BVerfGE 35, 366 - Kreuz im Gerichtssaal


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Der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, kann das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzen.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 17. Juli 1973
- 1 BvR 308/69 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Rechtsanwalts Dr. Richard W..., 2. der Frau Elisabeth F...- Bevollmächtigter zu 2): Rechtsanwalt Dr. Richard Weyl, 23 Great Castle Street, London Win 8 NQ - gegen a) Anordnung des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und der Justizverwaltung über die Ausstattung von Sitzungssälen der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Kruzifixen, b) die Weigerung der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, in der Sache 6 K 2494/67 in einem Sitzungssaal ohne Kruzifix zu verhandeln.
Entscheidungsformel:
Die Weigerung der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, den Beschwerdeführern in dem Rechtsstreit 6 K 2494/67 eine mündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal ohne Kruzifix zu ermöglichen, verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden als unzulässig verworfen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat die den Beschwerdeführern erwachsenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
Gründe
 
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Durchführung von Gerichtsverhandlungen in solchen Sälen, die mit einem Kreuz ausgestattet sind.
I.
In der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen waren die Sitzungssäle allgemein mit Kreuzen ausgestattet wor

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den, wie das teilweise auch schon früher bei der Ausstattung von Gerichtssälen der Fall gewesen war. Ausdrückliche förmliche Anordnungen sind dazu nicht ergangen. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, zu dessen Geschäftsbereich die Verwaltungsgerichte gehörten, erblickt aber darin, daß die Mittel für die Anschaffung von Kreuzen in den Jahren seit 1949 bewilligt worden sind, eine Billigung der Ausstattung. Beim Verwaltungsgericht Düsseldorf wurden auf den Richtertischen Standkruzifixe von ca. 75 cm Höhe und ca. 40 cm Spannweite aufgestellt.
II.
1. Der Beschwerdeführer zu 1), ein beim Oberlandesgericht Düsseldorf zugelassener, in London lebender jüdischer Rechtsanwalt mit früher deutscher, jetzt israelischer Staatsangehörigkeit, vertritt in einem Lastenausgleichsverfahren mit Wiedergutmachungscharakter vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf u. a. die Beschwerdeführerin zu 2), eine ebenfalls früher deutsche, jetzt in den USA lebende Jüdin.
In der ersten mündlichen Verhandlung erbat der Beschwerdeführer zu 1) zunächst Auskunft darüber, auf Grund welcher Bestimmungen sich das Kruzifix auf dem Richtertisch befinde, und beanstandete sodann die Aufstellung als verfassungswidrig. Anschließend lehnte er den Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit ab und begründete dies u. a. damit, der Vorsitzende habe nähere Erklärungen zu den Vorschriften über die Aufstellung von Kruzifixen verweigert. Diesen Ablehnungsantrag wies das Verwaltungsgericht zurück. Soweit die Ablehnung auf Äußerungen des Vorsitzenden über das Kruzifix gestützt werde, sei sie unzulässig, weil die Befangenheit nicht in bezug auf die Sachentscheidung, sondern im Hinblick auf die Einrichtung des Sitzungssaals begründet werde. Im übrigen verstoße die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen - wie bereits das Oberlandesgericht Nürnberg ausgeführt habe (NJW 1966, S. 1926) - weder gegen den Rechtsstaatsgedanken noch gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, noch sei darin eine Verletzung der Glau

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bens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, der Menschenwürde oder des Gleichheitssatzes zu erblicken.
Die Beschwerde gegen diesen Beschluß wurde vom Bundesverwaltungsgericht als unzulässig verworfen.
Nachdem der Beschwerdeführer zu 1) angekündigt hatte, er werde an einer mündlichen Verhandlung nur teilnehmen, wenn sich kein Kruzifix oder Kreuz im Gerichtssaal befinde, erhielt er eine Ladung zur Weiterverhandlung mit der ausdrücklichen Mitteilung, nach der Verwaltungsgerichtsordnung könnten Bedingungen für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht gestellt werden; auf die Möglichkeit der Entscheidung in der Sache trotz eventuellen unentschuldigten Fernbleibens werde nochmals hingewiesen.
Inzwischen hatte der Beschwerdeführer zu 1) den Innenminister von Nordrhein-Westfalen um Mitteilung gebeten, welche Bestimmungen der Aufstellung des Kruzifixes zugrunde lägen und ob der Minister dessen Entfernung anordnen werde, wenn jüdische Parteien an der Verhandlung beteiligt seien. In der vom Ministerpräsidenten erteilten Antwort heißt es, es solle zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine andere Verfassungsbeschwerde abgewartet werden, die sich gegen die Anbringung von Kreuzen in Sitzungssälen des Oberverwaltungsgerichts richte; die Ausstattung der Verwaltungsgerichte mit Kreuzen sei im Jahre 1949 ohne besondere Verwaltungsanordnung erfolgt.
2. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 und 3 GG) und ihrer durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechte, der Beschwerdeführer zu 1) ferner einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG.
Die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen sei unvereinbar mit der Pflicht des Staates zu strikter Neutralität. Beim Verwaltungsgericht Düsseldorf seien die Kruzifixe - wie der Präsident des Oberverwaltungsgerichts bestätigt habe - so aufgestellt, daß

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man je nach Standort im Saal durch das Kruzifix hindurchblicken müsse, wenn man den Vorsitzenden oder einen der beisitzenden Richter ansehen wolle. Durch den das Neutralitätsgebot verletzenden Zwang, buchstäblich durch das Kruzifix hindurch ein Gerichtsverfahren führen zu müssen, werde zugleich das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt. Besonders provozierend sei die Verfassungsverletzung gegenüber Juden, die in Deutschland jahrhundertelang auch unter dem Kruzifix und in dessen - sei es auch verfälschtem oder mißbrauchtem - Geist verfolgt und entwürdigt worden seien. Das Kruzifix im Gerichtssaal demonstriere der in Glaubensfragen besonders schutzwürdigen andersdenkenden Minderheit Diskriminierung und gegebenenfalls auch Demütigung gerade dort, wo neben Toleranz Gleichheit vor dem Gesetz oberstes Gebot sei. Während das Kreuz für seine Anhänger ein einigendes Symbol darstelle, werde es am falschen Ort zu einem trennenden, das friedliche Zusammenleben belastenden und die Prozeßführung grundlos störenden Element der Zwietracht. Das Kruzifix gehöre im säkularen Staat auch nicht als Schwurkreuz zur Ausstattung von Gerichtssälen, zumal nicht einmal die christliche Lehre das Heranziehen eines Kreuzes bei der Eidesleistung vorschreibe.
3. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sowie der Bundesminister der Justiz und ferner das Katholische Büro in Bonn - Kommissariat der deutschen Bischöfe -, das Katholische Büro in Düsseldorf - Kommissariat der Bischöfe in Nordrhein- Westfalen -, die Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Evangelischen Landeskirchen im Rheinland, in Westfalen und in Lippe sowie der Zentralrat der Juden haben Gelegenheit zur Äußerung erhalten.
Der Bundesminister der Justiz, der allein von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht hat, hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig, weil über einen Antrag auf Entfernung des Kreuzes, den man den Beanstandungen der Beschwerdeführer entnehmen könne, bislang keine anfechtbare förmliche Entscheidung ergangen sei.


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Der Bundesminister der Justiz hat sich auch zur Sache geäußert. Hierzu vertritt er die Auffassung, daß verfassungsrechtliche Bedenken gegen die strittige Ausstattung dann begründet seien, wenn die verschiedentlich geäußerte Besorgnis zuträfe, die Rechtspflege werde durch ein Kreuz im Gerichtssaal einem christlichen Imperativ unterstellt. Da die Verfassung dem Staat als Heimstatt aller Bürger weltanschaulich-religiöse Neutralität auferlege, sei im Bereich der Gerichtsbarkeit mit ihren besonders strengen Objektivitätsanforderungen schon eine weniger weitgehende religiöse Einwirkung unstatthaft. Eine strenge Unterscheidung zwischen Rechtspflege und Religion sei zugleich wegen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigenständigkeit der Kirche erforderlich. Entscheidend sei daher, welchen Eindruck ein Kreuz im Gerichtssaal bei einem unvoreingenommenen Staatsbürger erwecke. Für diesen liege es auf der Hand, daß das Kreuz von vornherein nur für denjenigen bestimmt sein könne, der sich dadurch angesprochen fühle. Es solle offenbar der weit überwiegenden Mehrzahl der Zeugen, die den Eid unter Anrufung Gottes ablegten, die Eidesleistung unter entsprechenden visuellen Voraussetzungen ermöglichen. Die beschränkte Bedeutung eines im Gerichtssaal angebrachten Kreuzes sei allerdings nicht jedermann von vornherein klar und verständlich. In einer pluralistischen Gesellschaft müsse mit Zweifeln darüber gerechnet werden, ob Kreuze im Gerichtssaal sachlich vertretbar seien. Im Interesse des Ansehens der Justiz wie auch zur Berücksichtigung der Meinung Andersdenkender sei es daher erforderlich, daß das Gericht vorgebrachte Zweifel sachlich würdige, durch Hinweis auf die begrenzte Bedeutung des Kreuzes entkräfte und klarstelle, daß das Kreuz weder für sonstige Prozeßbeteiligte bedeutsam sei noch insbesondere die Gebundenheit des Gerichts an Gesetz und Recht betreffe oder zu einer Differenzierung mit Rücksicht auf die religiöse oder weltanschauliche Einstellung eines Prozeßbeteiligten führen könne. Darüber hinaus werde das Gericht auf echte Gewissensbedenken durch Verlegung der Sitzung in andere Säle Rücksicht nehmen müssen; denn schon die Prozeßökonomie und der Be

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schleunigungsgrundsatz ließen es nicht angezeigt erscheinen, einen Prozeß mit solchen Fragen zu belasten.
Im Falle der Beschwerdeführer sei eine Verletzung der gebotenen Aufklärungspflicht und damit ein gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoßender Verfahrensmangel anzunehmen. Dem Gericht habe sich die Aufklärungspflicht um so mehr aufdrängen müssen, als die Beschwerdeführer Juden seien, die sich - für das Gericht erkennbar - durch das Kruzifix in besonderem Maße in ihrer religiösen Überzeugung verletzt gesehen hätten.
III.
1. Auf Antrag der Beschwerdeführer erließ das Bundesverfassungsgericht eine - zuletzt mit Wirkung bis zum 28. Januar 1973 wiederholte - einstweilige Anordnung, wonach bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf in dem Rechtsstreit nicht durchgeführt werden durfte.
2. Nach Erlaß dieser einstweiligen Anordnung hat der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Münster in den beiden Sitzungssälen dieses Gerichts die dort vorhandenen Wandkreuze abnehmen und Standkreuze für den Fall bereitstellen lassen, daß ein Eidespflichtiger angesichts eines Kreuzes zu schwören wünsche. Die vorsitzenden Richter des Verwaltungsgerichts Düsseldorf sind nach Mitteilung des Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts nicht gewillt, die Ausstattung mit Standkruzifixen von sich aus zu ändern; auch bei einigen anderen Verwaltungsgerichten seien die Kammern nicht bereit, im Falle von Beanstandungen das Kreuz entfernen zu lassen oder in einen Raum ohne Kreuz umzuziehen. Die Maßnahmen des Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Münster führten zu einer Landtagsanfrage, bei deren Beantwortung der Ministerpräsident u. a. auf die Verfassungsbeschwerden hinwies und ausführte, er sehe die Ausstattung der Gerichtssäle mit Kreuzen als eine Angelegenheit an, die von den Gerichten, ihren Richtern und Präsidenten selbst zu klären sei (Sten-

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Ber. über die 65. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen, 6. Wahlperiode, vom 16. Dezember 1969, S. 2721).
3. In der Zwischenzeit ist das Verwaltungsgericht Düsseldorf in ein neues Gebäude umgezogen, in dessen Sitzungssälen sich derzeit keine religiösen Symbole befinden. Nach Mitteilung des Präsidenten des Verwaltungsgerichts handelt es sich hierbei nur um einen vorläufigen Zustand; eine endgültige Regelung solle erst nach der Entscheidung über die anhängige Verfassungsbeschwerde getroffen werden.
 
B.
Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig sind, ist ihnen stattzugeben.
I.
Die Verfassungsbeschwerden sind dahin auszulegen, daß sie sich einerseits gegen Anordnungen über die Ausstattung der Gerichtssäle und andererseits insbesondere dagegen richten, daß trotz förmlich protokollierter Beanstandung das auf dem Richtertisch des Verwaltungsgerichts Düsseldorf stehende Kruzifix nicht entfernt und für den Termin zur Weiterverhandlung weder eine Entfernung noch eine Verhandlung in einem anders ausgestatteten Saal zugesagt wurde.
1. Soweit die Beschwerdeführer allgemeine Anordnungen über die Ausstattung der Gerichtssäle beanstanden, sind ihre Verfassungsbeschwerden unzulässig. Denn bei der Bewilligung der Haushaltsmittel für die Anschaffung von Kreuzen sowie bei etwaigen Weisungen über die Verwendung dieser Kreuze in den Sitzungssälen handelt es sich um Verwaltungsmaßnahmen, deren Anordnung und Ausführung noch nicht unmittelbar in die Rechtssphäre des einzelnen Staatsbürgers eingreifen. Das Schreiben des Ministerpräsidenten an den Beschwerdeführer zu 1) stellt lediglich eine vorläufige Benachrichtigung dar, die keine Entscheidung enthält und darum nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein kann.
2. Im übrigen sind die Verfassungsbeschwerden zulässig.


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Die - in einer Mehrheit von Handlungen und Unterlassungen der Kammer und ihres Vorsitzenden sich darstellende - Weigerung des Verwaltungsgerichts, den Beschwerdeführern in dem von ihnen geführten Rechtsstreit eine mündliche Verhandlung in einem Sitzungssaal ohne Kruzifix zu ermöglichen, ist eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG. Im Hinblick auf die Besonderheiten des Falles hat das Bundesverfassungsgericht keine Bedenken, die selbständige Anfechtung dieses Hoheitsaktes im Wege der Verfassungsbeschwerde zuzulassen, weil ein schutzwürdiges Interesse daran besteht, daß über seine Verfassungsmäßigkeit unabhängig von der Möglichkeit etwaiger anderer Rechtsbehelfe entschieden wird.
Das für die Verfassungsbeschwerden erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist nicht deshalb nachträglich entfallen, weil sich seit dem Umzug des Verwaltungsgerichts derzeit keine religiösen Symbole mehr in den Sitzungssälen befinden. Denn bei dieser Änderung handelt es sich lediglich um einen vorläufigen Zustand bis zu der auch vom Verwaltungsgericht erwarteten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, so daß ohne eine solche Entscheidung die Wiederholung der beanstandeten Maßnahme zu besorgen wäre (vgl. BVerfGE 33, 247 [257 f.]).
II.
Die Weigerung des Verwaltungsgerichts, eine mündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal ohne Kreuz durchzuführen, verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG.
1. Soweit die Anbringung eines Kreuzes in einem Gerichtssaal nicht lediglich der künstlerischen Ausschmückung des Raumes dient, wird sie im allgemeinen damit gerechtfertigt, es solle demjenigen, der den Eid mit religiöser Beteuerung leistet, ein "Schwurgegenstand" zur Verfügung gestellt werden (vgl. OLG Nürnberg, NJW 1966, S. 1926 und Bay VerfGH 20, 87). Werden lediglich Schwurkreuze auf Verlangen von Eidespflichtigen bereitgestellt, dann bestehen dagegen entgegen der Meinung der Beschwerde

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führer keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Ob die staatlichen Gerichte dazu verpflichtet wären oder ob den Eidespflichtigen die Verwendung eigener Schwurkruzifixe anheimzugeben wäre, ist hier nicht zu erörtern. Jedenfalls sind die Gerichte um so weniger gehindert, dahin gehenden Wünschen zu entsprechen, als ein derartiger, auf den konkreten Anlaß beschränkter Gebrauch des Kreuzes im Gerichtssaal Andersdenkende nicht beschweren kann und unmißverständlicher Ausdruck religiöser Toleranz gegenüber dem jeweiligen Eidespflichtigen ist.
2. Während bei Maßnahmen der zuvor genannten Art die begrenzte Funktion des Kreuzes als Schwurgegenstand für jedermann offenkundig ist, vermittelt die ständige Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen - sei es, daß sie als Standkreuz auf dem Richtertisch stehen, sei es, daß sie an der Wand hinter dem Richtertisch angebracht sind - den Eindruck einer weiter gehenden Bedeutung. Denn das Kreuz als Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi gilt von alters her als symbolischer Inbegriff des christlichen Glaubens. Auf seine mannigfachen Verwendungen im Laufe der Geschichte - etwa als sichtbares Kennzeichen christlicher Präsenz, als Wahrzeichen des königlichen Bannrechts und Marktfriedens oder in der Symbolik des dem Christentum eng verbundenen Staates - braucht hier nicht eingegangen zu werden. Denn jedenfalls liegt dann, wenn ein Gebäude oder ein Raum mit einem Kreuz versehen wird, auch heute der Eindruck nahe, dadurch solle eine enge Verbundenheit mit christlichen Vorstellungen bekundet werden.
Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob ein solcher Eindruck und etwaige Zweifel über die Berechtigung von Kreuzen in Gerichtssälen dadurch ausgeräumt werden könnten und auch dürften, daß die Gerichte das markante Symbol des christlichen Glaubens im Wege ausdrücklicher Interpretation auf die bloße Bedeutung eines Schwurgegenstandes zurückführen, den andere Prozeßbeteiligte nicht zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Die Verfassungsbeschwerde nötigt auch nicht zu einer Auseinandersetzung mit der von den Beschwerdeführern vertretenen

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Auffassung, die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen schaffe bereits als solche objektivrechtlich einen verfassungswidrigen Zustand, weil sie im Widerspruch zur Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität stehe und unvereinbar mit der Forderung sei, daß der Staat sich mit bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen oder Auffassungen nicht "identifizieren" dürfe. Eine Erörterung dieses Fragenkreises würde neben rechts- und justizgeschichtlichen Untersuchungen ein Eingehen auf die verschiedenen Verhältnisse und Anschauungen in den einzelnen Landesteilen der Bundesrepublik erfordern und insbesondere eine rechtsgrundsätzliche Würdigung des neuerdings in die staatskirchenrechtliche Diskussion aufgenommenen Prinzips der "Nicht-Identifikation". Umfang und Tragweite einer solchen Prüfung stünden aber in keinem vertretbaren Verhältnis zu der Bedeutung des hier zu entscheidenden Falles, der sich unter Berücksichtigung seiner besonderen Gestaltung auch ohne eine solche Erörterung lösen läßt.
3. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorliegenden Falles kann davon ausgegangen werden, daß weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und daß auch im übrigen das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden "Identifikation" mit spezifisch christlichen Anschauungen nicht derart ist, daß die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in einem entsprechend ausgestatteten Gerichtssaal von andersdenkenden Parteien, Prozeßvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird. Denn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten.
Dennoch muß anerkannt werden, daß sich einzelne Prozeßbeteiligte durch den für sie unausweichlichen Zwang, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen "unter dem Kreuz" einen Rechtsstreit führen und die als Identifikation empfundene Ausstattung in einem rein weltlichen Lebensbereich

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tolerieren zu müssen, in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen können. Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht - wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat - in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muß wegen seines Ranges extensiv ausgelegt werden (vgl. BVerfGE 24, 236 [246]). Das in ihm verkörperte Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben, kann einen Minderheitenschutz selbst vor verhältnismäßig geringfügigen Beeinträchtigungen jedenfalls dort rechtfertigen, wo - wie im Bereich der staatlichen Gerichtsbarkeit - die Inanspruchnahme dieses Schutzes nicht mit Rechten einer Bevölkerungsmehrheit zur Ausübung ihrer Glaubensfreiheit kollidiert.
4. Die Beschwerdeführer haben dargelegt, daß für sie der Zwang zum "Verhandeln unter dem Kreuz" eine unzumutbare innere Belastung darstellt. Sie haben dazu ernstliche, einsehbare Erwägungen vorgetragen, von deren näherer Erörterung mit Rücksicht auf die Regelung in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 WRV abgesehen wird. Ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Weigerung, ihnen eine Verhandlung in einem Gerichtssaal ohne Kreuz zu ermöglichen, war daher stattzugeben.
5. Bei der auf § 34 Abs. 4 BVerfGG beruhenden Entscheidung über die Erstattung der Auslagen war zu berücksichtigen, daß die Verfassungsbeschwerden im wesentlichen Erfolg haben und daß der als unzulässig abgewiesene Teil keine besonderen Auslagen verursacht hat und lediglich innerdienstliche Maßnahmen betraf, die die Beschwerdeführer nicht unmittelbar beschwerten.
Benda Ritterspach Haager Rupp-v. Brünneck Böhmer Faller Brox Simon