BGHSt 45, 219 - Mutmaßliche Einwilligung bei Operationserweiterung


BGHSt 45, 219 (219):

Zur mutmaßlichen Einwilligung bei Operationserweiterung, hier Sterilisation nach Kaiserschnitt (im Anschluß an BGHSt 35, 246).
StGB vor § 1, §§ 16, 17, 223
5. Strafsenat
 
Urteil
vom 4. Oktober 1999 g.B. u.a.
- 5 StR 712/98 -
Landgericht Chemnitz
 
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung (nicht gerechtfertigte Sterilisation) zu Frei

BGHSt 45, 219 (220):

heitsstrafen verurteilt, deren Vollstreckung es jeweils zur Bewährung ausgesetzt hat.
I.
Die Angeklagten arbeiten als Fachärzte für Gynäkologie im Krankenhaus A., in das die später Geschädigte 24jährige L. zur Entbindung ihres zweiten Kindes eingewiesen wurde. Ihr erstes Kind hatte L. fünf Jahre zuvor mittels Kaiserschnitts zur Welt gebracht. Während des Geburtsverlaufs verhielt sich die Frau unkooperativ, sie schrie lautstark und verweigerte schließlich eine aktive Mitwirkung bei der Geburt. Als durch falsche Atmung der werdenden Mutter die Gesundheit des Kindes zunehmend in Gefahr geriet, entschlossen sich die Angeklagten, die Entbindung mittels Kaiserschnitts durchzuführen. Nachdem der Angeklagte W. erfolglos versucht hatte, die Patientin L. über die geplante Kaiserschnittoperation aufzuklären, besprach er die Situation mit dem Ehemann der L., der der Operation zustimmte. Bevor die Narkose eingeleitet wurde, stellte die Angeklagte B. der schon im Operationssaal befindlichen Patientin L. angesichts der unmittelbar bevorstehenden Kaiserschnittoperation die Frage: "Frau L., Sie wollen doch sicher keine Kinder mehr haben, wir wollen Sie gleich mit sterilisieren?" L. lehnte dies jedoch ab. Daraufhin nahmen die Angeklagten von ihrem Vorhaben, L. zu sterilisieren, zunächst Abstand.
Während der Operation, die von dem Angeklagten W. als Oberarzt durchgeführt wurde und bei der ihm die Angeklagte B. assistierte, bildeten sich Risse in der Gebärmutter der Patientin. Es kam zu heftigen Blutungen, die jedoch alsbald zum Stillstand gebracht werden konnten. Aufgrund dieser Komplikationen führten die Angeklagten nunmehr einverständlich bei der Patientin eine Tubensterilisation durch. Mit dieser Maßnahme wollten sie eine erneute Schwangerschaft der L. bei der sie das Risiko eines Gebärmutterrisses mit lebensgefährlichen Folgen für Mutter und Kind befürchteten, sicher vermeiden. L., die sich insgesamt drei Kinder gewünscht hatte, war mit der von den Angeklagten durchgeführten Sterilisation nicht einverstanden.


BGHSt 45, 219 (221):

II.
1. Revision der Angeklagten B.
In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat das Landgericht in der Sterilisation der L. eine tatbestandliche Körperverletzung gesehen (BGHSt 11, 111 f.), die nicht durch eine ausdrücklich erklärte Einwilligung der Patientin gerechtfertigt war. Auch eine mutmaßliche Einwilligung, die einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund bilden würde, hat es mit zutreffenden Erwägungen verneint.
Im Hinblick auf den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist der Inhalt des mutmaßlichen Willens in erster Linie aus den persönlichen Umständen des Betroffenen, aus seinen individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln. Objektive Kriterien, insbesondere die Beurteilung der Maßnahme als gemeinhin vernünftig und normal sowie den Interessen eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechend, haben keine eigenständige Bedeutung, sondern dienen lediglich der Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens. Liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß sich der Patient anders entschieden hätte, wird allerdings davon auszugehen sein, daß sein (hypothetischer) Wille mit dem übereinstimmt, was gemeinhin als normal und vernünftig angesehen wird (BGHSt 35, 246, 249 f.; vgl. Ulsenheimer in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts 2. Aufl. § 139 Rdn. 46; Geppert JZ 1988, 1024, 1026).
Objektive Kriterien, die Anhaltspunkte für das mutmaßliche Interesse der L. an der hier vorgenommenen Operationserweiterung bieten könnten, ergeben sich zum einen aus dem Risiko, das die Patientin eingegangen wäre, wenn die Sterilisation überhaupt unterblieben wäre, zum anderen aus der physischen und psychischen Belastung, die gegebenenfalls mit einer weiteren, gesondert erfolgenden Operation verbunden gewesen wäre.
Zum erstgenannten Risiko hat das sachverständig beratene Landgericht festgestellt, daß nach Komplikationen der hier eingetretenen Art bei einer künftigen Schwangerschaft die Gefahr einer lebensgefährlichen Narbenruptur unter 4% liege. Zudem sei das Risiko durch geeignete Diagnosemittel, wie rechtzeitige Ultraschalluntersuchung, beherrschbar. War da

BGHSt 45, 219 (222):

nach die Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen selbst für den Fall einer erneuten Schwangerschaft und Geburt gering, so hätte für L. zudem die Möglichkeit bestanden, eine erneute Schwangerschaft mittels selbstbestimmter kontrazeptorischer Maßnahmen zu verhindern. Eine irreversible Sterilisation, die tief in die Persönlichkeitssphäre der betroffenen Frau eingreift, war daher nicht angezeigt. Eine solche Maßnahme ohne Rücksprache mit der Patientin vorzunehmen, war hier umsoweniger geboten, als der Verzicht auf eine Operationserweiterung keine nennenswerten Nachteile für die Frau mit sich gebracht hätte. Vielmehr hätte eine Sterilisation ohne besondere gesundheitliche Belastungen auch noch später durchgeführt werden können. Zwar bestand für L. aufgrund ihrer körperlichen Disposition ein geringfügig erhöhtes Narkoserisiko. Es wäre jedoch möglich gewesen, eine deutlich schonendere Operationsmethode als den offenen Eingriff zu wählen.
Indem das Landgericht schon aufgrund dieser objektiven Umstände die sofortige Sterilisation als dem mutmaßlichen Willen der L. zuwiderlaufend gewertet hat, hat es entgegen der Auffassung der Verteidigung den vom Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung vom 25. März 1988 (BGHSt 35, 246, 249) für die mutmaßliche Einwilligung bei unvorhergesehener Operationserweiterung vorgegebenen Beurteilungsmaßstab nicht verkannt. Zwar hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, die Zulässigkeit ärztlichen Handelns auf der Grundlage mutmaßlicher Einwilligung des Patienten sei nicht auf Fälle vitaler Indikation, d.h. der Beseitigung einer gegenwärtigen Lebensgefahr beschränkt. Der (mutmaßliche) Wille des Patienten sei vielmehr auch dann zu berücksichtigen, wenn der Arzt vor der Frage stehe, ob er eine mit Zustimmung des Patienten begonnene Operation erweitern oder sie abbrechen und den Patienten dem Risiko einer neuen, unter Umständen mit größeren Gefahren verbundenen, jedenfalls aber weitere körperliche und seelische Beeinträchtigungen mit sich bringenden Operation aussetzen soll.
Damit wird jedoch lediglich der Bereich, in dem ärztliches Handeln ohne Einwilligung des Patienten überhaupt gerechtfertigt sein kann, über die Fälle akuter Lebensbedrohung hin

BGHSt 45, 219 (223):

aus auf jene Fälle ausgedehnt, in denen ein hohes gesundheitliches Risiko auch noch durch eine spätere, den Patienten aber gesundheitlich zusätzlich belastende Operation abgewendet werden kann. Dagegen wird nicht in Frage gestellt, daß eine mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgrund nur dann in Betracht kommt, wenn ohne einen - sofort oder später - erfolgenden Eingriff eine erhebliche Gefahr für Leben oder Gesundheit des Patienten besteht.
Ist die Gefahr - wie hier vom Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt - denkbar gering und kann sie zudem mittels moderner Diagnosemöglichkeiten beherrscht werden, so darf in aller Regel eine Operationserweiterung ohne Zustimmung des Patienten auch nicht allein unter dem Gesichtspunkt erfolgen, daß eine weitere Operation - falls sie vom Patienten denn doch gewünscht würde - für diesen mit zusätzlichen seelischen oder körperlichen Belastungen verbunden wäre. Andernfalls liefe das Selbstbestimmungsrecht des Patienten weitgehend leer, da seelische und/oder körperliche Beeinträchtigungen zwangsläufige Folge jeder Operation sind (vgl. hierzu Ulsenheimer a.a.O. § 139 Rdn. 51; Geppert JZ 1988, 1024, 1028; Giesen JZ 1988, 1030, 1031). Ob Ausnahmen in Betracht kommen können, wenn eine spätere Sterilisation zur Vermeidung eines quantitativ geringen, letztlich aber nicht sicher ausschließbaren Lebensrisikos im Falle einer erneuten Schwangerschaft ihrerseits mit erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen verbunden wäre, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Bei L. bestand eine solche Gefahr angesichts besonders schonender Möglichkeiten, eine spätere Sterilisation durchzuführen, nicht. Insoweit unterscheidet sich die hier zu beurteilende Situation von derjenigen, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 25. März 1988 (a.a.O.) zu beurteilen hatte.
Sprachen schon objektive Kriterien gegen ein Interesse der L., im Anschluß an den erfolgten Kaiserschnitt sofort sterilisiert zu werden, so kam noch hinzu, daß die Patientin eine solche Maßnahme vor der Operation ausdrücklich abgelehnt hatte. Zwar war die Weigerung, den ihr von der Angeklagten B. nahegelegten Eingriff vornehmen zu lassen, in Unkenntnis der später aufgetretenen Komplikationen erfolgt. Zudem dürf

BGHSt 45, 219 (224):

te die Patientin aufgrund ihres physischen und psychischen Zustandes kaum in der Lage gewesen sein, eine so weitreichende Entscheidung voll verantwortlich zu treffen. Mit Recht weist das Landgericht jedoch darauf hin, daß den Ärzten aufgrund der Befragung zumindest die grundsätzliche Abneigung der jungen Frau gegen eine Sterilisation bekannt war.
Soweit das Landgericht das Verhalten der Angeklagten in Bezug auf die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der L. als vermeidbaren "groben Behandlungsfehler" bzw. als "gravierende Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht" gewertet hat, weist das angefochtene Urteil keinen die Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Da die geringe Gefahr einer Narbenruptur nach vorangegangenem operativen Eingriff der hier vorliegenden Art nach den Feststellungen des Landgerichts zum Standardwissen eines Gynäkologen gehört, die Angeklagten zudem um die alternativen Formen einer Schwangerschaftsverhütung wußten, hätten sie bei pflichtgemäßem Einsatz ihres Fachwissens auch unter Berücksichtigung ihrer beruflichen Anspannung am Tattage ohne weiteres erkennen können, daß eine Sterilisation nicht dem mutmaßlichen Willen der L. entsprach.
...
3. Revisionen der Staatsanwaltschaft
Mit ihren Rechtsmitteln beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß die Angeklagten lediglich wegen einer Fahrlässigkeitstat verurteilt worden sind. Das Landgericht sei den Einlassungen der Angeklagten, sie hätten bei Vornahme der Sterilisation geglaubt, im Einverständnis mit der Patientin zu handeln, gefolgt, ohne diese Einlassungen anhand anderer Beweisanzeichen auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen. Das Urteil beruhe damit auf einer lückenhaften Beweiswürdigung. Die Rüge hat Erfolg.
Hält ein Arzt eine Operationserweiterung im Interesse des Patienten für geboten und nimmt er dabei irrigerweise an, der Betroffene hätte bei vorheriger Befragung seine Zustimmung gegeben, dann irrt er über das Vorliegen von tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der mutmaßlichen Einwilligung. Ein solcher Erlaubnistatbestandsirrtum

BGHSt 45, 219 (225):

schließt in Analogie zu § 16 StGB vorsätzliches Handeln aus (BGHSt 11, 111, 114; 35, 246, 250; BGH JZ 1964, 231). Dagegen liegt ein Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB vor, wenn der Arzt das fehlende Einverständnis des Patienten erkennt oder doch zumindest für möglich hält (dolus eventualis), einen körperlichen Eingriff aber gleichwohl für rechtlich zulässig erachtet, weil ihm dieser aus medizinischer Sicht sinnvoll und geboten erscheint. In diesem Fall mißachtet er - wenn auch wohlmeinend - das dem Patienten grundsätzlich zustehende Selbstbestimmungsrecht (BGHSt 11, 111, 114) und irrt damit lediglich über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes. Ein solcher Irrtum läßt den Vorsatz unberührt. War er für den Arzt vermeidbar (was kaum je zweifelhaft sein dürfte), so kann er lediglich strafmildernd wirken (vgl. hierzu Ulsenheimer a.a.O. § 139 Rdn. 59 ff.; kritisch Geppert JZ 1988, 1024, 1028).
Eine klare Trennung zwischen beiden Irrtumsformen läßt das angefochtene Urteil nicht erkennen. So spricht die vom Landgericht angestellte Erwägung, ein Handeln im Interesse der Zeugin L. und damit der "Vorsatz zum Heilen" könne den Angeklagten nicht abgesprochen werden, nicht notwendig für einen Erlaubnistatbestands- und gegen einen Verbotsirrtum. Gleiches gilt für die Feststellung, eine sachfremde bzw. weltanschaulich geprägte Motivation für das Verhalten der Angeklagten sei nicht ersichtlich. Auch wenn ein Arzt meint, aufgrund seiner überlegenen Fachkenntnisse besser als der Patient zu wissen, was für diesen förderlich ist, und sich deshalb über den Willen des Patienten hinwegsetzt, so handelt er regelmäßig, um zu heilen.
Grundsätzlich wird allerdings "selbstherrliches" Handeln eines Arztes ohne Rücksicht auf den mutmaßlichen Willen des Patienten die Ausnahme bilden. Eigenmächtige Heilbehandlung aufgrund eines entsprechenden Verbotsirrtums muß daher nur dann in Betracht gezogen werden, wenn hierfür besondere Anhaltspunkte bestehen. Das zur Wahrung der Persönlichkeit des Patienten erforderliche Selbstbestimmungsrecht darf nicht in der Weise überzogen werden, daß es sich gegen ihn kehrt. Dies aber wäre die Folge, wenn Ärzte aus Furcht vor einem für sie nicht mehr überschaubaren Risiko

BGHSt 45, 219 (226):

strafrechtlicher Verfolgung bei einem zur Einwilligung nicht fähigen Patienten eine dringend gebotene und in aller Regel dem Willen des Patienten entsprechende Operation oder Operationserweiterung unterließen.
Im vorliegenden Fall hat jedoch das Landgericht eine Reihe von Umständen festgestellt, die dafür sprechen, daß die Angeklagten mit einem fehlenden Einverständnis der Patientin L. gerechnet, sich aber darüber hinweg gesetzt haben:
Schon vor der Kaiserschnittoperation war der Patientin von der Angeklagten B. eine Sterilisation in recht bestimmender Weise nahegelegt worden. Die Patientin hatte eine Sterilisation abgelehnt. Durch die während der Operation aufgetretenen Blutungen wurde das Risiko, daß im Falle einer erneuten Schwangerschaft lebensgefährliche Komplikationen auftreten könnten, nur geringfügig erhöht (Wahrscheinlichkeit unter 4%); dieses Risiko war zudem durch moderne Diagnostik beherrschbar. Das geringe Risiko einer Narbenruptur wird in der Fachliteratur beschrieben und gehört zum Standardwissen eines Gynäkologen (welchen konkreten Kenntnisstand die Angeklagten hatten, teilt das Urteil nicht mit). Eine erneute Schwangerschaft hätte auch durch schonendere empfängnisverhütende Methoden als durch eine Sterilisation vermieden werden können. Eine spätere Sterilisation wäre ohne nennenswert erhöhtes Risiko für die Patientin möglich gewesen. Die Patientin war erst 24 Jahre alt; die irreversible Sterilisation stellte einen schweren Eingriff in ihre künftige Lebensplanung dar. Zudem hat sich die Angeklagte B. dahin eingelassen, sie sei u.a. deshalb davon ausgegangen, daß die Sterilisation dem mutmaßlichen Willen der Patientin L. entsprach, weil diese bereits zwei Kinder geboren hätte und sich auch "nicht richtig auf die Geburt eingestellt habe".
Bevor das Landgericht von einer "unwiderlegbaren" Einlassung der Angeklagten, sie hätten an eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin geglaubt, ausging, hätten die genannten Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung in die Beweiswürdigung einbezogen werden müssen.
Sollte der neue Tatrichter eine besonders schwere Körperverletzung gem. den §§ 224, 225 StGB a.F. als erwiesen ansehen,

BGHSt 45, 219 (227):

so wird ein etwaiger vermeidbarer Verbotsirrtum der Angeklagten sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne zu berücksichtigen sein. Liegen in Grenzfällen der vorliegenden Art bewußte Fahrlässigkeit und bedingter Vorsatz dicht beieinander, so ist dem bei der Strafzumessung trotz unterschiedlicher Strafrahmen Rechnung zu tragen.