BVerfGE 10, 136 - Durchlieferung


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Ein Verfolgter, der auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung der Bundesregierung von einem ausländischen Staat an eine zuständige deutsche Behörde zum Zwecke der Durchlieferung übergeben

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worden ist, darf an den übergebenden Staat nicht zurückgeführt werden, wenn sich vor Beendigung der Durchlieferung herausstellt, daß er deutscher Staatsangehöriger ist.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 20. Oktober 1959
- 1 BvR 125/59 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kaufmanns Erich B. gegen die Beschlüsse des Bundesgerichtshofes - 4. Strafsenat - vom 7. Januar 1959 - 4 ARs 45/58 - und des Oberlandesgerichts Karlsruhe - 2. Strafsenat - vom 4. Februar 1959 - Ausl.Reg. 4/85-.
Entscheidungsformel:
Der in dem Durchlieferungsverfahren gegen den Beschwerdeführer erlassene Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe - 2. Strafsenat - vom 4. Februar 1959 - Ausl.Reg. 4/85- verletzt das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
Dieser Beschluß sowie der ihm zugrunde liegende Beschluß des Bundesgerichtshofes - 4. Strafsenat - vom 7. Januar 1959 - 4 ARs 45/58 - werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.
 
Gründe
I.
1. Der Beschwerdeführer, der im Jahre 1958 in Frankreich eine Freiheitsstrafe verbüßte, steht in dringendem Verdacht, in Österreich eine Reihe Straftaten begangen zu haben.
Die österreichische Regierung ersuchte deshalb Frankreich um die Auslieferung und die Bundesrepublik Deutschland um die Durchlieferung des Beschwerdeführers, dessen Staatsangehörigkeit als ungeklärt bezeichnet wurde. Die französische Regierung bewilligte die Auslieferung, die Bundesregierung die Durchlieferung.
Erst nach seiner Übergabe an die deutschen Behörden machte der Beschwerdeführer unter Berufung auf seine deutsche Staatsangehörigkeit geltend, daß die Durchlieferung unzulässig sei. Da

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die Ermittlungen die Richtigkeit seiner Angaben bestätigten, nahm die Bundesregierung die Bewilligung der Durchlieferung zurück.
2. Nunmehr beantragte die österreichische Regierung, den Beschwerdeführer nach Frankreich zurückzuführen. Auf diesen Antrag legte zunächst der Generalbundesanwalt gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 1 Satz 3 i.V.m. § 27 DAG dem Bundesgerichtshof die Rechtsfragen vor, ob bei der gegebenen Sachlage ein Verfolgter zurückgeführt werden dürfe und auf Grund welcher gesetzlichen Bestimmung der Haftbefehl zur Sicherstellung der Rückführung zu erlassen sei. Der Bundesgerichtshof stellte durch Beschluß vom 7. Januar 1959 - BGHSt 12, 262 - fest:
    "(1) Ein Verfolgter, der auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung der deutschen Regierung von einem ausländischen Staat an eine zuständige deutsche Behörde zum Zwecke der Durchlieferung Übergeben worden ist, darf an den übergebenden Staat zurückgeliefert werden, wenn sich vor Beendigung der Durchlieferung herausstellt, daß er deutscher Staatsangehöriger ist.
    (2) Der Haftbefehl zur Sicherstellung der Rücklieferung ist gemäß den §§ 33 Abs. 2 Nr. 1, 30 DAG zu erlassen."
Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung, die gemäß § 27 Abs. 3 DAG "in der Sache für das Oberlandesgericht bindend" ist, erließ das Oberlandesgericht Karlsruhe am 4. Februar 1959 einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer "zur Sicherstellung seiner Rücklieferung an Frankreich".
3. Gegen diesen Haftbefehl und zugleich auch gegen die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 7. Januar 1959 hat der Beschwerdeführer mit der Rüge, Art. 16 Abs. 2 GG sei verletzt, Verfassungsbeschwerde erhoben.
4. Der Bundesminister der Justiz und das Justizministerium Baden-Württemberg halten die Rückführung des Beschwerdeführers nach Frankreich für zulässig. Sie verneinen eine Verletzung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, weil es sich bei der Rückführung nicht um eine Auslieferung handele.


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Der Generalbundesanwalt ist dagegen der Auffassung, die Rückführung des Beschwerdeführers komme einer Auslieferung gleich und sei daher nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG verboten, zumal Frankreich ihn anschließend durch ein anderes Land an Österreich ausliefern werde.
Der Beschwerdeführer hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe ist zulässig und begründet.
1. Der Rückführung des Beschwerdeführers nach Frankreich steht das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG entgegen, das die Auslieferung eines Deutschen an das Ausland verbietet. Dieses Verbot verpflichtet die Bundesregierung auch, sich jeder Mitwirkung zu enthalten, wenn ein Deutscher aus dem Bereich deutscher Hoheitsgewalt zwangsweise entfernt und in den Bereich einer nichtdeutschen Hoheitsgewalt übergeführt wird. Auch der Bundesgerichtshof geht davon aus, die Bundesregierung dürfe "nicht dazu beitragen, daß ein deutscher Staatsangehöriger der Gerichtsbarkeit eines fremden Staates unterworfen" werde (BGHSt 12, 262 [264]).
Durch die Überstellung des Beschwerdeführers an Frankreich würde die Bundesregierung dazu beitragen, ihn in den Bereich einer ausländischen Gerichtsbarkeit zu überführen, weil hier die Rückführung nur dem Zweck dienen soll, den Beschwerdeführer über einen anderen Staat nach Österreich auszuliefern. Die Rückführung des Beschwerdeführers an Frankreich würde sich deshalb als mittelbare Auslieferung an Österreich darstellen.
2. Der Bundesgerichtshof schränkt das Verbot, zur Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen durch einen dritten Staat beizutragen, dahin ein, daß es nur dann Platz greife, wenn dieser Staat durch die Beitragsleistung der Bundesregierung einen Zuwachs seiner Machtbefugnisse erhalte (BGHSt 12, 262 [267]). Frankreich hat aber seine Machtbefugnisse über den Beschwerde

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führer aufgegeben. Denn bei der Durchlieferung eines Verfolgten bestehen nach seiner Übergabe und Übernahme keine weiteren Rechtsbeziehungen zwischen dem früheren Aufenthalts- und dem Durchlieferungsstaat. Von diesem Zeitpunkt an gilt das strenge Verbot des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG.
3. Die sich aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG ergebende Unzulässigkeit der Rückführung des Beschwerdeführers nach Frankreich steht auch nicht im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.
Eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG, die einen Durchlieferungsstaat zur Rückführung eines Verfolgten verpflichtet, sofern die Durchlieferung aus Rechtsgründen undurchführbar wird, läßt sich nicht feststellen.
Auch die mit Frankreich und mit Österreich abgeschlossenen Auslieferungsverträge
    - vgl. Auslieferungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich vom 29. November 1951 (BGBl. 1953 II S. 152); Vereinbarung der Deutschen Regierung und der Österreichischen Regierung zur vorläufigen Regelung des Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen vom 5. Juli/1. August 1930 (RGBl. 1930 II S. 1211);
    Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die Auslieferung vom 22. September 1958 - Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucks. 1099, S. 3) - noch nicht ratifiziert
enthalten keine solche Verpflichtung.
Endlich läßt sich auch nicht aus der Bewilligung der Durchlieferung des Beschwerdeführers eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Rückführung herleiten. Denn sowohl nach dem deutsch-französischen (Art. 20 Abs. 1) als auch nach dem deutsch-österreichischen Auslieferungsvertrag (Nr. 1 der Vereinbarung vom 5. Juli/1. August 1930; Art. 23 des Vertrages vom 22. September 1958) werden eigene Staatsangehörige nicht durchgeliefert. Die genannten Staaten mußten daher damit rechnen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Bewilligung der Durchlieferung des Beschwerdeführers, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt

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war, zurücknehmen würde, sobald sich herausstellte, daß er Deutscher ist. Eine Rückführung würde gerade den Erfolg herbeiführen, der mit dem vertraglichen Grundsatz der Nichtdurchlieferung eigener Staatsangehöriger verhindert werden soll.
4. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 4. Februar 1959 verletzt somit das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG und muß aufgehoben werden.
III.
Diese Aufhebung erstreckt sich notwendig auch auf den Beschluß des Bundesgerichthofes vom 7. Januar 1959, weil auf ihm wegen der Bindungswirkung nach § 27 Abs. 3 DAG die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe beruht. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung mehr über die von dem Beschwerdeführer unmittelbar gegen den Beschluß des Bundesgerichtshofes erhobene Verfassungsbeschwerde.
Die Sache ist an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).