BGer 4C.16/2003
 
BGer 4C.16/2003 vom 24.06.2003
Tribunale federale
{T 0/2}
4C.16/2003 /rnd
Sitzung vom 24. Juni 2003
I. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Walter, Bundesrichterinnen Klett und Rottenberg Liatowitsch, Bundesrichter Nyffeler.
Gerichtsschreiberin Schoder.
Parteien
X.________ AG,
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwältin Rahel Bächtold, Grüngasse 31, Postfach 1138, 8026 Zürich,
gegen
A.________,
Beklagten und Berufungsbeklagten, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Würgler, Merkurstrasse 25, 8400 Winterthur.
Gegenstand
Arbeitsvertrag,
Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. August 2002.
Sachverhalt:
A.
A.________ (nachfolgend: der Beklagte) war in der Zeitspanne vom 15. Oktober 1992 bis 31. März 2000 bei der X.________ AG (nachfolgend: die Klägerin) tätig. Zu seinen Aufgaben gehörte die Mitarbeit bei der technischen Entwicklung von Produkten. So war der Beklagte an der im Februar 1996 lancierten Entwicklung des Projekts "Y.________" beteiligt. Es handelte sich dabei um die Entwicklung einer neuen Strassenkappe und um die Herstellung eines Drehwerkzeuges, mit welchem die Strassenkappe bewegt werden kann. Ende 1999 liess die Klägerin eine Serie von 110 Drehwerkzeugen anfertigen.
Anlässlich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses per Ende März 2000 schlossen die Parteien am 28. März 2000 eine Vereinbarung, wonach die Klägerin die Kosten für eine vom Beklagten zu bezahlende Reparatur des Geschäftsautos übernahm und der Beklagte im Gegenzug auf den pro-rata-Bonus für das Jahr 2000 verzichtete. Zudem vereinbarten die Parteien, dass sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis mit Vollzug der Vereinbarung per Saldo ausgeglichen seien.
Gemäss den Behauptungen der Klägerin soll es im Herbst 2000 zu Reklamationen wegen der Verformung von Drehwerkzeugen gekommen sein. Ein Test soll ergeben haben, dass die Kraft zweier Männer bei genügend Drehwiderstand ausreiche, um die Teleskop-Rohre der Drehwerkzeuge zu verbiegen. Dieser Mangel führte die Klägerin darauf zurück, dass der Beklagte bei der Erstellung der Werkstattzeichnungen für die Rohre der Drehwerkzeuge von den Berechnungen des Ingenieurs eigenmächtig abgewichen sei. In der Folge verlangte die Klägerin vom Beklagten Schadenersatz.
B.
Mit Klage vom 21. April 2001 beantragte die Klägerin beim Bezirksgericht Weinfelden, der Beklagte sei zu verpflichten, ihr Fr. 27'522.-- nebst Zins zu bezahlen. Mit Urteil vom 9./28. Februar 2002 wies die bezirksgerichtliche Kommission des Bezirksgerichts Weinfelden die Klage ab. Dagegen erhob die Klägerin Berufung, welche das Obergericht des Kantons Thurgau mit Urteil vom 15. August 2002 abwies.
C.
Die Klägerin ficht das Urteil des Obergerichts sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde als auch mit Berufung an. Mit Berufung beantragt sie die Aufhebung des Urteils und die Gutheissung der Klage entspre- chend den im kantonalen Verfahren gestellten Anträgen, eventuell die Rückweisung der Streitsache an die Vorinstanz zur Durchführung eines Beweisverfahrens. Der Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf eingetreten wird.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das angefochtene Urteil beruht auf zwei selbständigen Begründungen, deren beide die Klägerin sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde als auch mit Berufung angefochten hat. Im Verlauf der heutigen Beratung hat das Bundesgericht festgestellt, dass die Hauptbegründung verfassungswidrig ist. Es setzt deshalb das Beschwerdeverfahren aus und prüft im Verfahren der Berufung, ob sich das angefochtene Urteil auf die Nebenbegründung stützen kann. Trifft dies zu, ist auf die Be- schwerde mangels eines aktuellen, praktischen Interesses (Art. 88 OG) nicht einzutreten. Andernfalls ist die Beschwerde gutzuheissen und die Berufung, da das Anfechtungsobjekt wegfällt, als gegen- standslos abzuschreiben (BGE 86 I 224 S. 226).
2.
2.1 Das Obergericht hält dafür, dass die Klägerin mit der Durchführung einer Kontrolle des Prototyps den Produktefehler vor der Bestellung der Serie der Drehwerkzeuge hätte erkennen und den Eintritt des Schadens hätte verhindern können. Die Unterlassung dieser Kontrolle stelle ein Selbstverschulden dar und vermöge ein angebliches Fehlverhalten des Beklagten aufzuwiegen. Die Klägerin bringt dagegen vor, das Bundesrecht statuiere keine allgemeine Pflicht zur Kontrolle neuer Produkte vor der Bestellung einer Serie des neuen Produktes. Ausserdem habe die Vorinstanz Art. 321e OR falsch angewendet, indem sie, ohne die tatsächlichen Umstände abgeklärt zu haben, im Fehlverhalten des Beklagten die Verwirklichung eines der Entwicklung neuer Pro- dukte immanenten Berufsrisikos erblickt.
2.2 Nach Art. 321e ist der Arbeitnehmer für den Schaden verantwortlich, den er absichtlich oder fahrlässig dem Arbeitgeber zufügt (Abs. 1). Das Mass der Sorgfalt, für die der Arbeitnehmer einzustehen hat, bestimmt sich nach dem einzelnen Arbeitsverhältnis, unter Berücksichtigung des Berufsrisikos, des Bildungsgrades oder der Fachkenntnisse, die zu der Arbeit verlangt werden, sowie der Fähigkeiten und Eigenschaften des Arbeitnehmers, die der Arbeitgeber gekannt hat oder hätte kennen sollen (Abs. 2). In der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 321e OR ist das Bundesgericht stets davon ausgegangen, dass nicht nur für den Grundsatz, sondern auch für den Umfang der Schadenersatzpflicht des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 321e OR sämtliche Umstände, insbesondere Betriebsrisiko, Entlöhnung und Verschulden des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind (BGE 123 III 257 E. 5a S. 258f.; 110 II 344 E. 6b S. 349; vgl. auch BGE 127 III 357 E. 1b und 1c S. 359f.).
In der arbeitsrechtlichen Literatur ist allgemein anerkannt, dass der Schadenersatzanspruch des Arbeitgebers herabgesetzt oder gar ausgeschlossen werden kann, wenn dieser den fehlbaren Arbeitnehmer ungenügend kontrolliert (Staehelin/Vischer, Zürcher Kommentar, N 30 zu Art. 321e OR; Brühwiler, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, N 13 zu Art. 321e OR; Streiff/von Kaenel, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, N 3 zu Art. 321e OR). Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Schadenersatzpflicht des Arbeitnehmers stets entfällt, wenn dessen geeignete Überwachung durch den Arbeitgeber den Eintritt des Schadens hätte verhindern können.
Auszugehen ist vom Grundsatz, dass kein Anspruch des Schuldners besteht, in der Vertragserfüllung vom Gläubiger überwacht zu werden. Dieser aus dem Werkvertragsrecht (Gauch, Der Werkvertrag, 4. Aufl., N 1346f. und 2057f.) bekannte Grundsatz gilt auch für den Arbeitsvertrag. Wer schlecht erfüllt, kann sich daher nicht mit dem Einwand entlasten, die Erfüllung sei nicht hinreichend überwacht worden. Die im Aussenverhältnis haftungsbegründende Verletzung der cura in custodiendo (BGE 110 II 456 E. 2b S. 461) wirkt sich im Innenverhältnis nicht unbesehen in die gleiche Richtung aus.
Die über die blosse Betriebsüberwachung hinausgehende Kontrolle der Arbeitsleistung wird rechtlich erst relevant, wenn Anzeichen bestehen, dass das Risiko einer Schlechterfüllung sich verwirklicht. Nach der Rechtsprechung gereicht die fehlende Überwachung des Arbeitneh- mers dem Arbeitgeber nur dann zum Selbstverschulden, wenn aufgrund der Qualifikationen, der bisherigen Leistungen des Arbeitnehmers oder wegen anderer Umstände im besonderen Fall Grund zur Annahme besteht, der Arbeitnehmer könne seine vertraglichen Pflichten nicht ordnungsgemäss erfüllen (vgl. Urteil des Obergerichts des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 29.7.1992, publ. in: JAR 1994 S. 135f.; Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 26.2.1987, E. 7, publ. in: JAR 1988 S. 304ff.; Urteil der Chambre d'appel des prud' hommes de Genève vom 24.7.1986, E. 6, publ. in: JAR 1987 S. 167ff.).
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und in Übereinstimmung mit Lehre und Praxis hebt ein das Verschulden des Arbeitnehmers aufwiegendes Verschulden des Arbeitgebers dessen Schadenersatzanspruch aber nicht gänzlich auf, sondern schmälert ihn nur (statt vieler Brehm, Berner Kommentar, N 20 zu Art. 44 OR). Auch bei Hilfskräften, welche zu wenig ausgebildet und nur unzureichend instruiert worden waren, wurde jeweils nur eine - wenn auch unter Umständen massive - Reduktion, nicht aber eine vollständige Haftungsbefreiung gewährt (Urteil des Bundesgerichts 4C.207/1988 vom 16. November 1988).
Indessen entfällt die Haftung gänzlich, wenn der Arbeitgeber die schadensstiftende Handlung anordnet, genehmigt oder widerspruchslos duldet (Staehelin/Vischer, a.a.O., N 28 zu Art. 321e OR; Brühwiler, a.a.O., N 13 zu Art. 321e OR; Streiff/von Kaenel, a.a.O., N 3 zu Art. 321e OR). In einem solchen Fall liegt eine Einwilligung des Arbeitge- bers in die schädigende Handlung des Arbeitnehmers vor.
Eine abschliessende Beurteilung über Grundsatz und Umfang der Haftung des Arbeitnehmers muss sich auf Fakten stützen können, die dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen sind. So fehlen tatsächliche Feststellungen zum Überwachungsbedarf des Beklagten, was sich namentlich aus dessen Pflichtenheft und dessen Qualifikationen ergibt, und zu den weiteren Umständen, welche die Klägerin zur Kontrolle des Prototyps des Drehwerkzeugs hätten veranlassen sollen.
Auch ist die Frage offen, ob vorliegend die Überwachung des Arbeitsergebnisses der Branchenüblichkeit entspricht, weil es sich bei der Klägerin um eine auf die Produkteentwicklung spezialisierte Unternehmung handelt und der Beklagte deshalb darauf vertraute, dass die Klägerin den Prototyp vor der Bestellung einer Serie von Drehwerk- zeugen testen würde.
Weiter ist nicht geklärt, ob die Klägerin um die Abweichungen von den Ingenieurplänen wusste und diese duldete oder ob der Beklagte gar die Änderungen der Ingenieurpläne mit den massgebenden Personen der Arbeitgeberin besprach und von diesen die Genehmigung zur Abänderung der Pläne erhielt, wobei der Beklagte hiefür die Beweislast trägt. Die Darstellungen der Parteien widersprechen sich in dieser Hinsicht diametral.
Die Vorinstanz spricht sich ebenfalls nicht darüber aus, ob eine Ausführung nach den vorgelegten Ingenieurplänen zu einem brauch- baren Resultat geführt hätte. Ebenso bleibt offen, ob dabei die Kosten wegen der notwendigen Spezialanfertigung der Rohre ins Unermessliche gestiegen wären, wie der Beklagte behauptet. Ferner ist nicht geklärt, ob die Klägerin dem Beklagten verbot, mit dem Ingenieurbüro über die Berechnungen Rücksprache zu halten, weil sie die Rechnungen des Ingenieurbüros als zu hoch betrachtete.
3.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Nebenbegründung des angefochtenen Urteils vor Bundesrecht nicht standhält, weil die darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen nicht ausreichen, um die richtige Anwendung des Bundesrechts zu prüfen (vgl. Art. 64 OG). In Anbetracht dieser Sachlage wird das Bundesgericht mit Urteil 4P.10/2003 vom heutigen Tag die staatsrechtliche Beschwerde gutheissen und das angefochtene Urteil aufheben. Damit entfällt das Anfechtungsobjekt der Berufung, weshalb diese als gegenstandslos abzuschreiben ist (Art. 72 BZP i.V.m. Art. 40 OG).
Bei Gegenstandslosigkeit des einen von zwei in der gleichen Sache eingelegten Rechtsmitteln wird grundsätzlich diejenige Partei, welche das Rechtsmittel ergriffen hat, kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 6 OG; Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechts- mittel in Zivilsachen, Rz. 27, S. 36f.). Da es sich vorliegend um eine arbeitsrechtliche Streitsache handelt, ist gemäss Art. 343 Abs. 3 OR keine Gerichtsgebühr zu erheben. In Anbetracht dessen, dass das angefochtene Urteil auf zwei selbständigen Begründungen beruht und die Klägerin beide Begründungen mit dem jeweils richtigen Rechtsmittel anfechten musste (BGE 115 II 300 E. 2a S. 302), verursachte sie keine unnötigen Kosten (vgl. Art. 156 Abs. 6 OG). Dem mutmasslichen Verfahrensausgang in der Berufung entsprechend rechtfertigt es sich, den Beklagten zu verpflichten, die anwaltlich vertretene Klägerin zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Berufung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
2.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.
3.
Der Beklagte hat die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, den 24. Juni 2003
Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: