BGer I 613/2002
 
BGer I 613/2002 vom 10.03.2003
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 613/02
Urteil vom 10. März 2003
III. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiberin Amstutz
Parteien
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdeführerin,
gegen
P.________, 1961, Beschwerdegegner, vertreten durch den Procap Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 11. Juni 2002)
Sachverhalt:
A.
Mit zwei separaten Verfügungen vom 26. Februar 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau den Anspruch des 1961 geborenen, seit einem Bandscheibenvorfall im August 1998 in seiner bisherigen, selbstständigerwerbend ausgeübten Tätigkeit als Landschaftsgärtner nur noch eingeschränkt einsatzfähigen P.________ auf berufliche Eingliederungsmassnahmen (Umschulung) sowie eine Invalidenrente ab (Invaliditätsgrad 32 %).
B.
In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerden hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die beiden Verfügungen vom 26. Februar 2002 unter Vereinigung beider Verfahren ab und wies die Streitsache zwecks Durchführung zusätzlicher medizinischer Abklärungen und Neubeurteilung der Leistungsansprüche an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 11. Juni 2002).
C.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau führt Verwaltungsgerichtsbe-schwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Ent-scheids.
P.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig ist der Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen sowie eine Invalidenrente, insbesondere die Frage, ob die Beschwer-führerin den anspruchserheblichen Sachverhalt hinreichend abgeklärt hat.
1.1 Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und auf Umschulung im Besonderen (Art. 8 Abs. 3 lit. b in Verbindung mit Art. 17 IVG; vgl. BGE 124 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen; AHI 2002 S. 106 Erw. 2a, 2000 S. 62, Erw. 1), die Voraussetzungen und den Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) sowie die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG in der hier anwendbaren, bis zum 31. Dezember 2002 [In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG, am 1. Januar 2003] gültig gewesenen Bestimmung [BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b]; BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und b) richtig wiedergegeben. Zutreffend dargelegt hat das kantonale Gericht sodann die Rechtsprechung zur Bedeutung (BGE 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1) und zum Beweiswert (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c, je mit Hinweisen) ärztlicher Berichte und Gutachten im Rahmen der Invaliditätsbemessung. Darauf wird verwiesen.
1.2 Führen die von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen die Verwaltung oder das Gericht bei pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so ist auf die Abnahme weiterer Beweise zu verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; Kieser, Das Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung, S. 212, Rz 450; Kölz/Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., S. 39, Rz 111 und S. 117, Rz 320; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 274; vgl. auch BGE 122 II 469 Erw. 4a, 122 III 223 Erw. 3c, 120 Ib 229 Erw. 2b, 119 V 344 Erw. 3c mit Hinweis). In einem solchen Vorgehen liegt kein Verstoss gegen das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d mit Hinweis).
2.
2.1 Nach Lage der Akten steht fest, dass der Beschwerdegegner in seinem angestammten Beruf als Landschaftsgärtner aufgrund eines chronifizierten lumboradikulären Schmerz- und sensomotorischen Ausfallsyndroms L4 links bei Status nach Diskushernieoperation L4/L5 sowie belastungsabhängiger Rückenschmerzen, wenn überhaupt, zu maximal 50 % arbeitsfähig ist, sofern das Heben von Lasten über 15 kg vermieden wird. Die Frage der (Rest-) Arbeitsfähigkeit in einer anderweitigen, leidensangepassten Tätigkeit lässt sich nach Auffassung des kantonalen Gerichts aufgrund der als widersprüchlich beurteilten medizinischen Aktenlage nicht schlüssig beantworten und bedarf daher - ebenso wie Möglichkeit und voraussichtlicher Erfolg beruflicher Eingliederungsmassnahmen - zusätzlicher Abklärungen. Die Beschwer-deführerin bestreitet die unvollständige Sachverhaltsermittlung im We-sentlichen mit der Begründung, "Restunschärfen" in den verfügbaren ärztlichen Einschätzungen zur verbleibenden Arbeitsfähigkeit minder-ten, da sachimmanent, die Beweistauglichkeit der Arztberichte nicht; sie seien aller Voraussicht nach auch durch zusätzliche Beweisvorkehren nicht auszuräumen.
2.2 Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass den ärztlichen Stellungnahmen zur Arbeits(un)fähigkeit und den Darlegungen zu der einer versicherten Person aus medizinischer Sicht noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit naturgemäss Ermessenszüge eignen, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht namentlich mit Blick auf die unter die Kategorie der psychischen Leiden fallenden (oft depressiv überlagerten) Schmerzverarbeitungsstörungen hervorgehoben hat (siehe etwa Urteile R. vom 2. Dezember 2002 [I 53/02] Erw. 2.2, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/00] Erw. 1c, S. vom 2. März 2001 [I 650/99] Erw. 2c, B. vom 8. Februar 2001 [I 529/00] Erw. 3c und A. vom 19. Oktober 2000 [I 410/00] Erw. 2b). Ein Arztbericht entbehrt mithin nicht von vornherein der Beweistauglichkeit, wenn der (immanente) Schätzungscharakter des ärztlich attestierten Arbeits(un)fähigkeitsgrades mit relativierenden Worten wie "ungefähr" oder "etwa" zum Ausdruck gebracht wird. Im Lichte des unter Erw. 1.2. hievor Gesagten darf darauf indes nur dann abgestellt werden, wenn - in Gesamtwürdigung der medizinischen Aktenlage - anzunehmen ist, dass die von medizinischer Seite als zumutbar erachtete (Rest-) Arbeitsfähigkeit nicht nur möglicherweise, sondern mit überwiegender Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht (vgl. BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen). Diese Schlussfolgerung lassen die verfügbaren Arztberichte im hier zu beurteilenden Fall nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz nicht zu. Wenn der Hausarzt Dr. med. H.________, im Bericht vom 8. Januar 2002 von einer Einsatzfähigkeit in wechselbelastenden, leichteren Tätigkeiten von "ca. 6 bis 7" Stunden täglich spricht (was bei einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit im Jahre 2002 von 41, 8 Stunden einem Arbeitsfähigkeitsgrad von rund 78 % entspricht) bzw. feststellte, selbst bei leichterer Arbeit wäre eine zeitliche Einschränkung "wahrscheinlich nötig", Dr. med. K.________, demgegenüber zu einem früheren Zeitpunkt ein Leistungsvermögen von "wahrscheinlich" neun Stunden pro Tag angenommen hat (Bericht vom 5. November 1999) und Dr. med. L.________, Oberarzt an der Neurochirurgischen Klinik des Spitals X.________, schliesslich am 26. Oktober 1999 den Beschwerdegegner in leidensadaptierter Tätigkeit "unter Umständen bis 100 %" arbeitsfähig einstufte (und später - ohne Hinweis auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustands seit Verfügungserlass - eine verbleibende "Arbeitsfähigkeit von mindestens 50 %" attestierte), so handelt es sich hierbei nicht mehr um "Restunschärfen", wie die Beschwerdeführerin behauptet. Vielmehr überwiegt in den erwähnten Stellungnahmen der spekulative Charakter in einem Masse, dass sich die Annahme einer 100 %-igen Arbeitsfähigkeit in leidensangepasster Tätigkeit bei gesamthafter Betrachtung nicht mehr unter Hinweis auf den Ermessensanteil einer jeden ärztlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit rechtfertigen lässt. Vor diesem Hintergrund hat die Vorinstanz zu Recht zusätzliche Beweisvorkehren als angezeigt erachtet.
An diesem Ergebnis vermögen die Vorbringen in der Verwaltungsge-richtsbeschwerde nichts zu ändern. Nicht stichhaltig ist insbesondere das Argument der Beschwerdeführerin, die mit der Annahme eines 100 %igen Leistungsvermögens in leidensangepasster Tätigkeit verbleibenden Unstimmigkeiten liessen sich bei der Invaliditätsbemessung durch Gewährung eines sog. leidensbedingten Abzugs vom trotz Gesundheitsschadens zumutbarerweise erzielbaren Einkommen (Invali-deneinkommen) in der maximal zulässigen Höhe von 25 % (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5; AHI 2002, S, 67 ff. Erw. 4 mit Hinweisen) hinreichend kompensieren. Die Funktion des leidensbedingten Abzugs liegt in ers-ter Linie darin, im Rahmen des Einkommensvergleichs (Erw. 1.1 hie-vor) statistische Verzerrungen zu beheben, die sich im Einzelfall zufol-ge Abstellens auf tabellarische, individuell-lohnrelevante Faktoren ausklammernde Durchschnittslöhne ergeben können. Die Möglichkeit eines entsprechenden Abzugs entlastet hingegen die IV-Stelle nicht davon, den Grad der Arbeitsfähigkeit als einem selbstständigen und entscheidenden Element des rechtserheblichen Sachverhalts zuver-lässig und schlüssig abzuklären.
2.3 Der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid hält auch insoweit stand, als er die Verwaltung zu näheren Sachverhaltsabklärungen be-züglich des - dem Rentenanspruch grundsätzlich vorangehenden ("Eingliederung vor Rente"; BGE 126 V 241, 121 V 190, 116 V 92) - Anspruchs auf berufliche Eingliederungsmassnahmen anhält. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, der Versicherte sei nicht einglie-derungswillig und es mangle ihm im Übrigen an den nötigen persönlichen Voraussetzungen für eine Umschulung, ist aufgrund der Akten-lage nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Namentlich geben die ver-fügbaren Unterlagen nicht hinreichend Aufschluss darüber, aus welchen Gründen die (einzige) von der IV-Stelle veranlasste ambulante berufliche Abklärung nach kurzer Zeit eingestellt wurde, liegen doch hierzu widersprüchliche Aussagen vor. Nachdem unbestritten ist, dass die für einen Umschulungsanspruch praxisgemäss erforderliche Erheblichkeitsschwelle (Erwerbseinbusse von mindestens 20 %; BGE 124 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen) im Falle des Beschwerdegegners jedenfalls erreicht ist und er vor Eintritt der Invalidität als selbstständigerwerbender Landschaftsgärtner durchaus in der Lage war, ein ökonomisch relevantes, bisweilen sogar beachtliches Einkommen zu erzielen (vgl. BGE 118 V 14 Erw. 1c/cc; AHI 2000 S. 191 Erw. 2b/aa), drängt sich mit Blick auf allfällige berufliche Massnahmen eine zu-sätzliche Abklärung auf.
3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdegegner Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle des Kantons Aarau hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 800.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 10. März 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: