BVerfGE 22, 106 - Steuerausschüsse


BVerfGE 22, 106 (106):

Die Befugnis von Verwaltungsbehörden, eine richterliche Nachprüfung von Entscheidungen weisungsfreier Verwaltungsausschüsse herbeizuführen (In-sich-Prozeß), verstößt weder gegen Art. 19 Abs. 4 GG noch gegen das Prinzip der Gewaltenteilung.
 
Beschluß
des Zweiten Senats vom 20. Juni 1967
- 2 BvL 10/64 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 263 Absatz 2 Satz 1 der Reichsabgabenordnung vom 22. Mai 1931 (RGBl. I S. 161) in der Fassung des Gesetzes über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Finanzgerichts Düsseldorf v. 22 April 1964 - FG V 26 - 28/61 E -.


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Entscheidungsformel:
§ 263 Absatz 2 Satz 1 der Reichsabgabenordnung vom 22. Mai 1931 (RGBl. I S. 161) in der Fassung des Gesetzes über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) war mit dem Grundgesetz vereinbar.
 
Gründe:
 
A. - I.
Nach §§ 23 ff. des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) waren bei den Finanzämtern Steuerausschüsse zu bilden, die über die Einsprüche der Steuerpflichtigen gegen gewisse Steuerfeststellungen und Steuerfestsetzungen entschieden. Die Ausschüsse bestanden aus dem Vorsteher des Finanzamts oder einem mit seiner Vertretung beauftragten Beamten als Vorsitzenden, einem gewählten Gemeindevertreter für jede Gemeinde des Finanzamtsbezirks sowie mehreren anderen gewählten Mitgliedern.
Nach § 263 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) stand dem Steuerpflichtigen gegen die Einspruchsentscheidungen des Finanzamts die Berufung zum Finanzgericht zu. § 263 Abs. 2 AO, der durch das Gesetz über die Finanzverwaltung eingeführt worden war, bestimmte:
    Gegen Einspruchsentscheidungen des Steuerausschusses kann auch der Vorsteher des Finanzamts Berufung einlegen. Die Frist für die Einlegung der Berufung durch den Vorsteher endet mit dem Ablauf der für den Steuerpflichtigen laufenden Berufungsfrist (§ 245, § 246 Abs. 1).
Durch § 162 Nr. 40 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vom 6. Oktober 1965 (BGBl. I S. 1477), die am 1. Januar 1966 in Kraft trat, wurde § 263 AO aufgehoben. Gemäß § 184 Abs. 2 Nr. 2 FGO richtet sich jedoch die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen die vor dem Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung ergangenen Entscheidungen noch nach den bisherigen Vorschriften.


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II.
1. Im Ausgangsverfahren erhob ein Steuerpflichtiger beim Finanzamt Düsseldorf-Mettmann Einspruch gegen die Bescheide über seine Einkommensteuer für die Jahre 1951 bis 1953. Der Steuerausschuß gab dem Einspruch statt und ermäßigte die Steuerfestsetzungen. Die Einspruchsentscheidung wurde dem Steuerpflichtigen am 20. Februar 1961 ausgehändigt. Am 14. März 1961 legte der Vorsteher des Finanzamts beim Finanzgericht Düsseldorf Berufung gegen den Einspruchsbescheid ein.
2. Durch Beschluß vom 22. April 1964 hat das Finanzgericht Düsseldorf das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob § 263 Abs. 2 Satz 1 AO mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die Vorlage ist wie folgt begründet:
Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung hänge von der Gültigkeit des § 263 Abs. 2 Satz 1 AO ab. Diese Vorschrift sei mit dem Prinzip der Gewaltenteilung und mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar.
Den Finanzgerichten obliege die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten auf dem Gebiet des Steuerrechts. Sie könnten nur auf Grund eines Rechtsmittelantrags des betroffenen Steuerpflichtigen, der sich in seinen Rechten verletzt fühle, tätig werden. Wenn § 263 Abs. 2 Satz 1 AO vorschreibe, daß die Finanzgerichte auf Antrag einer Verwaltungsbehörde auch gegen den Willen des betroffenen Steuerpflichtigen einen Verwaltungsakt nachzuprüfen hätten, so sei dies mit der den Finanzgerichten als "Rechtsschutzeinrichtung" übertragenen Stellung nicht vereinbar.
Hinzu komme, daß sich der Vorsteher des Finanzamts in den Fällen des § 263 Abs. 2 Satz 1 AO mit seiner Berufung nicht einmal gegen die Entscheidung einer anderen Verwaltungsbehörde wende, sondern gegen eine Entscheidung des Finanzamts, das er selbst leite. Der Steuerausschuß sei keine eigenständige Behörde, sondern Teil des Finanzamts. § 263 Abs. 2 Satz 1 AO ermögliche somit dem Finanzamt, eine von ihm selbst erlassene Entscheidung anzufechten und einen In-sich-Prozeß zu führen. Hieran ändere

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auch der Umstand nichts, daß der Vorsteher des Finanzamts im Steuerausschuß überstimmt werden könne. Wenn der Gesetzgeber es zulasse, daß für einen Teil der vom Finanzamt zu erlassenden Verwaltungsakte dem Vorsteher die alleinige Entscheidungsbefugnis entzogen werde, weil insoweit ein anderes Organ des Finanzamts, nämlich der Steuerausschuß, zu entscheiden habe, müßten die vom Steuerausschuß getroffenen Entscheidungen auch für den Vorsteher des Finanzamts verbindlich sein.
3. Namens der Bundesregierung hat der Bundesminister der Finanzen den Beitritt zum Verfahren erklärt, auf mündliche Verhandlung aber verzichtet. Er hält § 263 Abs. 2 Satz 1 AO für verfassungsmäßig.
Der Bundesfinanzhof hat auf ein Urteil seines VI. Senats vom 3. Juli 1964 verwiesen, in dem die Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ebenfalls bejaht wird.
 
B. - I.
Die Vorlage ist zulässig.
Das Finanzgericht hat dargelegt, daß es § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. für verfassungswidrig hält und daß es für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf die Gültigkeit der Vorschrift ankommt. Es hat sich allerdings nicht darüber geäußert, ob die Berufung im Fall ihrer Zulässigkeit Erfolg hätte oder ob sie selbst in diesem Fall - und zwar aus sachlichen Gründen - zurückgewiesen werden müßte. Diese Frage braucht aber auch nicht erörtert zu werden; denn die Zurückweisung der Berufung als unzulässig ist eine andere Entscheidung als die Zurückweisung aus sachlichen Gründen (BVerfGE 13, 97 [103 f.]; 18, 353 [360]; 19, 330 [336]).
Die Entscheidungserheblichkeit des § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. ist auch nicht etwa nachträglich entfallen. Zwar ist die angegriffene Regelung inzwischen durch die Finanzgerichtsordnung aufgehoben worden. Da die Einspruchsentscheidung des Steuer

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ausschusses jedoch vor Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung, also vor dem 1. Januar 1966, ergangen ist, richtet sich die Zulässigkeit des dagegen eingelegten Rechtsbehelfs nach dem alten Recht (§ 184 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
Die zur Prüfung gestellte Vorschrift ist erst durch das Finanzverwaltungsgesetz vom 6. September 1950 in die Abgabenordnung eingefügt worden und unterliegt daher der Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts.
II.
§ 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. war mit dem Grundgesetz vereinbar. Er verstieß weder gegen Art. 19 Abs. 4 GG noch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung oder ein sonstiges Verfassungsprinzip.
1. Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, den Rechtsweg. Sinn dieser Vorschrift ist es, dem Bürger ein Mindestmaß von gerichtlichem Rechtsschutz zu garantieren, nicht aber - wie das vorlegende Gericht offenbar annimmt - die gerichtliche Rechtskontrolle von Verfassungs wegen auf den Fall, daß ein Bürger durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, zu beschränken. Die Verfassungsbestimmung verbietet einen Ausschluß und eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle, nicht dagegen eine Erweiterung. Das Bundesverfassungsgericht hat in anderem Zusammenhang wiederholt ausgesprochen, daß Art. 19 Abs. 4 GG Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter gewährt (BVerfGE 11, 263 [265]; 15, 275 [280]). Aus dieser Verfassungsnorm läßt sich daher nicht entnehmen, daß es dem Gesetzgeber verwehrt sein soll, auch solche Verwaltungsakte, die den Bürger nicht in seinen Rechten verletzen, auf Initiative der Verwaltung selbst einer gerichtlichen Nachprüfung zu unterwerfen. Derartige "In-sich-Prozesse" mögen unerwünscht und "den Aufgaben der Gerichtsbarkeit nicht angemessen" sein, weil die Konflikte, die in ihnen ausgetragen werden, bei entsprechender

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gesetzlicher Regelung ohne Inanspruchnahme der Justiz innerhalb der Exekutive gelöst werden könnten (so BVerwGE 2, 147 [149]). Ein Verbot läßt sich aus Art. 19 Abs. 4 GG jedoch nicht herleiten.
2. Auch der Grundsatz der Gewaltenteilung wird durch § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. nicht verletzt.
Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgeführt hat, besteht der Sinn der Gewaltenteilung darin, daß die Organe der Legislative, Exekutive und Justiz sich gegenseitig kontrollieren und begrenzen, damit die Staatsmacht gemäßigt und die Freiheit des Einzelnen geschützt wird. Die in der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten muß aufrechterhalten bleiben; keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über die andere Gewalt erhalten, und keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden (BVerfGE 9, 268 [279 f.] mit weiteren Nachweisen).
Die Steuerausschüsse sind bei den Finanzämtern gebildet. Ein weisungsgebundener Beamter führt den Vorsitz. Sie sind demnach nicht Gerichte, nehmen keine Zwischenstellung zwischen Justiz und Verwaltung ein, sondern gehören ausschließlich zum Bereich der Verwaltung, mag auch ihre Besetzung mit mehreren, zum Teil weisungsfreien Mitgliedern und ihre Aufgabe, Steuerfestsetzungen auf Einspruch hin nachzuprüfen, den Eindruck eines gerichtlichen Verfahrens erwecken (dazu BVerfGE 4, 331 [Leitsatz 3]). Dadurch, daß ihnen bestimmte Entscheidungskompetenzen eingeräumt sind, werden nicht Funktionen der Exekutivgewalt auf eine andere Gewalt übertragen. Die Folge ist lediglich, daß ein Verwaltungsakt - nämlich die Entscheidung des Steuerausschusses - einer weiteren Nachprüfung im Verwaltungswege entzogen wird und die Entscheidung nur noch der Nachprüfung im Rechtswege unterliegt. Daß nicht nur der Betroffene, wenn er in seinen Rechten verletzt ist, sondern auch die Verwaltung selbst das Gericht anrufen kann, bedeutet keinen wesens

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mäßigen Unterschied. Die Nachprüfung eines Verwaltungsakts auf seine Rechtmäßigkeit gehört zu den Aufgaben der Justiz; sie entspricht dem System der Gewaltenteilung und kann deshalb kein dem Grundgesetz widersprechendes Übergewicht der Justiz über die Verwaltung begründen.
Nicht nur in der Abgabenordnung alter Fassung, sondern auch in einigen anderen Bundesgesetzen sind zur Verwaltung gehörige, weisungsfreie Ausschüsse vorgesehen, gegen deren Entscheidungen ein Verwaltungsorgan das Gericht anrufen kann. Solche Regelungen finden sich im Lastenausgleichsgesetz vom 14. August 1952 (BGBl. I S. 446; § 338), im Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz in der Fassung vom 8. Dezember 1956 (BGBl. I S. 908; §§ 19, 22) und im Wehrpflichtgesetz in der Fassung vom 14. Mai 1965 (BGBl. I S. 391; § 35 Abs. 2). Hiergegen sind weder in der Rechtsprechung (BVerwGE 2, 147 [148]; 7, 66 [73]; 9, 169 [170]; 15, 106 [107]; 16, 219 [221]) noch im Schrifttum (z. B. Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. I 2. Aufl. 1964, S. 115 f.) grundsätzliche Bedenken geäußert worden. Das Verfahren nach § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. weist allerdings die Besonderheit auf, daß der Vorsteher des Finanzamts, der gleichzeitig Vorsitzender des Steuerausschusses und an dessen Entscheidungen beteiligt war, das Gericht anrufen konnte, wogegen in anderen Fällen die Befugnis zur Anfechtung von Entscheidungen der Ausschüsse nur übergeordneten oder an der Entscheidung nicht beteiligten Verwaltungsorganen zusteht. Diesem Unterschied kommt jedoch keine entscheidende Bedeutung zu. Da die Möglichkeit der Anfechtung von Verwaltungsakten durch die Verwaltung selbst dem Gewaltenteilungsprinzip nicht widerspricht, kann es nicht darauf ankommen, welches Verwaltungsorgan die gerichtliche Nachprüfung herbeiführt. Es mag erwünscht sein, von dieser Einrichtung möglichst wenig Gebrauch zu machen (BVerwGE 2, 147 [149]). Verfassungsrechtliche Bedenken aus dem Gesichtspunkt des Gewaltenteilungsprinzips sind jedenfalls nicht zu erheben.


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3. Die Regelung des § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. bedeutet auch nicht etwa eine den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates widersprechende Herausnahme von Verwaltungsfunktionen aus der Verantwortung der Regierung und damit der parlamentarischen Kontrolle.
Die Berufungsbefugnis des Finanzamtsvorstehers nach § 263 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. erklärt sich aus der Stellung, die die Steuerausschüsse hatten. Nach dem Vorbild der ursprünglichen Fassung der Reichsabgabenordnung von 1919 sind die Steuerausschüsse im Jahre 1950 "einer dringenden Forderung weiter politischer und wirtschaftlicher Kreise folgend" (vgl. die Begründung zu §§ 24-34 des Regierungsentwurfs des Finanzverwaltungsgesetzes, BT-Drucks. I/697, S. 18 f.) wieder errichtet worden. Sie wurden als objektive demokratisch zusammengesetzte Instanzen in den Verwaltungsaufbau eingefügt mit dem Ziel, ihren Entscheidungen, obwohl auch sie Verwaltungsakte sind, infolge der Weisungsfreiheit größeres Gewicht gegenüber den Beschwerdeführern zu verleihen.
Die Einrichtung solcher mit Entscheidungskompetenz ausgestatteter Ausschüsse, die zwar zum Bereich der Verwaltung gehören, aber von der höheren Verwaltungsbehörde und der Regierung unabhängig und unkontrolliert sind, ist allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann mit dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaates im Sinn des Artikels 28 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar, wenn die Ausschüsse über Angelegenheiten von politischem Gewicht - z. B. über die Einstellung, Beförderung und Versetzung der Beamten - zu entscheiden haben (BVerfGE 9, 268 [282]). Entscheidungen über Steuereinsprüche gehören jedoch nicht zu dem Bereich der politischen Gestaltung, der stets der Regierungsverantwortung überlassen bleiben muß; sie durften daher auf weisungsfreie Ausschüsse übertragen werden. Ist aber die Einrichtung weisungsfreier, mit Entscheidungskompetenz ausgestatteter Steuerausschüsse verfassungsrechtlich einwandfrei, so ist auch das Anfechtungsrecht der Verwaltung

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unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der Regierungsverantwortung nicht zu beanstanden.
4. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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