BGer I 613/2000
 
BGer I 613/2000 vom 09.05.2001
[AZA 7]
I 613/00 Gb
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
Gerichtsschreiber Flückiger
Urteil vom 9. Mai 2001
in Sachen
W.________, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Wildhainweg 19, 3012 Bern,
gegen
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
A.- Mit Verfügung vom 29. April 1999 lehnte die IV-Stelle Bern das Begehren des 1952 geborenen W.________ um Zusprechung einer Invalidenrente ab.
B.- In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die angefochtene Verfügung auf und sprach W.________ mit Wirkung ab August 1997 eine halbe Rente zu (Entscheid vom 12. September 2000). Gleichzeitig wies es einen Antrag des Versicherten, das Verfahren sei bis zum Vorliegen der Ergebnisse einer neuropsychologischen Abklärung zu sistieren, ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt W.________ das Rechtsbegehren stellen, der Entscheid vom 12. September 2000 sei "insofern aufzuheben, als die im Herbst 2000 neu erhobenen Befunde nicht berücksichtigt wurden und es sei die Angelegenheit zur neuen Beurteilung zurückzuweisen - unter Entschädigungsfolge".
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lassen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Nach Art. 103 lit. a in Verbindung mit Art. 132 OG ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat.
b) In der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift vom 3. Juni 1999 stellte der Versicherte das Rechtsbegehren, ihm sei für die Zeit ab 1. August 1997 eine halbe Rente zuzusprechen. Mit Schreiben vom 16. August 2000 reichte er neue Beweismittel ein und beantragte, das Verfahren sei bis zum Abschluss weiterer Abklärungen, die angesichts der neuen Erkenntnisse notwendig seien, zu sistieren. Dieser Antrag umfasste sinngemäss auch den Vorbehalt einer Anpassung des Rechtsbegehrens nach dem Vorliegen der Ergebnisse der zusätzlichen Abklärungen. Das in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellte Rechtsbegehren ist in gleicher Weise zu verstehen. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb einzutreten, auch wenn die Vorinstanz dem ursprünglich gestellten Antrag auf Zusprechung einer halben Rente ab
1. August 1997 entsprochen hat (SVR 1998 AlV Nr. 15 S. 43 Erw. 2b).
2.- Die Vorinstanz hat die vorliegend relevanten Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG) und die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt.
Darauf kann verwiesen werden. Richtig sind auch die Ausführungen zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin bei der Festlegung des Invaliditätsgrades und über die dabei den ärztlichen Stellungnahmen zur Arbeitsfähigkeit zukommende Bedeutung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1).
3.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zu Recht über die Beschwerde entschieden hat, ohne die Ergebnisse einer noch ausstehenden neuropsychologischen Abklärung zu kennen, respektive ob der massgebliche Sachverhalt in diesem Sinne nicht hinreichend geklärt ist.
4.- a) Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts,
4. Aufl. , Bern 1984, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter und die Richterin haben vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 125 V 195 Erw. 2, 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b mit Hinweis).
b) Führen die von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen die Verwaltung oder das Gericht bei pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so ist auf die Abnahme weiterer Beweise zu verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; Kieser, Das Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung, S. 212, Rz 450; Kölz/Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl. , S. 39, Rz 111 und S. 117, Rz 320; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege,
2. Auflage, S. 274; vgl. auch BGE 122 II 469 Erw. 4a, 122 III 223 Erw. 3c, 120 Ib 229 Erw. 2b, 119 V 344 Erw. 3c mit Hinweis). In einem solchen Vorgehen liegt kein Verstoss gegen das rechtliche Gehör gemäss Art. 4 Abs. 1 BV (BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d mit Hinweis).
5.- a) Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 135 OG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG; Art. 85 Abs. 2 lit. c AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG; Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 229). Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgerichte die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege,
2. Auflage, S. 278). Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass das Sozialversicherungsgericht alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist also entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten oder der Expertin begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis).
b) Die Rechtsprechung hat es mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 125 V 352 Erw. 3b). Hinsichtlich der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten externer Spezialärzte durch die IV-Stellen gelten sinngemäss die im Bereich der Unfallversicherung massgebenden Grundsätze (Urteil A. vom 9. August 2000, I 437/99). Den entsprechenden Expertisen ist demnach bei der Beweiswürdigung volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens sprechen, welches auf Grund eingehender Beobachtung und Untersuchung sowie nach Einsicht in die Akten erstattet wurde und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangte (BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb).
6.- a) Die Vorinstanz führt in ihrem Entscheid vom 12. September 2000 aus, gemäss dem Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________, vom 16. Oktober 1998 sei der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Erwerbstätigkeit noch zu 50 % arbeitsfähig. Dieses Ergebnis sei unter den Parteien unbestritten, und auch seitens des Gerichts seien keine Gründe dafür ersichtlich, weshalb nicht darauf abzustellen wäre. Eine Beurteilung des Falles sei auch ohne zusätzliche Massnahmen möglich. Falls die bereits eingeleiteten medizinischen Untersuchungen weitere für den Rentenanspruch wesentliche Erkenntnisse bringen sollten, stehe es dem Beschwerdeführer frei, bei der IV-Stelle ein Revisionsgesuch zu stellen.
b) Mit Schreiben vom 16. August 2000 liess der Beschwerdeführer dem Verwaltungsgericht eine ärztliche Stellungnahme des Dr. med. L.________, Spezialarzt für Innere Medizin, speziell Kardiologie FMH, vom 9. August 2000 (mit beigelegtem Befundbericht des Röntgeninstituts/MR-Zentrums B.________ vom 20. Juli 2000) einreichen. Dr. med.
L.________ erklärt, die anlässlich einer Magnetresonanz-Untersuchung von Hirn, Kleinhirn und Hirnstamm vom 20. Juli 2000 erstellten Aufnahmen zeigten sehr ausgeprägte narbige Veränderungen an verschiedenen Stellen des Gross- und Kleinhirns. Offensichtlich habe der Versicherte nicht nur die klinisch typisch symptomatischen cerebrovasculären Insulte von 1991 und 1992 durchgemacht, sondern zusätzlich eine ganze Reihe von cerebrovasculären Ereignissen, die entweder asymptomatisch oder oligosymptomatisch verlaufen seien. Es sei möglich, dass ein grosser Teil der im Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________ vom 16. Oktober 1998 festgestellten Funktionsstörungen auf die cerebrovasculären Veränderungen (Multiinfarktsyndrom) zurückgeführt werden könne. Zur Klärung insbesondere dieser Frage halte er eine ambulante neuropsychologische Abklärung im Spital Y.________ für unbedingt angezeigt.
c) Das Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________ befasst sich mit sämtlichen vom Versicherten geltend gemachten Beschwerden. In Bezug auf das cerebrale Beschwerdebild wird die Vermutung geäussert, 1991 und 1992 habe sich je eine kleine, cerebrale Embolie ereignet. Spezifische Untersuchungen dazu wurden nicht vorgenommen. Festgestellte Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen sowie eine Vergröberung der Affekte führten die Ärzte auf eine Störung durch Alkohol bei ständigem Substanzgebrauch zurück. Falls sich herausstellen sollte, dass die Ursache der Funktionsstörungen in einer Reihe cerebrovasculärer Ereignisse liegt, welche im Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________ nicht berücksichtigt wurden, wäre die Arbeitsfähigkeit möglicherweise anders zu beurteilen. Unter diesen Umständen ist der rechtserhebliche medizinische Sachverhalt durch das Gutachten des Medizinischen Zentrums X.________ nicht abschliessend geklärt. Dieses ist durch eine neuropsychologische Abklärung zu ergänzen. Die Sache ist zu diesem Zweck an die Verwaltung zurückzuweisen. Die von der Vorinstanz erwähnte Möglichkeit, ein Revisionsgesuch zu stellen, ist im Hinblick auf die unzureichende Sachverhaltsabklärung im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids unbehelflich.
7.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Entsprechend dem Prozessausgang hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Bern vom 12. September 2000, soweit nicht die Parteientschädigung
betreffend (Dispositiv Ziff. 3), und die
Verwaltungsverfügung vom 29. April 1999 aufgehoben und
die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen,
damit sie, nach ergänzender Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über den Rentenanspruch des Beschwerdeführers
neu verfüge.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 9. Mai 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: