BVerfGE 33, 199 - Erneute Vorlage


BVerfGE 33, 199 (199):

Zur Zulässigkeit einer erneuten Vorlage nach Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 30. Mai 1972
-- 1 BvL 21/69 und 18/71 --
in den Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 76 des Angestelltenversicherungsgesetzes in Verbindung mit § 119 der Reichsversicherungsordnung, Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse a) des Amtsgerichts Deggendorf vom 1. September 1969 (M 392/69) -- 1 BvL 21/69 -- , b) des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. April 1972 (3 W 309/70) -- 1 BvL 18/71 --.
 
Entscheidungsformel:
Die Vorlagen sind unzulässig.
 
Gründe:
 
A.
Gegenstand der Vorlagen ist die Frage, ob der Vollstreckungsschutz für Angestelltenversicherungsrenten nach § 76 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) mit der Verfassung vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom

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25. Juli 1960 -- 1 BvL 5/59 -- (BVerfGE 11, 283) die Vereinbarkeit der genannten Bestimmung mit dem Grundgesetz ausgesprochen.
I.
1. § 76 AVG in der Fassung des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 88) lautete:
    § 76
    Für die Übertragung, Verpfändung und Pfändung der Rentenansprüche gelten die §§ 119 und 119a der Reichsversicherungsordnung.
Der hier allein in Betracht kommende § 119 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hatte bei Inkrafttreten der Neufassung des § 76 AVG am 1. Januar 1957 folgenden Wortlaut:
    § 119
    (1) Die Ansprüche des Berechtigten können mit rechtlicher Wirkung übertragen, verpfändet und gepfändet werden nur wegen
    1. eines Vorschusses, den der Berechtigte auf seine Ansprüche vor Anweisung der Leistungen vom Arbeitgeber oder von einem Organe des Versicherungsträgers oder einem seiner Mitglieder erhalten hat,
    2. der im § 850 Abs. 4 (jetzt: § 850d) der Zivilprozeßordnung bezeichneten Forderungen,
    3. der Forderungen der nach § 1531 ersatzberechtigten Gemeinden und Träger der Armenfürsorge sowie Arbeitgeber und Kassen, die an ihre Stelle getreten sind; die Übertragung, Verpfändung und Pfändung ist nur in Höhe der gesetzlichen Ersatzansprüche zulässig,
    4. rückständiger Beiträge, die nicht seit länger als drei Monaten fällig sind.
    (2) Ausnahmsweise darf der Berechtigte auch in anderen Fällen den Anspruch mit Genehmigung des Versicherungsamts ganz oder zum Teil auf andere übertragen.
2. § 76 AVG erhielt durch Art. 10 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung von Kostenermächtigungen, sozialversicherungsrechtlichen und anderen Vorschriften (Kostenermächtigungs-Änderungsgesetz) vom 23. Juni 1970 (BGBl. I S. 805) mit Wirkung vom 1. September 1970 folgende Fassung:


    BVerfGE 33, 199 (201):

    § 76
    Für die Übertragung, Verpfändung, Pfändung und die Überleitung der Leistungsansprüche gelten die §§ 119 und 119a der Reichsversicherungsordnung.
Das Bundessozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 (BGBl. I S. 815, ber. S. 1875) ersetzte den in § 119 Abs. 1 Nr. 3 RVO verwandten Begriff der Armenfürsorge durch den der Sozialhilfe. Außerdem erhielt § 119 RVO später noch zwei weitere, hier aber nicht interessierende Absätze.
II.
1. Im Ausgangsverfahren vor dem Amtsgericht Deggendorf hatte die Gläubigerin einer vollstreckbaren Forderung auf Rückzahlung eines Darlehens die Pfändung und Überweisung eines Anspruchs des Schuldners gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auf Zahlung einer Rente beantragt. Der Amtsrichter hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt,
ob § 76 AVG, § 119 RVO verfassungswidrig sind.
Der Vorlagebeschluß führt aus, die zu treffende Entscheidung hänge von der Gültigkeit der genannten Vorschriften ab. Diese widersprächen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ruhegehaltsansprüche der Beamten seien pfändbar; das gelte auch für die Ansprüche eines Angestellten gegen die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Bei der Entwicklung, welche die Rentenansprüche gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte genommen hätten, sei die Unpfändbarkeit der Renten aus sozialen Gründen nicht mehr gerechtfertigt.
2. Im Ausgangsverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf will die Gläubigerin aus einem Vollstreckungstitel auf Schadensersatz wegen Unterschlagung den Rentenanspruch des Schuldners gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte pfänden und sich zur Einziehung überweisen lassen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt,
ob die §§ 119 RVO, 76 AVG mit Art. 3 Abs. 1 GG und mit dem

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Prinzip der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar und daher nichtig sind.
Der Vorlagebeschluß führt aus, die Erwägungen, auf Grund deren das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 25. Juli 1960 (BVerfGE 11, 283) die genannten Vorschriften für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt habe, hätten durch die soziale Entwicklung der letzten zehn Jahre an Gewicht verloren. Mit der fortlaufenden Erhöhung der Sozialrenten sei eine weitgehende Angleichung der Alters-, Hinterbliebenen- und Krankheitsvorsorge der Arbeiter und Angestellten, der Beamten und der Bezieher privater Versicherungsrenten eingetreten. Der Sozialschutz, der nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Zeitpunkt der damaligen Entscheidung noch für nicht wenige Rentenempfänger geboten gewesen sei, werde auch durch die inzwischen weiter verbesserten Vorschriften über die Unpfändbarkeit von Forderungen in den §§ 850 ff. ZPO in ausreichendem Maße und unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes gewährleistet. Nunmehr seien die Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 76 AVG, 119 RVO mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht mehr vereinbar.
III.
1. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, hält die Vorlagen für unzulässig. Der in der früheren Entscheidung des Bundesverfassunsgerichts (BVerfGE 11, 283) der Prüfung unterzogene Normgehalt des § 76 AVG decke sich mit dem vorliegenden Prüfungsgegenstand. Eine erneute verfassungsrechtliche Prüfung der Gesetzesvorschrift sei ausgeschlossen. Eine Bindung an die frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei auch nicht infolge eines Wandels der Lebensverhältnisse entfallen. Die tatsächlichen Umstände, auf denen die Würdigung des § 76 AVG in dem Beschluß aus dem Jahre 1960 beruhe, hätten keine wesentliche Änderung erfahren. Das Verhältnis zwischen der Höhe der Renten und der Höhe der Arbeitseinkommen sei seit der Rentenreform des Jahres 1957 im großen ganzen unverändert geblieben. Es sei

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auch nicht ersichtlich, inwiefern die Alterssicherung der Arbeiter und Angestellten derjenigen der Beamten weiter angeglichen worden sei.
2. Der VII. Senat des Bundesfinanzhofes und der 11. Senat des Bundessozialgerichts halten § 76 AVG in Verbindung mit § 119 RVO weiterhin für verfassungsmäßig. Sie weisen darauf hin, daß die Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 11, 283) auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften belege.
 
B.
Die Vorlagen sind unzulässig.
I.
1. Die vorlegenden Gerichte sind nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorn 25. Juli 1960 (BVerfGE 11, 283) gebunden, wonach § 76 AVG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dieser Entscheidung kommt gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft und ferner Rechtskraftwirkung zu (vgl. BVerfGE 4, 31 [38]; 5, 34 [37 f.]; 20, 56 [86 ff.]). Die darauf beruhende Bindung erfaßt anerkanntermaßen nur den Tenor der Entscheidung (vgl. im einzelnen BVerfGE 20, 56 [86]). Da die vorlegenden Gerichte vom Bundesverfassungsgericht einen Spruch begehren, der im Gegensatz zur früheren Entscheidung über § 76 AVG steht, hätten sie Gründe dafür darlegen müssen, daß die Rechtskraft des Tenors der früheren Entscheidung nicht die erneute Sachprüfung hindere, ob § 76 AVG auch jetzt noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
2. Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung bezieht sich stets auf den Zeitpunkt, in dem die Entscheidung ergeht. Sie erfaßt also nicht solche Veränderungen, die erst später eintreten. Denn jedes gerichtliche Erkenntnis geht von den zu seiner Zeit bestehenden Verhältnissen aus. Deshalb hindert die Rechtskraft auch nicht die Berufung auf neue Tatsachen, die erst nach der früheren Entscheidung entstanden sind.


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Dieser allgemeine Grundsatz des Prozeßrechts findet auch in verschiedenen Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine Stütze (vgl. §§ 41, 47, 96 BVerfGG). Zwar fehlt im Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine entsprechende Vorschrift über die Zulässigkeit einer erneuten Vorlage. Es ist aber zu berücksichtigen, daß das Bundesverfassungsgerichtsgesetz keine umfassende Verfahrensregelung enthält. Für die Ausgestaltung des Verfahrensrechts können das Verwaltungs- und das Zivilprozeßrecht herangezogen werden. Für diese Prozeßarten ist es aber allgemein anerkannt, daß eine Berufung auf eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht durch die Rechtskraft gehindert wird. Das muß dann auch für eine erneute Vorlage gelten, die auf tatsächliche Veränderungen, einschließlich der Tatsache von Gesetzesänderungen, gestützt wird. Dabei kann in den vorliegenden Fällen die Frage unentschieden bleiben, ob außer neuen Tatsachen auch ein Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung die erneute Prüfung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Vorlagefrage ermöglicht.
Eine erneute Vorlage ist danach jedenfalls dann zulässig, wenn sie von der Begründung der früheren Entscheidung ausgeht und neue Tatsachen dartut, die geeignet sind, eine von der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Entscheidung zu ermöglichen.
II.
Diesen Erfordernissen genügen die beiden Vorlagebeschlüsse nicht.
Das Amtsgericht Deggendorf erwähnt in seinem Vorlagebeschluß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 1960 (BVerfGE 11, 283) überhaupt nicht. Das Oberlandesgericht Düsseldorf geht zwar auf diese Entscheidung ein; aber auch seine Ausführungen lassen keine rechtserheblichen neuen Tatsachen gegenüber den tragenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts erkennen. Der Vorlagebeschluß wendet sich im wesentlichen den Vergleichspaaren Angestelltenversicherungs

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rente einerseits und Beamtenruhegehalt sowie privatrechtliche Versicherungsrente andererseits zu. Diese Vergleichspaare hat das Bundesverfassungsgericht aber bereits seiner Entscheidung BVerfGE 11, 283 zugrunde gelegt und einen Verfassungsverstoß verneint. Das Oberlandesgericht hat auch nicht dargetan, daß die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Verschiedenheit in der rechtlichen Struktur der genan[n]ten Versorgungsbezüge sich inzwischen geändert habe.
Wenn im Vorlagebeschluß auf eine fortlaufende Erhöhung der Sozialversicherungsrenten abgestellt wird und daraus geschlossen werden soll, daß nunmehr ein besonderes soziales Schutzbedürfnis der Rentner der Angestelltenversicherung im Vergleich zu den Ruhestandsbeamten nicht mehr gegeben sei, so ist darauf hinzuweisen, daß auch die Ruhestandsbezüge der Beamten fortlaufend erhöht wurden. Entscheidend wäre nur, ob sich im Verhältnis der beiden Bezugsarten etwas geändert hat; dazu aber finden sich keine Ausführungen im Vorlagebeschluß.
Soweit das Oberlandesgericht auf die Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze in der Angestelltenversicherung verweist, mag für eine Gruppe von Rentnern das Schutzbedürfnis geringer geworden oder gar ganz entfallen sein; das Gericht hat aber nicht dargetan, daß es sich dabei um eine so große Anzahl von Rentnern handelt, daß nunmehr von Verfassungs wegen eine andere Beurteilung der Norm geboten wäre. Das gleiche gilt für den Hinweis auf die Anhebung der Pfändungsfreigrenze.
Ob die von dem vorlegenden Gericht vorgebrachten Umstände den Gesetzgeber zu einer Reform veranlassen könnten, obliegt -- wie schon in BVerfGE 11, 283 [293] hervorgehoben -- seiner Entscheidung. Sie sind aber nicht geeignet, gegenüber der Rechtskraft der früheren Entscheidung eine erneute verfassungsrechtliche Prüfung zu ermöglichen.
(gez.) Benda Ritterspach Der Richter Dr. Haager ist ortsabwesend. Benda Rupp-v. Brünneck Dr. Böhmer Dr. Faller Dr. Brox Dr. Simon