BGE 98 Ib 301 - Sonderstatusverhältnis ETHZ
 
44. Auszug aus dem Urteil
vom 27. Oktober 1972
i.S. X. gegen Schweizerischen Schulrat.
 
Regeste
 
Regeste
-  Ausmass der Einschränkung der Freiheitsrechte durch das besondere Rechtsverhältnis.
- Anforderungen an die Rechtmässigkeit von Disziplinarmassnahmen.
- Vereinbarkeit von Art. 30 Abs. 2 ETH-Reglement mit der verfassungsmässig gewährleisteten Meinungsäusserungsfreiheit.

BGE 98 Ib 301 (302):

 
Sachverhalt
A.
Art. 30 und 31 des Reglementes für die ETH Zürich vom 16. April 1924 (ETHR) lauten wie folgt:
"Art. 30 Disziplinarvergehen werden von der Hochschule geahndet. Als Disziplinarvergehen werden im besondern angesehen: Fortgesetzte Vernachlässigung der Studien; Verletzung der den Behörden und den Mitgliedern des Lehrkörpers gebührenden Achtung; Verletzung der Sittlichkeit und des Anstandes; Unehrlichkeit bei der Ausfertigung von Studienarbeiten und bei Prüfungen; Nichtbeachtung der bestehenden Vorschriften.
Art. 31
1 Bei Disziplinarvergehen werden, je nach der Natur des Falles, folgende Mittel angewendet:
a)  durch die Abteilungskonferenz: Verweis durch den Vorstand;
b)  durch das Rektorat: Verweis durch den Rektor;
c)  durch die Konferenz der Abteilungsvorstände:
Androhung des Ausschlusses,
zeitweiliger Ausschluss,
Ausschluss.
2 Die Strafen unter lit. b) und c) können von den Abteilungskonferenzen, die Strafen unter lit. c) von diesen oder vom Rekorat beantragt werden und sind von den Antragstellern schriftlich zu zu begründen."
B.
Der Beschwerdeführer war im Herbst 1971 Präsident des Verbandes der Studierenden an der ETHZ (VSETH). In dieser Eigenschaft versandte er im November 1971 zusammen mit dem "Roten Hochschülerbuch, Ausgabe 1972" an die neu eintretenden Studierenden ein Begrüssungsschreiben mit folgendem Wortlaut:


BGE 98 Ib 301 (303):

"Lieber Neueintretender,
,Lieber Neumitleidender' sollten wir eigentlich schreiben. Du hast Dich ja schliesslich dazu entschlossen, an unserem Nationalen Technischen Kindergarten auf Wissenschaft gedrillt zu werden. Noch hast Du die Möglichkeit, Deinen Entschluss zu überdenken. Du kannst aber getrost dabei bleiben, wenn es nur aus dem Grunde wäre ... dass es anderswo nicht besser ist.
Schwarzmalerei? Obskure Behauptungen überhitzter Neinsager-Köpfe? Mitnichten. Bald wirst auch Du entdecken, wie mühsam es ist, in einschläfernden Vorlesungen einen oft überflüssigen Stoff in einer Form zu erhalten, die allerhöchst für einen Computer verdaubar sein dürfte. Wie frustrierend, dem Stress von Prüfungen und Klausuren ausgeliefert zu sein. Wie desillusionierend, wenn Dozenten, die Alternativ-Experimente einführen, einfach rausgeschmissen werden.
Mühsam, aber nicht entmutigend. Denn gegen die vereinte Hochschulbürokratie kann man ja Widerstand leisten. Ebenfalls vereint. Und gerade um Dir zu helfen, zusammen mit Deinen Kommilitonen diesen Widerstand aufzunehmen sind wir da. Wir: der VSETH, die Fachvereine und die Basisgruppen.
Wir bieten Dir aber noch mehr. Z.B. den beiliegenden Studentenführer, der Dir als erste Orientierung dienen soll. Oder: Am Montag, 25. Oktober nachmittags geführte Rundgänge in der Stadt in Gruppen, wo Du auch über sämtliche Probleme Auskunft bekommst, die sich Dir am Anfang des Studiums stellen. Rendez-vous um 15.00 h auf der Polyterrasse (vor dem Hauptgebäude, Seeseite). Anschliessend Würstli & Getränk im Polyfoyer, Leonhardstr. 25 a, ca. 17.15 h.
Also: auf bald!
Für den VSETH-Vorstand X."
Die adressierten Briefbogen waren dem VSETH blanko vom Rektorat der Hochschule zur Verfügung gestellt worden, ebenso die Briefumschläge mit Fenster, die die Aufschrift "Rektorat der ETH, Pauschal frankiert" trugen.
Die Konferenz der Abteilungsvorstände der ETH erblickte im Versenden dieses Schreibens ein Disziplinarvergehen im Sinne von Art. 31 ETHR und drohte dem Beschwerdeführer den Ausschluss aus der ETHZ an.
Gegen diesen Entscheid rekurrierte der Beschwerdeführer am 15. Dezember 1971 an den eidg. Schulrat. Dieser beschloss am 28. Januar 1972, den Disziplinarfall an sich zu ziehen (Art. 108 Ziff. 1 lit. u ETHR) und liess den Tatbestand durch einen Bezirksrichter untersuchen. Mit Entscheid vom 24. März 1972 drohte er alsdann dem Beschwerdeführer den Ausschluss aus der Hochschule an.


BGE 98 Ib 301 (304):

C.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der Beschwerdeführer beantragt:
"1. Der Entscheid des Schweizerischen Schulrates sei aufzuheben und es sei von jeder disziplinarischen Massnahme gegen den Rekurrenten abzusehen.
2. Eventualiter sei ein blosser Verweis auszusprechen.
3. Subeventualiter sei der Fall zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
4. Zumindest sei Ziff. 4 der Entscheidung aufzuheben und dem Rekurrenten für das ganze Verfahren vor dem Schweizerischen Schulrat die unentgeltliche Prozessführung mit dem Unterzeichneten als unentgeltlichen Rechtsbeistand zu bewilligen.
5. Dem Rekurrenten sei eine Parteientschädigung sowohl für das Verfahren vor dem Schweizerischen Schulrat wie auch für das vorliegende Verfahren vor dem Schweizerischen Bundesgericht zuzusprechen.
6. Es sei dem Rekurrenten die unentgeltliche Prozessführung mit dem Unterzeichneten als unentgeltlichen Rechtsbeistand für das Beschwerdeverfahren vor dem Schweizerischen Bundesgericht zu bewilligen. "
Als Rechtsverletzungen rügt er die Verweigerung des rechtlichen Gehörs, die Verletzung der Ausstandspflicht sowie des Prinzips der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsmassnahmen; er bestreitet, dass der inkriminierte Brief, sofern die Disziplinarstrafordnung verfassungsmässig angewendet werde, einen Disziplinarstraftatbestand darstelle, macht geltend, dass Art. 30 ETHR in seiner allgemeinen Fassung nicht verfassungskonform sei und beanstandet die Verweigerung der unentgeltlichen Prozessführung.
D.
Der Schulrat beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
Die dem Beschwerdeführer gegenüber ausgesprochene Disziplinarstrafe qualifiziert sich als Administrativmassnahme. Derartige

BGE 98 Ib 301 (305):

Entscheide sind Verfügungen im Sinne von Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 VwG und können - da keiner der Ausschlussgründe der Art. 99 bis 102 OG zutrifft - mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden.
Der Beschwerdeführer hat an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses ein schutzwürdiges Interesse (Art. 103 lit. a OG); die prozessualen Erfordernisse sind erfüllt (Art. 106 und 108 OG); es ist mithin auf die Beschwerde einzutreten. Dabei überprüft das Bundesgericht nach Massgabe von Art. 104 OG den angefochtenen Beschluss nur auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens (lit. a) sowie auf eine unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes (lit. b). Eine Rüge der Unangemessenheit ist nicht zu hören, da es sich nicht um eine Disziplinarstrafe gegen Bundespersonal handelt (lit. c Ziff. 2).
 
Erwägung 2
2.- a) Zwischen der Hochschule (öffentlichrechtliche Anstalt) und ihren Studierenden besteht ein "besonderes Rechtsverhältnis", das besondere Rechte und Pflichten begründet. Die gesetzliche Grundlage, auf der das besondere Rechtsverhältnis der Anstaltsbenutzer beruht, ist in der Regel der Erlass, durch den die betreffende Anstalt geschaffen worden ist. Wenn der Gesetzgeber nichts anderes bestimmt, ist die Anstaltsleitung oder deren Aufsichtsbehörde ermächtigt, die Rechte und Pflichten der Anstaltsbenutzer im Rahmen des Anstaltszweckes näher zu umschreiben. Dementsprechend bedürfen die durch das Benutzungsverhältnis gebotenen Beschränkungen der Freiheitsrechte nicht notwendigerweise einer besondern formellen gesetzlichen Grundlage; sie müssen sich aus der besonderen Natur des Anstaltsbenutzungsverhältnisses ableiten lassen (BGE 97 I 52; 68 I 81; A. GRISEL, Droit administratif suisse, S. 166).
Wer in eine Hochschule eintritt, übernimmt demnach gewisse besondere Pflichten, die andere Bürger nicht treffen. Bei schuldhafter Verletzung dieser Pflichten kann die Hochschule ein Disziplinarverfahren durchführen. Die Disziplinarmassnahmen müssen sich in den Schranken der Verfassung halten. Sie können die Freiheit der Studierenden - und damit auch die verfassungsmässig gewährleistete Meinungsäusserungsfreiheit - zwar beschränken, jedoch nur soweit, als das besondere Rechtsverhältnis es erfordert. Die Träger der sogenannten Anstaltsgewalt verfügen zudem bei der Beschränkung der Rechte und Pflichten

BGE 98 Ib 301 (306):

der Anstaltsbenutzer nur über einen rechtlich begrenzten Ermessensbereich; insbesondere dürfen sie Verwaltungssanktionen gegenüber den Anstaltsbenutzern nur in einem rechtsstaatlichen Verfahren und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verhängen. Die Betroffenen können die gesetz- oder verfassungswidrige Handhabung der Anstaltsgewalt mit verwaltungsrechtlichen Rechtsmitteln, gegebenenfalls mit staatsrechtlicher Beschwerde rügen (BGE 97 I 51).
b) Disziplinarmassnahmen sind administrative Sanktionen, Massnahmen des Verwaltungszwanges. Sie bezwecken die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung innerhalb des Personenkreises, für den das Disziplinarrecht gilt (BGE 97 I 835 mit Hinweisen). Für die Rechtmässigkeit einer Disziplinarmassnahme gegenüber dem Anstaltsbenutzer ist erforderlich, dass der zu Massregelnde fehlerhaft gehandelt hat; dieser muss aufgrund des ihm zur Kenntnis gebrachten Anstaltsreglementes oder aus der unmittelbar einleuchtenden Natur des Anstaltsverhältnisses erkennen können, dass sein Verhalten mit diesem besondern Rechtsverhältnis nicht vereinbar ist (BGE 73 I 291). Der einer besondern Disziplinargewalt Unterworfene kann nicht verlangen, dass alles, was ihm verboten ist, im einzelnen aufgezählt werde (BGE 73 I 290); dies wäre auch kaum möglich. Die Verhängung einer Disziplinarstrafe hat daher nur zu unterbleiben, wenn der Betroffene in guten Treuen annehmen durfte, er verstosse mit seinem Verhalten nicht gegen die Disziplinarordnung.
c) Der Umstand, dass das geltende Reglement der ETH die möglichen Verfehlungen gegen die Disziplinarordnung nicht abschliessend aufzählt, sondern sich - ähnlich wie die Satzungen anderer schweizerischer und ausländischer Hochschulen - mit Beispielen begnügt, kann somit kein Grund sein, um die gegenüber dem Beschwerdeführer ausgefällte Disziplinarmassnahme als gesetz- und verfassungswidrig erscheinen zu lassen. Das für den Beschwerdeführer geltende Disziplinarrecht lässt den Betroffenen überdies keineswegs schutzlos. Das Massnahmerecht ist grundsätzlich im Rahmen der übergeordneten allgemeinen Rechtsprinzipien, insbesondere im Einklang mit der verfassungsmässig gewährleisteten Meinungsäusserungsfreiheit (BGE 96 I 224, 592), verfassungskonform anzuwenden (BGE 95 I 332). Auch sind an den Eidg. Technischen Hochschulen bei Disziplmarverfahren seit dem 1. Oktober 1969 das

BGE 98 Ib 301 (307):

VwG und das OG anwendbar. Dadurch ist der Rechtsschutz der Studierenden weitestgehend gewährleistet.
 
Erwägung 3
Eine Hochschule soll ein Ort des Lernens und des Forschens sein. Die Hochschulen können ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn eine geistige Atmosphäre herrscht, in der Studenten und Dozenten sich gegenseitig in Achtung begegnen, in Achtung vor dem Können, vor dem kritischen Sinn, vor dem Andersdenken, vor der Menschenwürde all derer, die in der Hochschule arbeiten. Wer diese geistige Atmosphäre vergiftet - als Student oder als Dozent -, schadet der Hochschule; er stört deren Ordnung.
Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, welches Mass und welche Ausdrucksformen studentischer Kritik im allgemeinen durch die Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt sind und wo das Verhalten eines Studenten derart gegen das besondere Rechtsverhältnis zwischen Hochschule und Studierenden verstösst, dass sich eine disziplinarische Sanktion rechtfertigt. Der Beschwerdeführer hat den Brief an die neu eintretenden Studierenden nämlich nicht als gewöhnlicher Student, sondern in seiner Eigenschaft als Präsident des VSETH verfasst und versandt. Als solcher befand sich der Beschwerdeführer in einem - von der Stellung der übrigen Studenten zu unterscheidenden - besondern Rechtsverhältnis zur ETH; er besass erhöhte Rechte und Pflichten. Wohl ist der VSETH nach seinen Statuten ein zivilrechtlicher Verein, doch sind ihm und seinen Organen öffentlich-rechtliche Funktionen überbunden. Zu diesen Funktionen des VSETH, die im Interesse der Hochschule und damit im öffentlichen Interesse liegen, gehört u.a. auch die Zustellung eines Studentenführers an die neu eintretenden Studierenden mit einem entsprechenden Begleitbrief des Präsidenten des VSETH. Es lässt sich daher auch die Auffassung

BGE 98 Ib 301 (308):

vertreten, dass der Versand in den amtlichen Couverts der ETH erfolgen kann. Doch musste dem Beschwerdeführer völlig klar sein, dass das Rektorat der ETH nie gestattet hätte, in einer amtlichen Sendung der Hochschule einen Brief mit dem Inhalt zu verschicken, wie ihn der Beschwerdeführer verfasst hatte. Wohlweislich hat sich der Beschwerdeführer adressierte Blankobriefbogen und Fensterbriefumschläge geben lassen und die Sendung zur Post gebracht, ohne dass das Rektorat vom Briefinhalt Kenntnis hatte. Im Zurverfügungstellen der adressierten Briefbogen und der Briefumschläge lag ein Akt des Vertrauens des Rektors gegenüber dem Beschwerdeführer - ein Vertrauen, das ihm geschenkt wurde, obwohl das Rektorat die kritische Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber der Hochschule kannte. Dadurch, dass der Beschwerdeführer dieses Vertrauen missbrauchte, um einen Begleitbrief voll schwerer Angriffe gegen die Hochschule zu verschicken, hat er eine Handlung begangen, die sich mit seiner Stellung innerhalb der Organisation der ETH nicht verträgt und die durch kein Freiheitsrecht der Verfassung gedeckt ist. Der Schulrat durfte deshalb - ohne Verletzung von Bundesrecht - annehmen, dass in dieser Pflichtverletzung ein Disziplinarvergehen liegt.
Es braucht daher nicht geprüft zu werden, wieweit der Präsident des VSETH bei andern Gelegenheiten, wo er sich mündlich oder schriftlich äussert, mit seiner Kritik am Lehrbetrieb der Hochschule gehen darf. Der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer als Präsident des VSETH in seinem Begrüssungsbrief abfällig über die ETH äusserte und die neu eintretenden Studenten zum Widerstand gegen die Hochschulbehörden aufforderte, war durchaus geeignet, das Einvernehmen zwischen Studenten und Dozenten zu stören. Das Verhalten des Beschwerdeführers bildete einen schweren Verstoss gegen die ihm obliegenden Pflichten der akademischen Disziplin.