BGer 8C_421/2007
 
BGer 8C_421/2007 vom 19.06.2008
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_421/2007
Urteil vom 19. Juni 2008
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.
Parteien
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Rüegg, Schachenstrasse 2, 6011 Kriens,
gegen
Familienausgleichskasse des Kantons Luzern, Geschäftsstelle: Ausgleichskasse Luzern, Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Kantonale Familienzulagen,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 10. Juli 2007.
Sachverhalt:
A.
B.________ meldete sich mit einem vom 26. März 2005 datierten Schreiben (Eingang: 25. April 2005) bei der Familienausgleichskasse des Kantons Luzern zum Bezug von Ausbildungszulagen für ihre Tochter N.________ (ab Januar 2005) an. Mit Verfügung vom 9. September 2005 bejahte die Familienausgleichskasse einen Anspruch mit Wirkung ab 1. Juli 2005, verneinte ihn jedoch für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2005. Zur Begründung wurde erklärt, es habe sich herausgestellt, dass der Vater von N.________ für seine Tochter bis Ende Juni 2005 eine volle Zulage bezogen habe. An dieser Beurteilung hielt die Familienausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 19. Januar 2006 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern ab (Entscheid vom 10. Juli 2007).
C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin berechtigt gewesen sei, für die Tochter N.________ in der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 volle Ausbildungszulagen zu beziehen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Vorinstanz und Familienausgleichskasse schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:
1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Soweit sich der angefochtene Entscheid auf Quellen des kantonalen Rechts stützt, welche nicht in Art. 95 lit. c-e BGG genannt werden, beschränkt sich die Überprüfung durch das Bundesgericht demgegenüber thematisch auf die erhobenen und begründeten Rügen (Art. 106 Abs. 2 BGG) und inhaltlich auf die Frage, ob die Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Vordergrund steht dabei eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere des Willkürverbots nach Art. 9 BV. Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, kann gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG nur gerügt werden, diese sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95 (BGE 133 I 201 E. 1 S. 203 mit Hinweisen).
1.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 9 BV. Diese erblickt sie darin, dass die Vorinstanz Art. 12a des Gesetzes über die Familienzulagen des Kantons Luzern vom 10. März 1981 (FZG) willkürlich nicht bzw. falsch angewendet habe. Die Rüge ist zulässig und wird in einer den Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügenden Weise substanziiert. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten. Das Bundesgericht hat seine Prüfung indessen auf die Frage zu beschränken, ob die geltend gemachte willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts vorliegt.
2.
Nach der Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 132 I 175 E. 1.2 S. 177; 132 III 209 E. 2.1 S. 211, je mit Hinweisen). Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist; dass eine andere Lösung als ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 132 I 175 E. 1.2 S. 177; 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen).
3.
Strittig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz die kantonalrechtlichen Bestimmungen über die Familienzulagen in willkürlicher Weise angewendet hat, als sie einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ausbildungszulagen für die Tochter N.________ während der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 verneinte.
3.1 Gemäss § 8 Abs. 1 lit. a FZG haben Beschäftigte Anspruch auf Familienzulagen für ihre in der Schweiz wohnhaften eigenen Kinder. Bezugsberechtigt sind Beschäftigte, deren Arbeitgeber diesem Gesetz unterstellt sind (§ 9 Abs. 1 FZG). Wie in § 6 der Vollzugsverordnung zum Gesetz über die Familienzulagen vom 13. Dezember 1994 (FZV) präzisiert wird, hat sich eine Person, welche Leistungen aufgrund des Gesetzes beansprucht, beim Arbeitgeber oder bei der zuständigen Familienausgleichskasse anzumelden und die nötigen Nachweise zu erbringen. Wer Familienzulagen nicht bezogen hat, kann den ihm zustehenden Betrag nachfordern (§ 14 Abs. 1 FZG). Die Nachforderung ist auf die letzten zwei Jahre vor der Geltendmachung des Anspruchs beschränkt (§ 14 Abs. 2 FZG).
3.2 Für ein Kind wird höchstens eine volle Zulage nach diesem Gesetz ausgerichtet (§ 11 FZG). Erfüllen mehrere Beschäftigte gleichzeitig die Voraussetzungen dieses Gesetzes zum Bezug von insgesamt mehr als einer vollen Familienzulage für das gleiche Kind, wird gemäss § 12a Abs. 3 FZG bei ungleich hohem Anspruch eine ungekürzte Familienzulage in nachstehender Reihenfolge ausgerichtet an: a) Die Person, unter deren Obhut das Kind steht; b) Die Person mit dem höheren Anspruch, wenn das Kind unter gemeinsamer Obhut der Beschäftigten steht; c) Die Person, die überwiegend für den Unterhalt des Kindes aufkommt. Die konkurrierende Zulage wird gemäss § 11 begrenzt.
4.
4.1 Die erwähnte Regelung sieht für den Fall, dass beide Elternteile Anspruch auf eine Kinderzulage geltend machen können - was hier unbestrittenermassen zutrifft -, eine Prioritätenordnung vor. Danach steht der Anspruch, wie in der Beschwerdeschrift grundsätzlich mit Recht dargelegt wird, in erster Linie der Person zu, unter deren Obhut das Kind steht (§ 12a Abs. 3 lit. a FZG). Die betragsmässige Begrenzung auf insgesamt eine ganze Zulage wird durch eine Kürzung der Zulage des anderen Elternteils erreicht (§ 12a Abs. 3 am Ende FZG). Diese Regelung kommt, wie der Überschrift vor § 12a FZG ("Anspruchskonkurrenz") zu entnehmen ist, dann zum Zuge, wenn zwei konkurrierende Ansprüche in Frage stehen. Das kantonale Gericht hat das Vorliegen einer derartigen Anspruchskonkurrenz mit der Argumentation verneint, gemäss § 12a Abs. 3 am Ende in Verbindung mit § 11 FZG sei der gesamthafte Anspruch beider Elternteile auf eine volle Zulage beschränkt. Da der Ehemann bereits eine Zulage in diesem vollen Betrag bezogen habe, sei eine weitere Zahlung an die Beschwerdeführerin ausgeschlossen. Auch der Hinweis auf § 14 FZG, wonach nicht bezogene Familienzulagen bis zwei Jahre vor Geltendmachung des Anspruchs nachgefordert werden könnten, gehe fehl. Diese Bestimmung setze voraus, dass für den gleichen Zeitraum nicht zwei Personen unabhängig voneinander für das gleiche Kind Familienzulagen beziehen könnten.
4.2 Aus der im zitierten § 6 FZV statuierten Obliegenheit der berechtigten Person, den Anspruch anzumelden, kann im Rahmen vertretbarer Auslegung abgeleitet werden, eine Anspruchskonkurrenz im Sinne des FZG liege so lange nicht vor, als nur ein Elternteil diese Anmeldung vorgenommen hat und diesem eine Zulage ausgerichtet wird. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die Familienzulagen einen teilweisen Ausgleich der Familienlasten bezwecken (§ 1 Abs. 1 FZG). Dieser Zweck wird durch eine laufend ausgerichtete Leistung besser erreicht als mit einer Nachzahlung (vgl. BGE 121 V 195 E. 5c S. 200 f.). Unter diesem Aspekt sowie mit Blick auf die Grundsätze der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit erscheint es als wenig wahrscheinlich, dass der kantonale Gesetzgeber die Familienausgleichskasse verpflichten wollte, nach bereits erfolgter Auszahlung einer vollen Zulage an den einen Elternteil für dasselbe Kind nochmals (gemäss § 14 FZG) rückwirkend für bis zu zwei Jahre die volle Zulage auszuzahlen, sobald sich der andere, nach der Prioritätenordnung von § 12a Abs. 3 lit. a FZG vorrangige Elternteil anmeldet, und anschliessend die bereits ausgerichteten Zulagen mit dem entsprechenden Inkassoaufwand und -risiko beim anderen Elternteil wieder zurückzufordern. Es ist daher zumindest nicht willkürlich, wenn das kantonale Gericht, um diese Rechtsfolge zu vermeiden, dem Grundsatz, wonach nur eine volle Zulage ausgerichtet wird (§ 11 sowie § 12a Abs. 3 letzter Satz FZG), gegenüber dem Nachzahlungsanspruch gemäss § 14 FZG den Vorrang einräumt. Bezogen auf die Zeit bis zur Anmeldung vom 25. April 2005 hat die Vorinstanz daher einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ausbildungszulagen in bundesrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint.
5.
Zu prüfen bleibt der Anspruch für die Zeit zwischen dem Eingang der Anmeldung am 25. April 2005 und dem 30. Juni 2005.
5.1 Die vorinstanzliche Argumentation, es sei bereits die volle Zulage an den Kindsvater ausbezahlt worden und dies schliesse einen zusätzlichen Anspruch der Beschwerdeführerin aus, kann in diesem Zusammenhang nicht ohne weiteres überzeugen, da die Auszahlungen erst nach der Anmeldung erfolgten. Weil nunmehr zwei gültige Anmeldungen vorlagen, ist eine echte Anspruchskonkurrenz gegeben.
5.2 Nach Lage der Akten lebt die Tochter N.________ in der Obhut der Beschwerdeführerin. Deren Anspruch geht somit gemäss der in Art. 12a Abs. 3 FZG statuierten Prioritätenordnung demjenigen des Vaters vor. Nach dem Eingang der Anmeldung hatte die Familienausgleichskasse daher grundsätzlich der Beschwerdeführerin die Zulage auszurichten und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass keine Zulagen für dasselbe Kind an eine andere Person ausbezahlt werden. Um sich die entsprechenden Informationen beschaffen zu können, ist die Verwaltung auf Angaben der Personen angewiesen, welche einen Anspruch geltend machen. Dementsprechend hält § 33 Abs. 1 FZG fest, Personen, die Anspruch auf Familienzulagen erheben, seien verpflichtet, den Kassenorganen die zur Durchführung des Gesetzes erforderlichen Auskünfte unentgeltlich und wahrheitsgetreu zu erteilen.
5.3 Im Formular für die Anmeldung wird unter anderem die Frage gestellt, ob eine andere Person für das aufgeführte Kind bereits eine Zulage beziehe. Die Beschwerdeführerin beantwortete diese Frage mit "Nein". Diese Antwort war unzutreffend. Vielmehr bezog Z.________, der Vater von N.________, für diese bis und mit Juni 2005 eine volle Ausbildungszulage. Die im vorinstanzlichen Verfahren erhobene Behauptung der Beschwerdeführerin, ihr sei dies nicht bekannt gewesen, vermag nicht zu überzeugen. Aus den Akten geht hervor, dass die Tochter N.________ (geboren 1983) im Januar 2005 einen Vorbereitungskurs an der Hochschule aufnahm. In diesem Zusammenhang entbrannte ein Streit über die Unterhaltspflicht des Vaters. Erst im Verlauf dieses Streits meldete die Beschwerdeführerin ihren Anspruch auf Ausbildungszulagen bei der Familienausgleichskasse an. Unter diesen Umständen ist nicht glaubhaft, dass sie angenommen hätte, der Kindsvater habe bisher keine Zulagen bezogen. Vielmehr erscheint als überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin den ihr bekannten Bezug durch Z.________ bewusst verschwiegen hat. Dadurch bewirkte sie, dass die Familienausgleichskasse Z.________ auch während der Monate Mai und Juni weiterhin Zulagen ausrichtete. Die behauptete Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes liegt nicht vor, denn angesichts der klaren und vorbehaltlosen Verneinung der auf dem Antragsformular gestellten Frage hatte die Verwaltung keinen Anlass, zusätzliche Abklärungen zu tätigen. Durch das vorschriftswidrige (§ 33 FZG) Verhalten der Beschwerdeführerin entstand somit eine Konstellation, welche sich mit derjenigen vor ihrer Anmeldung zum Leistungsbezug (E. 4 hiervor) vergleichen lässt. Es verstösst daher nicht gegen Bundesrecht, wenn Verwaltung und Vorinstanz für die Zeit der doppelten Auszahlung nicht den Anspruch des Vaters, sondern jenen der Beschwerdeführerin verneint haben.
6.
Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Frage, ob der Vater die ihm ausgerichtete Zulage an die Beschwerdeführerin oder deren Tochter weiterleiten muss respektive wie sich diese zum vereinbarten Unterhaltsbetrag verhält. Dasselbe gilt für eine allfällige Rückerstattungspflicht der Beschwerdeführerin.
7.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin als der unterliegenden Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 64 BGG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Rechtsanwalt Viktor Rüegg, Kriens, wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 19. Juni 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Ursprung Flückiger