenden Abweichungen, die die Verfassung entwerten müßten und daher mit ihrem Wesen unvereinbar wären (vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., Karlsruhe 1982, § 21 I = Rdnr. 698).
Deshalb verfängt auch nicht das Argument, es ermangele der Regierung eines über das konstruktive Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG ins Amt berufenen Kanzlers an der hinreichenden demokratischen Legitimation und es bedürfe deshalb der Neuwahlen. Es gibt keine Legitimation außerhalb, neben oder über der Verfassung. Die Legitimation der nach dem konstruktiven Mißtrauensvotum amtierenden Regierung ergibt sich aus den vorangegangenen Wahlen (Art. 38 GG), aus der Fortdauer der

BVerfGE 62, 1 (83):

Legislaturperiode (Art. 39 GG) und der Institution des konstruktiven Mißtrauensvotums selbst (Art. 67 GG). Diese sich aus der Verfassung ergebende Legitimation würde im Einzelfall gefährdet und der Sinn des konstruktiven Mißtrauensvotums als einer zentralen Institution des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer ausgehöhlt, wenn dem über Art. 67 GG ins Amt gelangten Kanzler der Weg zu Neuwahlen über Art. 68 GG unter künstlicher Schaffung der Voraussetzungen dieser Norm eröffnet würde.
Ebenso vermag auch von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum oder inhaltlich begrenzt ausgesprochenes Vertrauen ein anderes Ergebnis nicht zu begründen.
Wie gezeigt, reicht die bloß formelle Herbeiführung des Tatbestandsmerkmals "negative Beantwortung der Vertrauensfrage" ohne Vorliegen der von Art. 68 GG vorausgesetzten Krisenlage nicht hin, um in verfassungsmäßiger Weise die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 GG zur Auflösung des Bundestages zu schaffen. Die Auflösung kommt nur in Betracht, wenn der Bundeskanzler im Zeitpunkt der Beantwortung der Vertrauensfrage und während der 21-Tage-Frist danach zur Bildung einer Regierungsmehrheit nicht in der Lage ist. Hat der Kanzler ersichtlich eine Mehrheit, so kann es nicht zur Auflösung kommen, ob zu einem früheren Zeitpunkt das Vertrauen zeitlich oder sachlich eingeschränkt worden ist oder nicht.
3. Dem bisher gefundenen Ergebnis läßt sich auch nicht entgegenhalten, eine an Wortlaut und Systematik der Norm orientierte Anwendung werde nicht der Tatsache gerecht, daß der Anwendungsbereich des Art. 68 GG durch die bisherige Staatspraxis erweitert worden sei.
Eine entgegenlautende Staatspraxis liegt nicht vor. Das Beispiel des Jahres 1972 ist nicht geeignet, eine derartige Staatspraxis zu belegen. Dies schon deshalb, weil im Gegensatz zu 1982 die von Art. 68 GG vorausgesetzte Instabilität vorlag. Die Regierung des Bundeskanzlers Brandt, der am 21. Oktober 1969 mit nur 251 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt worden war,

BVerfGE 62, 1 (84):

konnte sich schon im Frühjahr 1972 der Mehrheit der voll stimmberechtigten Mitglieder des Bundestages (insbesondere der entscheidenden 249. Stimme des Abg. Müller) nicht mehr sicher sein. Am 27. April 1972 versuchten deshalb die Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU, im Verfahren nach Art. 67 GG dem Bundeskanzler das Mißtrauen auszusprechen und den Abgeordneten Dr. Barzel zum Bundeskanzler zu wählen. Der Antrag erhielt nur 247 Stimmen der voll stimmberechtigten Mitglieder des Deutschen Bundestages und verfehlte daher die erforderliche Mehrheit um zwei Stimmen. Andererseits war sich der amtierende Kanzler nach wie vor nicht mehr der Mehrheit von mindestens 249 Stimmen gewiß. Im Gegenteil trat die Absicht weiterer Abgeordneter der bisherigen Mehrheit, den Kanzler nicht mehr zu stützen, klar zutage. Es herrschte ein "parlamentarisches Patt". Die von Art. 68 GG vorausgesetzte Lage war gegeben.
Am 28. April 1972 scheiterte die Koalition mit ihrem Haushaltsentwurf für das laufende Jahr: Der Einzelplan des Bundeskanzleramtes erreichte bei Stimmengleichheit von 247 : 247 nicht die Mehrheit. Ab 16. Mai, dem Tag des Ausschlusses des Abgeordneten Müller aus der SPD, verfügte die Regierung nur noch über die Minderheit von 248 Stimmen. Mit der einfachen Mehrheit dieser Stimmen wurden am 17. Mai 1972 die Ostverträge ratifiziert.
Am 20. September stellte, nachdem inzwischen alle Parteien Neuwahlen für angebracht hielten, Bundeskanzler Brandt die Vertrauensfrage. Während der 48-Stunden-Frist zwischen Antrag und Abstimmung nahm der Bundestag am 20. September 1972 Änderungsanträge der Fraktion der CDU/CSU zum Rentenreformgesetz mit 248 : 247 Stimmen an. Daraus wird deutlich, daß die Krisenlage (eine Patt-, wenn nicht Minderheits-Situation der amtierenden Regierung) fortbestand. An der Abstimmung über die Vertrauensfrage am 22. September 1972 nahmen nur 482 voll stimmberechtigte Abgeordnete teil. Mit Ja stimmten 233, mit Nein 248 bei einer Enthaltung. Der Bundespräsident löste am 22. September 1972 den 6. Deutschen Bundestag auf

BVerfGE 62, 1 (85):

und bestimmte den 19. November 1972 zum Wahltag. Zur Begründung erklärte er am Abend über Rundfunk und Fernsehen:
    "... Auflösung des alten und Wahl des neuen Deutschen Bundestages sind unvermeidlich geworden.
    Zur parlamentarischen Demokratie gehört ein Gegenüber von Regierung und Opposition, ein Gegenüber von Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit. Dieses Gegenüber aus den Anfängen des heute aufgelösten Deutschen Bundestages hat sich, aus welchen Gründen auch immer, in ein Stimmengleichgewicht von Regierung und Opposition verwandelt. Eine zielstrebige parlamentarische Arbeit ist dadurch nicht mehr gewährleistet ..."
Da, wie gezeigt die parlamentarische Instabilität vorlag, kam es auf die - hinzutretende - Einigkeit der politischen Parteien, Neuwahlen zu wollen, für die Anwendbarkeit des Art. 68 GG nicht an. Dächte man sich die Einigkeit hinweg, wären die Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG dennoch vorhanden gewesen (vgl. dazu statt vieler Hartmut Maurer, Vorzeitig Auflösung des Bundestages, DÖV 1982, S. 1001 [1005]).
Abgesehen davon, würde es dem Sinn einer Verfassung überhaupt widersprechen, wollte man - gerade im staatsorganisatorischen Bereich - gesetztes, nach seinem Sinnganzen in bestimmter Weise ausgestaltetes Verfassungsrecht durch außerhalb dieser Ordnung stehende nach Opportunität entwickelte Regeln ersetzen.
III.
Aus Wortlaut und Sinnzusammenhang hat sich der Zweck des Art. 68 GG erschlossen. Im Rahmen des Systems der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes dient Art. 68 GG dazu, einen Notbehelf für die Ausnahmesituation zur Verfügung zu stellen, daß der Bundestag einerseits keine Regierungsmehrheit bilden kann und der Bundeskanzler andererseits weder zurücktreten noch über Art. 81 GG ohne den Bundestag regieren will, sondern mit Hilfe der Vertrauensfrage und der

BVerfGE 62, 1 (86):

Auflösungsdrohung einen vergeblichen Versuch unternommen hat, im Parlament eine Mehrheit für seine Politik zu gewinnen. Dieser begrenzten Funktion würde eine Auslegung und Anwendung des Art. 68 GG zuwiderlaufen, die einem Bundeskanzler und der ihn tragenden Mehrheit die Möglichkeit eröffnen würde, durch Enthaltungen bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage Einfluß auf die Bestimmung eines für vorteilhaft gehaltenen Wahltermins vor Ablauf der Legislaturperiode zu nehmen. Wenn die Vertrauensfrage in der erklärten Absicht gestellt werden dürfte, Neuwahlen zu erreichen, obwohl eine regierungsfähige Mehrheit vorhanden ist, wäre die aus guten Gründen vom Grundgesetz in Art. 39 Abs. 1 vorgeschriebene vierjährige Dauer der Legislaturperiode nicht mehr gewährleistet.
Sähe man ein derartiges Verfahren als von Art. 68 GG gedeckt an, liefe das auf eine Verkehrung des Normzweckes hinaus: Statt aus einer Situation der Instabilität über die Parlamentsauflösung als ultima ratio zur Stabilität durch (erhoffte) neue Mehrheiten zu gelangen, liefe man Gefahr, bei vorhandener Regierungsstabilität in eine Situation der Instabilität zu geraten, eine Lage also, die das Grundgesetz gerade nach Möglichkeit vermeiden will. Eine so herbeigeführte Krisensituation könnte dann schon bald wieder Neuwahlen erforderlich erscheinen lassen. Daher ist es mit Art. 68 GG nicht vereinbar, wenn der Bundeskanzler nach einer sinnwidrig beantworteten Vertrauensfrage dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlägt. Für den Bundespräsidenten sind in einem derartigen Fall schon die rechtlichen Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages nicht gegeben. Daher wird der Entscheidungsspielraum noch nicht eröffnet, den Art. 68 GG dem Bundespräsidenten mit dem Wort "kann ... (auflösen)" für eine "echte" Krisenlage einräumt. Vielmehr ist er gebunden, den Vorschlag des Kanzlers abzulehnen.
IV.
Die Entstehungsgeschichte bestätigt das gefundene Ergebnis.
1. Bei der Konzeption des parlamentarischen Regierungs

BVerfGE 62, 1 (87):

systems, wie es im Grundgesetz Ausdruck gefunden hat, tauchte bereits in den Beratungen des Herrenchiemseer Konvents die Frage auf, welche Regelung für den Fall getroffen werden solle, daß das Parlament bei der Regierungsbildung versage oder sich als unfähig erweise, eine handlungsfähige Regierung zu bilden.
In dem Entwurf eines Grundgesetzes des Sachverständigenausschusses für Verfassungsfragen, erarbeitet im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10.-23. August 1948, findet sich allerdings eine dem Art. 68 GG entsprechende Vorschrift noch nicht (vgl. den Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, München o. J. [1948] - im folgenden: Bericht -). Ebenso fehlte eine dem Art. 81 GG (Gesetzgebungsnotstand) entsprechende Vorschrift. Gleichwohl lassen sich dem Bericht Hinweise für den Anwendungsbereich des heutigen Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG entnehmen.
Im darstellenden Teil des Berichts (S. 11 ff.) heißt es im Zusammenhang des Kapitels "Der Bundestag" (S. 35 f.):
    "1. Es bestand keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß in Form des Bundestags wieder ein echtes Parlament zu schaffen sei, welches unmittelbar vom deutschen Volk und nicht etwa von den Landtagen gewählt wird. Dieses Parlament soll den Hauptanteil an der Gesetzgebung erhalten und die Regierung soll von ihm abhängig sein. Es wirkt außerdem bei der Wahl des Bundespräsidenten mit.
    2. Gegen die Gefahr, die ein arbeitsunfähiges Parlament bedeutet, sind folgende Sicherungen vorgesehen worden:
    a) ... (betrifft Wahlreform, 5%-Klausel);
    b) ... (betrifft die Parteien als Organe der politischen Willensbildung, heutiger Art. 21 GG);
    c) ... (betrifft ein Notverordnungsrecht; der Entwurf sah dies [vgl. Bericht S. 78] in Art. 111 vor).
    d) Einem Versagen des Parlaments bei der Regierungsbildung wird dadurch entgegengewirkt, daß der Befugnis des Parlaments, bei Erledigung des Bundeskanzleramts den neuen Bundeskanzler zu bestimmen, zeitliche Grenzen gesteckt sind. Hierin war sich der Konvent einig. Während aber eine Minderheit bei fruchtlosem Fristablauf das Parlament kraft Gesetzes aufgelöst sein und diesen Vorgang sich ggf. beliebig oft wiederholen läßt, will

    BVerfGE 62, 1 (88):

    die Mehrheit alsdann dem Bundespräsidenten die Möglichkeit geben, auf Vorschlag des Bundesrats, der eine Art. Legalitätsreserve darstellt, eine vollgültige Regierung zu bilden. Ob der Präsident dies tun oder lieber die geschäftsführende Regierung weiter arbeiten lassen will, steht bei ihm. Auch eine vom Bundesrat vorgeschlagene Regierung ist in ihrem Fortbestand vom Parlament abhängig.
    e) Die Abhängigkeit des Fortbestehens einer Regierung vom Parlament wird in einem entscheidenden Punkt ihrer Gefährlichkeit entkleidet. Das Parlament kann zwar jederzeit durch Mißtrauensvotum den Bundespräsidenten zwingen, den Kanzler zu entlassen. Bedingung ist aber, daß es gleichzeitig einen Nachfolger benennt. Eine bloß obstruktive oder Protestmehrheit ist also gezwungen, sich zunächst in eine konstruktive Mehrheit zu verwandeln.
    Eine Minderheit hält es nicht für möglich, das Mißtrauensvotum in dieser Weise an die gleichzeitige Benennung des Nachfolgers zu binden. Das durch irgendein Ergebnis ausgelöste Mißtrauen müsse sich spontan auswirken können. Es lasse sich auch schwerlich eine Persönlichkeit zum Nachfolger vorschlagen, solange der alte Kanzler noch vollgültig im Amt sei. Statt dessen wird empfohlen, das Mißtrauensvotum seine Wirkung verlieren zu lassen, wenn das Parlament nicht binnen bestimmter Frist einem neuen Kanzler sein Vertrauen ausspreche. Dem wird aber entgegengehalten, daß das nachträgliche Unwirksamwerden des Mißtrauensvotums eine juristische Fiktion sei, die gegenüber der Tatsache, daß die Regierung einmal vor der Öffentlichkeit gestürzt und ihr in aller Form das Mißtrauen bescheinigt worden ist, nicht ins Gewicht falle.
    Eine kleine Minderheit verwirft die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung ganz und wünschte ihre grundsätzliche Unabsetzbarkeit für die ganze Amtsperiode lediglich mit einer dem Art. 44 Abs. 3 Satz 2 der Bayerischen Verfassung entsprechenden Einschränkung.
    3. Allgemein ist hinsichtlich der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament hervorzuheben, daß nach der vorgeschlagenen Lösung ein arbeitsfähiges Parlament allein über die Besetzung des Kanzleramts verfügt und nicht nach der Weimarer Verfassung in der Durchsetzung seines Willens noch vom Bundespräsidenten ab

    BVerfGE 62, 1 (89):

    hängt. Noch weniger hat der Präsident die Möglichkeit, wie im Weimarer System von sich aus einen Kanzler zu ernennen und ihn ohne das Vertrauen des Parlaments im Amt zu halten. Das Vertrauen der Parlamentsmehrheit ist ausreichend, aber auch unerläßlich, für die Berufung zum Kanzler. Nach dem Weimarer System war es weder ausreichend noch unerläßlich. Statt dessen hatte das Weimarer System die destruktive Befugnis des Parlaments zum Sturz der Regierung übertrieben ausgedehnt. Für die nachträgliche Erkenntnis lag hierin einer seiner Hauptfehler.
    4. Die Selbstauflösung des Parlaments ist nicht vorgesehen. Auch die Auflösung durch den Bundespräsidenten soll nur in einem einzigen Fall möglich sein, nämlich dann, wenn das Parlament bei der Regierungsbildung versagt und hierauf der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundesrats eine Regierung berufen hat. Nach dem Minderheitsvorschlag tritt, wie erwähnt, bei fruchtlosem Ablauf der Frist zur Regierungsbildung im Falle der Erledigung des Bundeskanzleramtes automatische Auflösung des Parlaments ein."
Im 7. Kapitel "Die Bundesregierung" (Bericht S. 43) heißt es:
    "(S. 44) Während einige Mitglieder auf die Möglichkeit eines spontanen Mißtrauensvotums nicht glauben verzichten zu können, hat die Mehrheit den Vorschlag gebilligt, der in Art. 90 des Entwurfs enthalten ist. Danach soll nur eine positive Mehrheit, die einen neuen Bundeskanzler benennen kann, in der Lage sein, dem im Amte befindlichen Bundeskanzler ihr Mißtrauen auszusprechen. Nach diesem Vorschlag würde es keine "geschäftsführende" Regierung mehr geben. Eine einmal ernannte Regierung würde vielmehr solange als vollkommen "intakte" Regierung im Amte bleiben, bis sie von einer neuen Regierung abgelöst wird, die sich wieder auf eine echte Mehrheit im Bundestag stützen kann ... (S. 45) Die mit dem Entwurf vorgeschlagene Regelung läßt sich abschließend folgendermaßen charakterisieren: Die Bundesregierung kommt auf echt parlamentarische Weise zustande und kann, soweit eine zu konstruktiver Arbeit bereite Mehrheit vorhanden ist, auch jederzeit nach parlamentarischem Brauch gestürzt werden. Solange jedoch in dem Bundestag keine positive Mehrheit vorhanden ist und damit die parlamentarischen Spielregeln auch nicht funktionieren können, würde die mit dem Entwurf vorgeschlagene Bundesregierung im Ergebnis die Stellung einer Regierung auf Zeit haben. Da

    BVerfGE 62, 1 (90):

    mit stellt der in dem Entwurf gemachte Vorschlag den Versuch dar, das Prinzip einer parlamentarischen Regierung mit den Vorzügen einer auf Zeit bestellten Regierung zu verbinden, ohne jedoch einer konstruktiven Mehrheit, die sich in Opposition zu der im Amte befindlichen Regierung bildet, die Möglichkeit zum Sturze dieser Regierung und zur Übernahme einer neuen Regierung zu nehmen."
2. a) Aufgrund der im Bericht des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee vorgeschlagenen Regelungen hatte sich der Parlamentarische Rat, insbesondere der Organisationsausschuß, zunächst mit der Frage der Parlamentsauflösung im allgemeinen überhaupt nicht befaßt (vgl. v. Doemming, Füsslein, Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR NF Bd. 1 [1951], S. 447). Erst der Redaktionsausschuß (Drucksache Nr. 276 des Parlamentarischen Rates; im folgenden: Drucks. PR Nr. ...) schlug die Einfügung eines Art. 90 a vor, der im wesentlichen dem später ins Grundgesetz aufgenommenen Art. 68 entspricht.
Wie in den Beratungen übereinstimmend hervorgehoben wurde, sollte durch eine derartige Vorschrift für den Fall Vorsorge getroffen werden, daß eine Regierung im Parlament in die Minderheit oder in die Nähe einer solchen gerät und die Mehrheit nur in der Lage ist, Opposition zu treiben, nicht aber, eine neue Regierung zu stellen.
Art. 90 a des Entwurfs sah zunächst noch (als erste Alternative) ein nicht-konstruktives Mißtrauensvotum vor.
Er lautete:
    "Art. 90a
    (1) Spricht der Bundestag dem Bundeskanzler mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder ohne Neuwahl eines anderen Bundeskanzlers das Mißtrauen aus oder findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit mehr als der

    BVerfGE 62, 1 (91):

    Hälfte seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
    (2) Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen 48 Stunden liegen." (vgl. S. 2 f. d. Drucks.)
In einer Anmerkung (S. 4 der Drucks.) zu dem vorgeschlagenen Art. 90 a Abs. 1 heißt es:
    "Es ist die Frage aufzuwerfen, ob etwa dem Bundespräsidenten die Möglichkeit zu geben ist, anstelle der Regierung die Vertrauensfrage zu stellen oder ohne Gegenzeichnung den Bundestag aufzulösen (z.B. in dem Fall, daß Parlament und Regierung aktionsunfähig sind, jedoch weder ein Mißtrauensvotum beschlossen noch die Vertrauensfrage gestellt wird, weil Parlament und Regierung weiter im Amt bleiben wollen)."
b) Der Hauptausschuß erörterte diese Frage in seiner dritten Sitzung vom 16. November 1948 (Kurzprotokoll = Drucks. PR Nr. 327; Sten. Protokoll - im folgenden StProt. - S. 25 ff.). Der vom Redaktionsausschuß vorgeschlagene Art. 90 a - vor allem die noch vorhandene Alternative des destruktiven Mißtrauensvotums - wurde schon im Zusammenhang mit der Erörterung der Kanzlerwahl (Art. 87 Entwurf) von dem Abgeordneten Dr. von Brentano (CDU) angesprochen (StProt. S. 28). Ausführlich wurde Art. 90 a im Zusammenhang mit Art. 90 (Vorläufer des jetzigen Art. 67; konstruktives Mißtrauensvotum) diskutiert (StProt. S. 33 f.). Zu Art. 90 hatte der Abgeordnete Walter (CDU) einen Abänderungsantrag eingebracht, der in anderer Form als der vom Redaktionsausschuß vorgeschlagene Art. 90 a ein nicht-konstruktives Mißtrauensvotum vorschlug.
Der Abänderungsantrag Walter lautet (vgl. Kurzprot. S. 5):
    "(1) Die Bundesregierung bedarf zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Bundestags.
    (2) Der Bundestag kann der Bundesregierung mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder das Vertrauen entziehen. Die Abstimmung über einen solchen Antrag darf frühestens am dritten Tage nach dem Tage stattfinden, an dem der Antrag eingebracht worden ist.


    BVerfGE 62, 1 (92):

    (3) Die Bundesregierung bleibt im Amt, wenn der Bundestag nicht innerhalb einer Frist von drei Wochen einer neuen Bundesregierung das Vertrauen ausspricht."
Es sollte also, wie der Abgeordnete Dr. v. Mangoldt (CDU) erläuterte (StProt. S. 33) eine Vorschrift geschaffen werden, die für die Übergangszeit, in der die negative Mehrheit schon vorhanden, aber noch nicht (konstruktiv) zur Benennung eines neuen Kanzlers in der Lage ist, die Krisenlage und die veränderten Mehrheitsverhältnisse offenlegt, die aber andererseits die sich formierende neue Mehrheit zwingt, binnen dreier Wochen einer neuen Bundesregierung das Vertrauen auszusprechen. Es sollte also ein Mißtrauensvotum in zwei Schritten erfolgen.
Von Mangoldt (ebenda) benannte selbst mögliche Einwände gegen den Vorschlag:
    "Es ist doch unmöglich, daß eine Regierung, die ein Mißtrauensvotum erhalten hat, weiter regiert."
Dem sei aber entgegenzuhalten:
    "Wenn Sie daran denken, daß eine solche Regierung das Mißtrauensvotum vielleicht durch Gruppen erhalten kann, die sich nur im Negativen einig sind, dann wird dieses Mißtrauensvotum sicher keine dauernde Arbeitsunfähigkeit der Regierung zur Folge haben. Man wird sogar damit rechnen können, daß, wenn es nicht gelingt, einen neuen Bundeskanzler an Stelle des alten zu stellen, die Mehrheit, die ihm das Vertrauen versagte, allmählich absplittert; denn sie hat sich ja praktisch vor der Öffentlichkeit blamiert. Das Vertrauen des Kabinetts wird also eher wachsen als schwinden."
Auch die Debatte zu Art. 90/90 a Entwurf im folgenden kreiste um Krisensituationen, die dadurch gekennzeichnet sind, daß Regierungsmehrheiten unsicher oder schwankend werden oder ersichtlich nicht mehr vorhanden sind.
Streit bestand dabei in der Frage, ob nur der Bundeskanzler das Recht haben sollte, die Vertrauensfrage zu stellen und damit eine Voraussetzung für die Auflösung des Bundestages herbeizuführen, oder ob noch weitere Wege zur Auflösung des Parlaments eröffnet werden sollten; insbesondere, ob, wie vom Redaktions

BVerfGE 62, 1 (93):

ausschuß oder vom Abgeordneten Walter vorgeschlagen, in Art. 90 a (heute Art. 68 GG) neben der Vertrauensfrage des Kanzlers auch ein destruktives Mißtrauensvotum der Opposition sollte zur Auflösung des Bundestages führen können.
Der Abgeordnete Dr. Katz (SPD) sprach sich gegen den Änderungsantrag Walter aus (StProt. S. 33):
    "Es ist richtig, daß Art. 90 nicht eine Patentlösung für alle zukünftigen möglichen Regierungskrisen darstellt; aber er stellt doch gegenüber dem früheren System in der Weimarer Zeit einen erheblichen Fortschritt dar. Irgendwelche Vorschläge, wie man die sonstigen Krisenerscheinungen beseitigen könnte, hat Herr v. Mangoldt auch nicht gemacht. Ich muß sagen, daß der Antrag Walter noch schlechter ist als die Lösung des Art. 90, wie er bisher vom Organisationsausschuß vorgeschlagen worden ist. Faktisch ist die Situation im großen und ganzen die gleiche. Der Unterschied zwischen der Fassung des Organisationsausschusses und der des Antrags Walter ist nur der, daß in diesem Falle einer Regierung tatsächlich das Mißtrauen ausgesprochen worden ist und daß sie dann, wenn innerhalb drei Wochen keine neue Regierung zustande kommt, als eine Regierung im Amt bleibt, die durch ein offizielles Mißtrauensvotum belastet ist, während im Falle des Art. 90, wie ihn der Organisationsausschuß vorschlägt, eine derartige offizielle Belastung nicht vorliegt, weil ein solches Mißtrauensvotum überhaupt nicht zustande gekommen ist. Sachlich sind beide Vorschläge nicht so weit auseinander, aber der Vorschlag des Organisationsausschusses ist praktischer und besser ..."
Der Abgeordnete Dr. Dehler (F.D.P.) (StProt. S. 33 f.) sprach sich für den Vorschlag des Redaktionsausschusses aus:
    "Der Vorschlag des Art. 90 löst eine Krisis nicht. Man muß sich vorstellen: eine Regierung ist in der Minderheit. Es wird ein Mißtrauensvotum eingebracht oder kann eingebracht werden, aber es findet sich keine Mehrheit, die in der Lage ist, eine Regierung zu bilden. Wenn diese Situation bleibt, besteht eine Dauerkrise. Sie muß einmal zu Ende kommen. Das scheint mir der Mangel des Art. 90 zu sein ... Ist eine obstruktive Mehrheit gegen die Regierung vorhanden, ist sie aber nicht in der Lage, einen Bundeskanzler zu wählen, dann muß aufgelöst werden. Eine andere Lösung gibt es nicht.
    (Dr. Katz: Ist das eine Lösung?)


    BVerfGE 62, 1 (94):

    Das ist eine Lösung, es ist die Lösung einer parlamentarischen Krise: Wenn ein Parlament dauernd versagt, muß es durch ein besseres Parlament ersetzt werden. Das muß nicht die automatische Folge sein. Deswegen unser Vorschlag, daß notfalls auch die Regierung die Lösung herbeiführen kann.
    Es ist durchaus denkbar, daß ein Parlament an seinen Sesseln klebt und gar nicht daran denkt, ein Mißtrauensvotum auszusprechen. Dann muß der Bundeskanzler die Möglichkeit haben, die Klärung herbeizuführen, ein Vertrauensvotum zu verlangen und, wenn es ihm verweigert wird, die Neuwahl herbeizuführen ...
    Ich glaube um diese Konsequenz kommen wir nicht herum. Wenn ein Parlament, wenn ein Bundestag arbeitsunfähig ist, - wenn er zwar in der Lage ist, Opposition zu treiben, ein Mißtrauensvotum auszusprechen, wenn er aber nicht in der Lage ist, eine Regierung zu stellen und fruchtbar zu arbeiten - dann muß die Regierung oder der Bundespräsident die Waffe der Auflösung haben."
Nach weiterer Diskussion wurde die Abstimmung über Art. 90 zunächst ausgesetzt (StProt. S. 34).
c) Nach der vierten Sitzung des Hauptausschusses vom 17. November 1948 (Kurzprotokoll = Drucks. PR Nr. 328; StProt. S. 40 ff.) wurde die Debatte fortgesetzt. Zunächst wurde nochmals Art. 90 diskutiert. Der Antrag Walter wurde mit 11 gegen 8 Stimmen abgelehnt; Art. 90 - im wesentlichen in der Fassung des Organisationsausschusses, im Wortlaut eingebracht vom Abgeordneten Dr. Katz - mit 11 Stimmen angenommen (vgl. StProt. S. 43 f.).
Sodann übernahm der Abgeordnete Dr. Katz den Vorschlag des Redaktionsausschusses, einen Art. 90 a einzuschieben, insoweit, als er eine dem heutigen Art. 68 GG entsprechende Regelung vorsieht, nicht jedoch, soweit sie das nicht-konstruktive Mißtrauensvotum beinhaltet.
Zur Erläuterung führte er an (StProt. S. 44):
    "Hier handelt es sich nicht um einen Vertrauensantrag im Sinne der Weimarer Verfassung, sondern um die Möglichkeit, der Bundesregierung im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts oder für den Fall, daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige

    BVerfGE 62, 1 (95):

    politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen, ein Auflösungsrecht zu schaffen."
Die Frage, ob neben den in Art. 90 (heute Art. 67) und in Art. 90 a nach dem Vorschlag Katz (heute Art. 68) vorgesehenen Möglichkeiten der Beendigung einer auf schwindendem, schwankendem oder nicht mehr vorhandenem Vertrauen einer Mehrheit des Parlaments beruhenden Regierungskrise weitere Wege ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten, blieb in der Debatte kontrovers. Die Abgeordneten Dr. v. Brentano und Dr. Dehler sprachen sich für die Fassung des Redaktionsausschusses aus (StProt. S. 44).
Dr. v. Brentano:
    "Nach der Fassung des Art. 87 Abs. 2 ist ein Art. 90 a (= Art. 68 GG) in dieser Form notwendig, weil die Existenz eines Minderheitskabinetts einmal einen Abschluß finden kann und muß. Gleichwohl meine ich, daß die Fassung des Redaktionsausschusses, die etwas weitergeht, vorzuziehen ist. Man soll dem Parlament nicht das Recht nehmen, auch von sich aus einem solchen Minderheitskabinett das Mißtrauen auszusprechen, um auf diesem Wege eine Auflösung des Bundestages zu erzwingen."
Dr. Dehler:
    "... Es ist durchaus denkbar, daß eine Mehrheitsopposition vorhanden ist, die mit der Bundesregierung nicht mehr einverstanden, aber nicht in der Lage ist, einen Mißtrauensantrag zu stellen. Das führt zu einer offenen Krise. Warum soll man die Möglichkeit aus

    BVerfGE 62, 1 (96):

    schließen, daß die Mehrheit des Bundestages erklärt, sie wolle mit diesem Bundeskanzler nicht mehr zusammenarbeiten? Wenn das nicht geschieht, schleppt sich die Krise latent fort, und es kommt nicht zu ihrer Lösung. Es muß die Möglichkeit gegeben sein, zu sagen, daß man mit der Bundesregierung nicht mehr zusammenarbeiten könne. Oder aber man muß einen anderen Weg finden: den Weg der Selbstauflösung. Ich halte die Fassung des Redaktionsausschusses für durchaus richtig, die beide Möglichkeiten vorsieht. Entweder spricht der Bundestag der Bundesregierung sein Mißtrauen aus, ohne in der Lage zu sein, einen Antrag auf Wahl eines neuen Kanzlers stellen zu können, oder der Bundeskanzler erklärt: Bitte, sprecht mir das Vertrauen aus; wenn ihr das nicht tut, werden wir den Bundestag auflösen."
Die Abgeordneten Dr. Schmid (SPD) und Dr. Katz sprachen dagegen und damit für die dem heutigen Art. 68 entsprechende Fassung.
Dr. Schmid:
    "Art. 90 sieht für das Mißtrauensvotum ein bestimmtes Verfahren vor. Es handelt sich hierbei um das sog. konstruktive Mißtrauensvotum. Wenn es beim Entwurf des Redaktionsausschusses bliebe, dann könnte das Mißtrauen ausgesprochen werden, ohne daß ein Nachfolger der zu stürzenden Regierung präsentiert wird. Wir hätten dann zwei völlig neuartige Möglichkeiten, von denen die eine durch die andere negiert wird. Beides zusammen geht nicht, nur das eine oder das andere."
Dr. Katz:
    "Wir haben sehr bewußt diese Möglichkeit ausgelassen; denn dann würden wir neben dem konstruktiven Mißtrauensvotum das destruktive Mißtrauensvotum haben, das wir nicht wollen, ein destruktives Mißtrauensvotum, aus dem keinerlei Folgerungen gezogen werden, wenn die Regierung nicht die Absicht hat, die Auflösung des Bundestages vorzunehmen. Ein Mißtrauensvotum dieser Art könnte die moralische Position der Bundesregierung erschüttern, ohne auch nur das Geringste zu nützen. Aus diesem Grund haben wir diesen Passus aus dem Vorschlag des Redaktionsausschusses gestrichen."
Nachdem der Abgeordnete Dr. Schmid (StProt. S. 45) nochmals auf die bei Übernahme der Fassung des Redaktionsaus

BVerfGE 62, 1 (97):

schusses gegebene Gefahr "unechte(r) Mehrheiten deren Flügel sich ansonsten spinnefeind sind (und die) die Regierungstätigkeit blockieren können" hingewiesen hatte und - auf erneuten Einwand des Abgeordneten v. Brentano - dargestellt hatte, daß, wenn die Tätigkeit der Regierung von einer wechselnden Mehrheit absolut blockiert werde, der Fall gegeben sei, "daß der Kanzler nicht anders kann, als den Bundestag zu zwingen, sich zu einer klaren Verantwortung zu bekennen, indem er die Vertrauensfrage stellt", wurde abgestimmt.
Art. 90a wurde in der vom Abgeordneten Dr. Katz vorgeschlagenen Fassung mit 16 gegen 2 Stimmen angenommen.
d) Der Redaktionsausschuß (Drucks. PR Nr. 374) nahm kritisch zu der vom Hauptausschuß angenommenen Fassung des neu eingefügten Art. 90 a Stellung:
    "Die vorstehende vom Hauptausschuß bereits in erster Lesung angenommene Fassung schließt die Möglichkeit der Auflösung des Bundestages als Folge eines förmlichen (nicht-konstruktiven; Zusatz des Verfassers) Mißtrauensvotum des Bundestags aus. Es ist also nicht möglich, auf dem Wege über ein Mißtrauensvotum des Bundestags und die von einer Mehrheit des Bundestags und dem Bundespräsidenten für zweckmäßig gehaltenen Auflösung eine breitere Regierungsbasis zu schaffen. Es ist denkbar, daß einem Minderheitskanzler oder einem in die Minderheit geratenen Mehrheitskanzler im Bundestag nur eine schwache Mehrheit gegenübersteht, die mit Rücksicht darauf, daß sie nur eine schwache Mehrheit bildet, auf die Neuwahl eines Bundeskanzlers verzichtet, einen neuen Kanzler aber wählen würde, wenn sie eine breitere Basis in einem neuen Bundestag haben würde. Hier wäre also unter Umständen die Auflösung des Bundestags politisch dann wünschenswert, wenn nach der gesamten politischen Situation damit gerechnet werden kann, daß die schwache Mehrheit des alten Bundestags von einer starken Mehrheit im neuen Bundestag abgelöst wird ..."
Er schlug daher nach wie vor eine auch ein nicht-konstruktives Mißtrauensvotum enthaltende Fassung des Art. 90 a vor.
Der Abgeordnete Dr. Seebohm (DP) beantragte für seine

BVerfGE 62, 1 (98):

Fraktion einen neuen Absatz 3 für den vorgesehenen Art. 90 a (Drucks. PR Nr. 426):
    "Stellt der Bundeskanzler im Zeitraum von sechs Monaten zweimal die Vertrauensfrage oder wird ihm im gleichen Zeitraum vom Bundestag zweimal das Mißtrauen ausgesprochen, ohne daß der Bundestag einen Nachfolger benennt, so muß der Bundespräsident binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen, wenn der Bundesrat das verlangt."
Zur Begründung führte er an:
    "Eine Minderheitsregierung, die in der Regel mit dem Gesetzgebungsnotstand regieren muß, ist so schnell wie möglich abzulösen durch eine auf gesunder Grundlage ermöglichte Mehrheitsregierung. Wenn der Bundesrat das Experiment einer Neuwahl für geboten hält, sollte man dem stattgeben. Auf diese Weise kann, soweit möglich, das Entstehen von Präsidialkabinetten verhindert werden."
In der 28. Sitzung des Organisationsausschusses vom 16. Dezember 1948 (Kurzprotokoll = Drucks. PR Nr. 560) sprach sich der Abgeordnete Dr. Dehler nach wie vor für die Einführung auch eines nicht-konstruktiven Mißtrauensvotums aus (S. 4); der Abgeordnete Walter vertrat die vom Abgeordneten Dr. Katz referierte, gegen "ein Mißtrauensvotum alten Stils" gewandte Auffassung.
Speziell zu Art. 90a lehnte der Abgeordnete Dr. Katz nochmals die vom Redaktionsausschuß vorgeschlagene Fassung ab (S. 5). Wenn die auf ein Mißtrauensvotum alten Stils hinauslaufende Alternative auch keine direkten Folgen, wie früher der Rücktritt der Regierung, nach sich ziehen solle, so gebe sie doch die Chance eines Auflösungsrechts. Er halte den Vorschlag für einen Rückfall in die Möglichkeit, mehr Krisenfälle zu schaffen, als notwendig sei. Die Ansicht wurde (vgl. S. 5, Beiträge der Abgeordneten Dr. Fecht [CDU] und Heiland [SPD]) von der überwiegenden Ansicht des Ausschusses geteilt.
Der Hauptausschuß beriet am 8. Januar 1949 in 2. Lesung den Entwurf (Kurzprotokoll = Drucks. PR Nr. 531/II; StProt. S. 403 ff.).

BVerfGE 62, 1 (99):

Der Abgeordnete Dr. Katz setzte sich bei der Erörterung des Art. 90 nochmals mit dem weitergehenden, vom Abgeordneten Dr. Dehler nach wie vor befürworteten Formulierungsvorschlag des Redaktionsausschusses auseinander (StProt. S. 413):
    "Der Art. 90 ist eigentlich der Kern des neuen Regierungssystems. Wir waren der Ansicht, daß die jetzige Fassung diese Angelegenheit weit deutlicher und sichtbarer zum Ausdruck bringt als die Fassung, die der Redaktionsausschuß vorschlägt. Wir sind dagegen, daß das alte Mißtrauensvotum auch nur in irgendeiner Form wieder erscheint. Deswegen wird hier viel klarer und deutlicher - obwohl es sachlich dasselbe ist - festgelegt, das Mißtrauensvotum kann nur in der Form ausgesprochen werden, daß gleichzeitig von der Mehrheit ein neuer Kanzler benannt wird ..."
Der Abgeordnete Dr. Schmid wies - gelegentlich einer Erörterung der für die Ernennung des Bundeskanzlers, nicht jedoch für den Fall des konstruktiven Mißtrauensvotums vorgesehenen Beteiligung des Bundespräsidenten (StProt. S. 414) - nochmals auf die Funktion des konstruktiven Mißtrauensvotums hin: "Der zweite Fall ist der Krisenfall. Es kommt zum Kampf zwischen einer aktionsfähigen Mehrheit des Bundestags und dem Bundeskanzler."
Der Abgeordnete Dr. Sebohm sprach erneut für seinen Antrag, daß bei innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten zweimal vergebens gestellter Vertrauensfrage, ohne daß der Bundestag einen Nachfolger benennt, binnen 21 Tagen auf Verlangen des Bundesrats der Bundestag durch den Bundespräsidenten aufzulösen sei (S. 415). Der Abgeordnete Dr. Dehler warb noch einmal für die - vom Redaktionsausschuß vorgeschlagene - Einfügung des nicht-konstruktiven Mißtrauensvotums, das ebenso wie die im Art. 90 a (jetzt Art. 68 GG) vorgesehene Vertrauensfrage zur Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten sollte führen können (S. 414):
    "... in der Verfassungswirklichkeit ist der Fall durchaus denkbar, daß zwar eine Mehrheit gegen den Bundeskanzler steht und an sich

    BVerfGE 62, 1 (100):

    auch die Möglichkeit hat, einen Bundeskanzler zu wählen, aber in der gegebenen Situation der Meinung ist, daß die Auflösung richtiger ist, weil ihre Mehrheit zu knapp ist, um Bestand zu haben ..."
Der Abgeordnete Dr. Katz wiederholte:
    "Wir haben diesen Antrag mit ganz besonderer Schärfe zurückgewiesen. Denn die Fassung des Art. 90 a, wie ihn der Redaktionsausschuß vorschlägt, bedeutet einen schlimmen und bedauerlichen Rückfall in das Mißtrauensvotum der Weimarer Verfassung, das in keiner Weise, auch nur irgendwie angedeutet, wieder zum Vorschein kommen soll. Der Sinn des Art. 90 a ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet. Mit dem heterogenen, dem destruktiven Mißtrauensvotum hat die Sache nichts zu tun ..."
Über die Anregung des Abgeordneten Dr. Dehler wurde nicht mehr förmlich abgestimmt.
Der Art. 90a wurde in der Fassung des Organisationsausschusses angenommen, der Antrag Dr. Seebohm gegen zwei Stimmen abgelehnt (StProt. S. 415).
In 3. Lesung am 9. Februar 1949 (StProt. S. 645) nahm der Hauptausschuß den Art. 90 a in der Fassung klarstellender redaktioneller Änderungen (vgl. Drucks. PR Nr. 543 und 591) gegen eine Stimme an.
Vor der 4. Lesung, die am 5. Mai 1949 stattfand (StProt. S. 743 ff.), wiederholte der Abgeordnete Dr. Dehler nochmals seine Versuche, dem Bundespräsidenten eine über die in 3. Lesung vom Hauptausschuß beschlossene Fassung hinausgehende Befugnis zur Auflösung des Bundestages zu geben (Drucks. PR Nr. 736); er zog den Antrag jedoch in der Sitzung zurück (StProt. S. 754).
3. a) Im schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucks. PR Nr. 850, 854), erstattet von den Berichterstattern des Hauptausschusses für das Plenum (Berichterstatter waren die Abgeordneten Dr. v. Mangoldt, Wagner, Dr. Dr. h. c. Lehr, Dr. Katz, Dr. Laforet, Zinn, Dr. Höpker-Aschoff und Dr. v. Brentano) werden die Motive des

BVerfGE 62, 1 (101):

Parlamentarischen Rates zur endgültigen Fassung des Art. 68 GG verdeutlicht (S. 31, Verfasser: Abgeordneter Dr. Dr. h. c. Lehr):
    "Vertrauensfrage und Auflösung:
    Das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten unter Gegenzeichnung des Bundeskanzlers nach Artikel 68 Grundgesetz ist außer dem Recht der Notgesetzgebung die wesentliche Waffe der Regierung gegenüber einer obstruierenden destruktiven Parlamentsmehrheit.
    Die Bestimmung geht auf einen Vorschlag des Allgem. Redaktionsausschusses zurück, der allerdings nicht nur für den Fall, daß dem Bundeskanzler ein beantragtes Vertrauensvotum verweigert wird, sondern auch für den Fall eines destruktiven Mißtrauensvotums, also ohne Wahl eines neuen Kanzlers, ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten befürwortete. Den Gedanken, dem Bundespräsidenten auch in diesem zweiten Fall, und zwar auch gegen den Willen des Bundeskanzlers, das Auflösungsrecht zu geben, lag die Erwägung zugrunde, daß unter Umständen die Auflösung des Bundestages dann politisch wünschenswert sein könne, wenn nach der gesamten politischen Situation damit zu rechnen sei, daß eine schwache Mehrheit des alten Bundestages von einer neuen starken Mehrheit im neuen Bundestag abgelöst werde.
    Im Organisationsausschuß konnte man sich aber zu dieser neuen erheblichen Erweiterung der Rechte des Bundespräsidenten nicht entschließen, die zudem geeignet war, die Gefahr der Bildung destruktiver Mehrheiten nur zu dem Zwecke der Parlamentsauflösung zu fördern.
    So ist nur geblieben das der Gegenzeichnung bedürftige Auflösungsrecht des Präsidenten, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags gefunden hat. Auch hier müssen zwischen Antrag und Abstimmung 48 Stunden liegen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt, da sich damit die destruktive Mehrheit in eine konstruktive umgewandelt hat".
    (Vgl. auch S. 19 f. und 29 des Berichts zur Rolle des Bundespräsidenten.)
b) In der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 6. Mai 1949 (StProt. S. 169 ff.) brachte der Abgeordnete Dr. Schmid

BVerfGE 62, 1 (102):

den Entwurf eines Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zur 2. Lesung ein.
Er führte u.a. aus:
    "Das wichtigste Organ des Bundes ist der Bundestag, der aus allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlen hervorgeht und die eigentliche Vertretung des Gesamtvolkes darstellt. In ihm verkörpert sich die ungeteilte Einheit des politischen Willens des zum Ganzen strebenden deutschen Volkes. Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt und kann nur aufgelöst werden, wenn er dem Bundeskanzler das erbetene Vertrauensvotum verweigert. Seine Abgeordneten sind unabhängig und genießen alle Rechte, die in den letzten Jahrhunderten zum Schutze der Parlamentsfreiheit entwickelt worden sind. Der Bundestag beschließt die Gesetze, er wählt den Bundeskanzler und kontrolliert die Regierung, die von seinem Vertrauen abhängig ist. Als Teil der Bundesversammlung nimmt er an der Wahl des Bundespräsidenten teil ...
    ... Der Bundeskanzler ... kann ... nicht durch ein Mißtrauensvotum einer beliebigen Mehrheit im Bundestag gestürzt werden. Um zu verhindern, daß heterogene Mehrheiten - die stark genug sind, eine Regierung zu stürzen, aber außerstande oder nicht willens, eine neue Regierung zu bilden und damit die alte Regierung in der Verantwortung abzulösen - die Regierungsfunktion lähmen, wie das in den letzten Jahren der Weimarer Republik so oft geschehen ist, bestimmt das Grundgesetz, daß ein Mißtrauensvotum nur dadurch ausgesprochen werden kann, daß der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Kanzler wählt. Das bedeutet politisch gesehen, daß das Grundgesetz die Regierung praktisch nur einem Bundestag gegenüber verantwortlich sein läßt, dessen oppositionelle Mehrheit homogen genug ist, um ihrerseits Verantwortung zu übernehmen (StProt. S. 172 f.)."
Der nunmehrige (dem Art. 90 a des Entwurfs entsprechende) Art. 68 GG wurde mit den übrigen Vorschriften über die Bundesregierung (Art. 62-69 GG) mehrheitlich angenommen (StProt. S. 183).
In der Schlußabstimmung (10. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. Mai 1949 - StProt. S. 228 - wurde das Grundgesetz mit 53 Ja-Stimmen gegen 12 Nein-Stimmen angenommen.


BVerfGE 62, 1 (103):

4. Die Betrachtung der Beratungen und Abstimmungen im Parlamentarischen Rat zeigt, daß dieser sich die - bezogen auf den späteren Art. 68 GG - wesentlichen Strukturprinzipien des Entwurfs von Herrenchiemsee zu eigen gemacht und nur in einer Weise ergänzt und modifiziert hat, die diese bestätigt. So, wie schon im Entwurf von Herrenchiemsee der Art. 88 (jetzt Art. 63 Abs. 4 GG) als Instrument zur Bewältigung einer durch unsichere Mehrheiten gekennzeichneten Krise vorgesehen war und - als Ausnahme zur sonst nicht vorgesehenen Auflösung des Bundestages während einer Legislaturperiode - sollte zur Auflösung führen können, ist vom Parlamentarischen Rat als weitere Ausnahme von dem beibehaltenen Prinzip die Vertrauensfrage des Art. 68 GG (Art. 90 a Entwurf) mit der gleichen Zielsetzung und dem gleichen Zweck - der Überwindung einer durch schwache, unsichere, schwankende oder geschwundene Regierungsmehrheit begründeten Krise - eingefügt worden. Zusammen mit dem ebenfalls - statt eines vorgesehenen Notverordnungsrechts - eingefügten Art.  81 GG sollten diese Vorschriften auch in einer derartigen Krise regierungsfähige Mehrheiten erhalten, stabilisieren oder (wieder-) herstellen und - sollte dies nicht möglich sein - die Handlungsfähigkeit einer Regierung selbst als Minderheitsregierung gewährleisten. Dieses Instrumentarium hat der Parlamentarische Rat als abschließend und hinreichend für die Beseitigung denkbarer parlamentarischer Krisen angesehen. Die Einfügung weiterer, der Bewältigung anderer denkbarer Formen der Krise dienender Vorschriften (u.a. Anträge Walter, Dr. Dehler, Dr. Seebohm) hat er ausdrücklich verworfen.
In diesem Sinne ist auch die oben zitierte Bemerkung Dr. Katz' zu verstehen, es handle sich bei Art. 68 "um die Möglichkeit, der Bundesregierung im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts oder für den Fall, daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen, ein Auflösungsrecht zu schaffen." Der Satz, mit dem Dr. Katz die dann vom Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossene Einfügung des Art. 90 a (= Art. 68 GG) begründete,

BVerfGE 62, 1 (104):

ist im Zusammenhang mit der vorangegangenen Debatte um das Ob und Wie der Einfügung weiterer, über das Instrumentarium der Art. 88 (= Art. 63 Abs. 4 GG) und 90 (= Art. 67 GG) hinausgehender Normen zum Zwecke der Bewältigung einer Krise zwischen einer nicht mehr ihrer Mehrheit sicheren Regierung und dem Parlament zu sehen. Der Diskussionsbeitrag von Dr. Katz schließt diese Debatte ab, nicht etwa enthält er eine eigenständige, die Einfügung des Art. 90 a (= Art. 68 GG) selbständig tragende, von der vorherigen Diskussion abstrahierende Begründung. In dem Halbsatz "im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts", ist die vorangegangene Diskussion, die die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der zu schaffenden Grundgesetznorm umschreibt, in Kurzform angesprochen. Trotz der folgenden, auf eine Alternative hindeutenden Verbindung dieses Halbsatzes durch das Wort oder mit dem dann folgenden Halbsatz "für den Fall, daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen", spricht alles dafür, auch diesen Halbsatz als unter die Voraussetzung des ersten Halbsatzes (der scheinbaren ersten Alternative) gestellt zu sehen: D.h., in jedem Fall ist vorausgesetzt, daß eine durch Unsicherheit hinsichtlich der parlamentarischen Mehrheit der Regierung gekennzeichnete Krise zwischen Regierung und Parlament besteht. Diese Auslegung speziell des Diskussionsbeitrages von Dr. Katz wird auch durch die oben zitierten weiteren Diskussionsbeiträge im Verlaufe der Beratungen des Parlamentarischen Rates bestätigt, die immer wieder - ausgehend von den negativen Erfahrungen der Weimarer Republik - darum kreisten, mit dem Grundgesetz ein verfassungsrechtliches Instrumentarium zur herstellung, Feststellung und Erhaltung regierungsfähiger Mehrheiten und - für den Fall, daß die Herstellung solcher Mehrheiten im Einzelfall scheitert - zur Gewährleistung einer handlungsfähigen Regierung auch als Minderheitsregierung zu schaffen. Gleiches gilt für den diskussionsbeitrag Dr. Katz in der Sitzung des Hauptausschusses vom 8. Januar 1949 (StProt. S. 413).

BVerfGE 62, 1 (105):

Der schriftliche Bericht des Hauptausschusses bedeutet insofern eine Klarstellung, nach der keine Mißdeutungen mehr möglich sind. Der Annahme eines in das Belieben der Regierung gestellten Rechts, die Auflösung des Parlaments über Art. 68 GG zu erreichen, um sich eine breitere Legitimation der Wähler für eine vorhandene Mehrheit zu verschaffen, steht - und zwar selbst dann, wenn man den zweiten Halbsatz in der Begründung des Abgeordneten Dr. Katz so ansähe, daß er als echte Alternative zum ersten Halbsatz gemeint sei - der aus der Entstehungsgeschichte objektivierbare Wille des Verfassungsgebers im übrigen und im ganzen entgegen.
Die Entstehungsgeschichte erweist somit eindeutig, daß eine Auflösung des Bundestages - nach Art. 63 Abs. 4 oder nach Art. 68 GG - nur möglich sein sollte, wenn der Bundestag nicht in der Lage wäre, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Trat dieser Fall ein, nachdem eine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit ins Amt gelangt war, sollte dem Bundeskanzler vorbehalten bleiben, ob er die Auflösung des Bundestages und die Entscheidung durch das Volk anstreben oder versuchen wolle, seine Regierungstätigkeit fortzusetzen, notfalls mit Hilfe des Art. 81 GG. Das Parlament sollte sich dagegen nicht selbst auflösen und insbesondere nicht durch ein destruktives Mißtrauensvotum seine Auflösung herbeiführen können. Die Auflösung des Bundestages und ebenso auch die Befugnis des Bundespräsidenten, an der Auflösung des Bundestages mitzuwirken, sollte auf die beiden Fälle der Art. 63 Abs. 4 und 68 GG beschränkt bleiben.
V.
1. Alle Auslegungsmethoden führen damit übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG nur zulässig ist, wenn eine regierungsfähige Mehrheit fehlt oder unsicher geworden ist. Von daher erschließt sich der Sinn der Vertrauensfrage: Es soll festgestellt werden, ob die Regierung tatsächlich noch über die erforderliche parlamentarische Unterstützung verfügt. Wird die Vertrauensfrage nicht mit

BVerfGE 62, 1 (106):

diesem Ziel gestellt, vermag eine Abstimmungsniederlage des Bundeskanzlers die Auflösung des Bundestages nicht zu rechtfertigen. Insbesondere kommt eine Auflösung des Bundestages auch dann nicht in Betracht, wenn ein Bundeskanzler lediglich aus der Befürchtung, daß eine der ihn stützenden Fraktionen seine für die Zukunft geplante Politik nicht vollständig mittragen werde, die Vertrauensfrage stellt und sich im Einverständnis seiner Parteifreunde das erbetene Vertrauen verweigern läßt, um auf diese Weise den Weg zu Neuwahlen zu eröffnen. Solange die Abstimmungsniederlage nicht Ausdruck einer gegenwärtigen Regierungskrise ist, in der die Bundesregierung ihre Fähigkeit eingebüßt hat, mit Unterstützung der Mehrheit des Parlaments politische Vorhaben durchzusetzen, fehlen die rechtlichen Voraussetzungen für eine Bundestagsauflösung.
Diese Auffassung entspricht der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum; ihr sind in der wissenschaftlichen Literatur nur wenige Stimmen entgegengetreten. Auch die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages stellt die nach Art. 68 GG bestehende Rechtslage als gesicherten Stand der Staatsrechtswissenschaft so fest, wie sie hier entwickelt worden ist.


BVerfGE 62, 1 (107):

2. Nur wenn die Voraussetzungen gegeben sind, von denen die Befugnis zur Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG abhängt, eröffnen die Worte "kann ... auflösen" dem Bundespräsidenten ein Ermessen, ob er dem Vorschlag des Bundeskanzlers folgen will oder nicht. Insoweit hat er eine politische Entscheidung zu treffen, die vom Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt nachprüfbar ist, etwa darauf, ob sich der Bundespräsident von dem Zweck des Art. 68 GG hat leiten lassen. Bei der Vorfrage dagegen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG vorliegen, ist der Bundespräsident rechtlich gebunden.
Zwar steht dem Bundespräsidenten bei seiner Prüfung, ob Art. 68 GG ihm überhaupt eine Ermessensentscheidung eröffnet, von der Sache her ein Beurteilungsspielraum zu. Damit wird Art. 68 GG aber nicht zu einer offenen Norm. Wie die Auslegung zeigt, läßt sich Art. 68 GG vielmehr ein inhaltlich hinreichend bestimmter normativer Gehalt entnehmen. Das in Art. 68 GG

BVerfGE 62, 1 (108):

angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des Zusammenwirkens der drei beteiligten Verfassungsorgane ändert nichts daran, daß das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit der Verletzung verfassungsrechtlicher Pflichten entgegentreten muß, soweit das Grundgesetz rechtliche Maßstäbe für das politische Verhalten gesetzt hat. Das Bundesverfassungsgericht kann mithin die Entscheidung des Bundespräsidenten daraufhin überprüfen, ob die Tatbestandsmerkmale, an die Art. 68 GG die Befugnis zur Auflösung des Bundestages knüpft, durch den gegebenen Sachverhalt hinreichend belegt erscheinen konnten oder ob eine andere Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse eindeutig vorzuziehen war.
VI.
Bei Anwendung des aus Art. 68 GG gewonnenen normativen Maßstabes gelange ich auch unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums, der den beteiligten Verfassungsorganen zusteht, zu dem Ergebnis, daß die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages nicht gegeben waren.
H.-J. Rinck
 
Abweichende Meinung des Richters Dr. Rottmann zu dem Urteil des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 -- 2 BvE 1-4/83 --
Ich teile die Rechtsauffassung der Senatsmehrheit nicht. Die Organklagen sind nach meiner Ansicht begründet. Der Bundespräsident hätte den 9. Deutschen Bundestag nicht auflösen dürfen.
1. Da wegen der Eilbedürftigkeit der Entscheidung des Gerichts die mir nach der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts zustehende 3-Wochen-Frist zur Ausarbeitung des Sondervotums nicht eingeräumt werden konnte, war ich gezwungen, meine abweichende Meinung innerhalb von 24 Stunden nur in den Grundzügen zu skizzieren.


BVerfGE 62, 1 (109):

2. Das Grundgesetz regelt die hier zu entscheidende Frage, nämlich unter welchen Voraussetzungen der Bundespräsident nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG den Bundestag auflösen darf, nur höchst unvollständig. Da das Bundesverfassungsgericht bisher keine Gelegenheit hatte, sich zu dieser Frage zu äußern, war es gezwungen, den verfassungsrechtlichen Maßstab, anhand dessen die Streitfrage gemessen und entschieden werden muß, erst durch eine zusammenfassende systematische Interpretation der Art. 39, 63, 67, 68 und 81 GG zu entwickeln. Erst danach konnte es das politische Geschehen und das Verhalten der handelnden Verfassungsorgane Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident an dem von ihm erstmals entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstab messen.
3. Dem von der Senatsmehrheit entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstab (Abschnitt C I und II des Urteils) stimme ich zum Teil zu. Ich weiche von ihm indessen in folgenden Teilfragen ab:
a) Die Senatsmehrheit ist der Ansicht, daß außer den sich aus dem Wortlaut des Art. 68 GG ergebenden Tatbestandsmerkmalen, nämlich
    aa) der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers an den Bundestag,
    bb) dem Beschluß des Bundestages, durch den dem Bundeskanzler das Vertrauen verweigert wird,
    cc) dem Antrag des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen,
als weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal das Bestehen einer sogenannten "Lage der politischen Instabilität" gehört, wegen der der Bundeskanzler einer parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht mehr sicher sein kann.
Die Senatsmehrheit vertritt darüber hinaus die Auffassung, daß die Lage der Instabilität der Bundesregierung nicht nur dann vorliegt, wenn im Laufe einer Legislaturperiode der Bundeskanz

BVerfGE 62, 1 (110):

ler und die Bundesregierung die parlamentarische Mehrheit im Bundestag verloren, haben, was sich in Abstimmungsniederlagen der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen im Bundestag niedergeschlagen haben muß, sondern sie sieht eine Situation der Instabilität der Bundesregierung schon dann als gegeben an, wenn der Bundeskanzler zwar noch über die parlamentarische Mehrheit verfügt, jedoch befürchtet, diese in absehbarer Zukunft zu verlieren.
Diese Ausdehnung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Instabilität in Art. 68 GG auf eine Fallgruppe, die nach meiner Ansicht nicht als instabile Lage bezeichnet werden kann, ist der Schlüssel für die Entscheidung der Senatsmehrheit.
Ich bin dagegen der Auffassung, daß im Regelfall nur der Minderheitskanzler das Verfahren gemäß Art. 68 GG einleiten darf. Ein sicheres Indiz dafür ist immer das Erleiden von Abstimmungsniederlagen der die Minderheitsregierung tragenden Partei oder Parteienkoalition im Bundestag.
Der Minderheitskanzler wird deshalb die Vertrauensfrage im Bundestag im allgemeinen auch in der Absicht stellen, das Vertrauen des Bundestages zurückzugewinnen.
Der Mehrheitskanzler hat dies dagegen nicht nötig, weil er das parlamentarische Vertrauen des Bundestages ohnehin besitzt. Er stellt die Vertrauensfrage allenfalls, um das sich in der Mehrheit ausdrückende Vertrauen politisch zu verwerten. Dann hat es aber schon auf dieser Stufe mit der Anwendung des Art. 68 GG sein Bewenden, und es kann nicht zur Auflösung des Bundestages kommen.
Wenn der Mehrheitskanzler die Vertrauensfrage jedoch nach Absprache mit der ihn tragenden Parteienkoalition mit dem Ziel stellt, ihm das Vertrauen zu verweigern, dann mißbraucht er die ihm nach Art. 68 GG zustehenden Befugnisse. Denn seine eigentliche Absicht ist dann nicht die Gewinnung des Vertrauens des Bundestages, sondern die Auflösung des Bundestages, und zwar zu einem ihm zweckmäßig erscheinenden Zeitpunkt.
Das Grundgesetz zielt jedoch darauf ab, daß der Bundestag

BVerfGE 62, 1 (111):

die volle Legislaturperiode ausnutzt. Es will die vorzeitige Auflösung des Bundestages verhindern und damit der politischen Stabilität des Staates dienen.
b) Die Senatsmehrheit bezieht sich zur Stützung ihrer Ansicht, daß auch der Mehrheitskanzler befugt sei, die Vertrauensfrage als Mittel zur Auflösung des Bundestages zu benutzen, auf die vom Bundeskanzler Brandt im Jahre 1972 mit dem Ziel der Bundestagsauflösung gestellte Vertrauensfrage. Keines der beteiligten Verfassungsorgane habe seinerzeit Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens bekundet. Dabei wird jedoch von der Senatsmehrheit außer acht gelassen, daß die Regierung des Bundeskanzlers Brandt zwar am 27. April 1972 das konstruktive Mißtrauensvotum der CDU/CSU-Fraktion knapp abgewehrt hatte, jedoch vom Frühjahr 1972 bis zur Bundestagswahl im Herbst 1972 keine einfache Mehrheit mehr im Bundestag besaß, also eine echte Minderheitsregierung geworden war.
c) Die Senatsmehrheit beruft sich schließlich darauf, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei Entscheidungen mit Prognosecharakter stets einen weiten Beurteilungsspielraum zuerkannt habe. Ähnliches gelte für politische Entscheidungen der Exekutive von weitreichender Bedeutung. Diesen Maßstab wendet die Senatsmehrheit hier auch auf den Bundespräsidenten an. Der Bundespräsident könne danach bei der Prüfung, ob der Vorschlag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG auf Auflösung des Bundestages mit der Verfassung zu vereinbaren sei, andere Maßstäbe nicht anlegen. Er habe vielmehr insoweit die Einschätzungs-  und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten (Abschnitt C I 5 S. 58 des Urteils). Hier schränkt die Senatsmehrheit die Prüfungskompetenzen des Bundespräsidenten und damit auch die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu sehr ein. Der Bundespräsident ist nach meiner Überzeugung vielmehr befugt und auch verpflichtet zu prüfen,
    aa) ob der Bundeskanzler überhaupt einen nicht nur fingierten sachlichen Anlaß hatte, die Vertrauensfrage zu stellen,


    BVerfGE 62, 1 (112):

    bb) ob der Bundestag ernsthaft und pflichtgemäß über den Vertrauensantrag abgestimmt hat, oder aber ob von den Mehrheitsfraktionen zwecks Umgehung der Verfassung und mit dem Ziel der Herbeiführung vorzeitiger Neuwahlen das Vertrauen für den Bundeskanzler verweigert wurde, und schließlich
    cc) ob unter Berücksichtigung der unter aa) und bb) aufgeführten Vorgänge der Antrag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG, den Bundestag aufzulösen, überhaupt ein verfassungsmäßig zulässiger Antrag sein konnte.
Für die Prüfung dieser drei Fragen steht dem Bundespräsidenten ein eigenständiges, umfassendes und uneingeschränktes Prüfungsrecht und zugleich eine Prüfungspflicht zu.
Erst wenn der Bundespräsident diese drei Verfahrensabschnitte als verfassungsmäßig anerkannt hat, gelangt er in den Bereich, in dem er nach freiem pflichtgemäßen Ermessen die politische Zweckmäßigkeitsfrage zu beantworten hat, nämlich ob er den Antrag des Bundeskanzlers auf Auflösung des Bundestages ablehnen oder ob er diesem Antrag stattgeben und den Bundestag auflösen darf.
Unbeschadet eines Beurteilungsspielraums des Bundespräsidenten kann das Bundesverfassungsgericht nachprüfen, ob hinreichende Anhaltspunkte für die genannten Voraussetzungen einer Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten vorlagen oder ob eine Würdigung des gesamten Sachverhalts in diesem Sinne ausgeschlossen war.
4. Die von der Senatsmehrheit vorgenommene Subsumtion des Verhaltens des Bundeskanzlers, des Bundestages und des Bundespräsidenten bei der Auflösung des Bundestages entspricht nach meiner Auffassung nicht den sich aus der Zusammenschau der erwähnten Grundgesetzartikel entwickelnden verfassungsrechtlichen Maßstäben.
Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage nämlich in Wirklichkeit nicht gestellt, um einer instabil gewordenen Bundesregierung die notwendige parlamentarische Unterstützung zurückzu

BVerfGE 62, 1 (113):

gewinnen; vielmehr wollte er, und zwar völlig unabhängig von der in Wirklichkeit vorhandenen parlamentarischen Stabilität seiner Regierung, ein bereits um den 20. September 1982, also ca. 10 Tage vor seiner Wahl zum Bundeskanzler unvorsichtigerweise und ohne Berücksichtigung der Verfassungsrechtslage gegebenes politisches Versprechen, Neuwahlen abzuhalten, einlösen. Dies geschah seinerzeit erklärtermaßen auch deshalb, um der offenbar als unzureichend angesehenen legalen Wahl zum Bundeskanzler nach Art. 67 GG die angeblich durch eine Bundestagswahl zu vermittelnde bessere und wertvollere politische Legitimität hinzuzufügen. Um dieses verfassungsrechtlich illegitime Ziel zu erreichen, wurde ein verfassungsrechtlich anstößiges Unternehmen ins Werk gesetzt.
Hierzu im einzelnen folgendes:
Noch vor der Wahl des Herrn Dr. Kohl zum Bundeskanzler im Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums am 1. Oktober 1982 haben die Verhandlungsdelegationen von CDU/CSU und F.D.P. sich im Rahmen der Beratungen eines Regierungsprogramms auf die Abhaltung von Neuwahlen im März 1983 geeinigt. Dies geschah bereits vor Bildung der neuen Bundesregierung und volle drei Monate vor der tatsächlichen Stellung der Vertrauensfrage.
Schon aus dieser Tatsache ergibt sich eindeutig, daß Anlaß für die Stellung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler am 14. Dezember 1982 nicht eine schwindende parlamentarische Stabilität der Bundesregierung war - diese stand vielmehr völlig außer Frage -, sondern daß die Vertrauensfrage ganz unabhängig vom Vorhandensein der politischen Stabilität der neuen Bundesregierung gestellt wurde, um das voreilig gegebene politische Versprechen, Neuwahlen durchzuführen, tatsächlich einzulösen. Dieses Versprechen war aber gegeben worden, ohne die Schranken zu beachten, die das Grundgesetz ihm entgegenstellte.
Der Bundeskanzler hatte im Dezember 1982 nämlich überhaupt keinen Anlaß, die Vertrauensfrage zu stellen. Denn seine parlamentarische Mehrheit hatte sich vom Tage seiner Wahl am

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1. Oktober 1982 bis zum Tage der Stellung der Vertrauensfrage sogar noch gefestigt. Denn am 1. Oktober 1982 war er mit 256 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt worden. Am 16. Dezember 1982 aber wurde der von seiner Bundesregierung eingebrachte Haushalt 1983 indessen mit 266 Stimmen des Bundestages verabschiedet.
Die parlamentarische Zustimmung zum Haushaltsgesetz wird seit Bestehen der parlamentarischen Staatsform als der sicherste Hinweis für die Zustimmung des Parlamentes zur Regierung angesehen. Das Ergebnis der Parlamentsabstimmung über den Haushalt 1983 bescherte der von Bundeskanzler Kohl geführten Bundesregierung sogar die stärkste Mehrheit, die eine Bundesregierung seit Bildung der sozialliberalen Koalition im Jahre 1969 in einer parlamentarisch umstrittenen Frage je erlangt hatte. Die Regierung des Bundeskanzlers Kohl war also keineswegs instabil, sondern sie war im Gegenteil im Dezember 1982 ungewöhnlich stabil.
Es gab demnach keinen verfassungsrechtlich zulässigen Anlaß zur Stellung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler. Es bestand aber darüber hinaus auch kein verfassungsrechtlich billigenswerter Grund für die Mehrheitsfraktionen, dem Drängen des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen zu verweigern, nachzukommen.
Die Mehrheitsfraktionen hatten in Wirklichkeit Vertrauen zum Bundeskanzler. Das ergibt sich u.a. daraus, daß sie eine neue Bundesregierung unter einem neuen Bundeskanzler Kohl jederzeit wieder bilden wollten, und daß Bundeskanzler Kohl im derzeit stattfindenden Wahlkampf als Spitzenkandidat seiner Partei und Kanzlerkandidat für die neue Legislaturperiode erneut antritt. Die Mehrheitsfraktionen folgten demnach mit der Verweigerung des Vertrauens für den Bundeskanzler nur dessen Wunsch, Neuwahlen zu ermöglichen. Das durften sie aber nach dem Grundgesetz gar nicht. Sie waren vielmehr verpflichtet, ihre Amtspflichten für die Dauer der Legislaturperiode zu erfüllen. Daß der ganze Vorgang eine verabredete politische Manipula

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tion an den Regeln des Grundgesetzes vorbei war, ergibt sich auch aus den rational nicht nachvollziehbaren Erklärungen der Abgeordneten Dregger (CDU) und Hoppe (F.D.P.), die kurz vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage im Bundestag erklärten, das dem Bundeskanzler Kohl mit der Wahl zum Bundeskanzler am 1. Oktober 1982 erteilte Vertrauen sei am 16. Dezember mit der Verabschiedung des Haushaltes 1983 aufgebraucht worden. Es müsse deshalb neu gewählt werden. Das Grundgesetz kennt aber die Wahl eines Bundeskanzlers auf eine befristete Zeit nicht. Der Vorgang dokumentiert deshalb die Verfassungsfremdheit der Fraktionsspitzen der Koalitionsfraktionen und die Unbefangenheit, mit der versucht worden ist, die Vorschriften der Verfassung zurechtzubiegen.
Da in Wahrheit der Bundeskanzler das Vertrauen der Mehrheit des Bundestages besaß, das verweigerte Vertrauen die Folge eines verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Zusammenwirkens vo  Bundeskanzler und Mehrheitsfraktionen war, fehlte es nunmehr an den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, bei deren Vorliegen der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages in zulässiger Weise vorschlagen durfte.
Die von der Senatsmehrheit ausgebreiteten, im wesentlichen auf Zeitungsmeldungen gestützten Schilderungen über den Zerfall der Koalitionspartei F.D.P. zum Beleg der Tatsache, daß die Regierung Kohl doch instabil gewesen sei, sind m. E. verfehlt. Die mitgeteilten Umstände sind im übrigen selbst unter Zugrundelegung des Maßstabs der Mehrheit nicht geeignet, eine Auflösungssituation im Sinne des Art. 68 GG als gegeben zu begründen.
Der F.D.P.-Bundestagsfraktion gehörten im 9. Deutschen Bundestag 53 Abgeordnete an, von denen lediglich vier als Folge des Koalitionswechsels der Partei aus der Fraktion ausgeschieden sind. Von diesen vier hatten jedoch zur Zeit der Vertrauensabstimmung bereits drei ihr Mandat niedergelegt und waren durch nachrückende Kandidaten der F.D.P. ersetzt worden. Die Zahl der Parteimitglieder war im übrigen vom Oktober bis zum De

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zember 1982 lediglich von etwa 85 000 auf 80 000 zurückgegangen, durch Neueintritte aber wieder auf 83 000 Mitglieder angewachsen. Die Absplitterungen von Teilen der F.D.P. hatten im übrigen nur eine so geringe Bedeutung erlangt, daß sich diese Gruppen z.B. an der Bundestagswahl 1983 gar nicht mit eigenen Listen beteiligen konnten.
Aus diesen Ereignissen eine Gefährdung der Bundesregierung, eine politische Instabilität im Sinne des Art. 68 GG herzuleiten, erscheint mir deshalb nicht vertretbar. Im übrigen kam es in diesem Zusammenhang auf die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Bundestagsfraktion an.
Da somit
    -- weder die vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage,
    -- noch die Verweigerung des Vertrauens durch den Bundestag,
    -- noch die Anregung des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, der Verfassung entsprachen, durfte der Bundespräsident den Bundestag nicht auflösen.
Weil die der Entscheidung des Bundespräsidenten vorangehenden drei Verfahrensabschnitte sämtlich grundgesetzwidrig waren, stand dem Bundespräsidenten auch kein Ermessen zu, die Frage zu prüfen, ob die Auflösung des Bundestages politisch zweckmäßig oder unzweckmäßig sein würde. Es fehlte vielmehr an den gesetzlichen Voraussetzungen für die Auflösungsentscheidung. Deshalb hätte der Bundespräsident die Auflösung des Bundestages ablehnen müssen.
Die Bundestagswahl dürfte deshalb nach meiner Überzeugung nicht stattfinden. Dies wäre vom Bundesverfassungsgericht auszusprechen gewesen.
Die von mir vertretene Auffassung steht im Einklang mit der von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen Staatsrechtslehrer vertretenen Auffassung, die ich als bekannt voraussetze.
Dr. Rottmann