EuGH Rs. C-182/00, Slg. 2002, S. I-547 - Lutz GmbH u.a.
 
Urteil
des Gerichtshofes (Erste Kammer)
vom 15. Januar 2002
In der Rechtssache
-- C-182/00 --
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Landesgericht Wels (Österreich) in dem bei diesem anhängigen Verfahren über einen Antrag der
Lutz GmbH u.a.
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8), und von Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11)
erlässt
Der Gerichtshof (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter L. Sevon und M. Wathelet (Berichterstatter), Generalanwalt: L. A. Geelhoed Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Lutz GmbH u.a., vertreten durch Rechtsanwalt E. Chalupsky, der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten, der spanischen Regierung, vertreten durch N. Diaz Abad als Bevollmächtigte, der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato, des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. C. Giorgi-Fort und G. Houttuin als Bevollmächtigte, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Patakia als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Lutz GmbH u.a., vertreten durch Rechtsanwalt G. Schmidsberger, der Italienischen Republik, vertreten durch G. De Bellis, des Rates, vertreten durch G. Houttuin, und der Kommission, vertreten durch M. Patakia im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur, in der Sitzung vom 25. Oktober 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. November 2001 folgendes
 
Urteil
1. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht in Registersachen hat mit Beschluss vom 9. Mai 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Mai 2000, gemäß Artikel 234 EG fünf Fragen nach der Gültigkeit von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8, nachfolgend: Erste Gesellschaftsrichtlinie), und von Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11, nachfolgend: Vierte Gesellschaftsrichtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren betreffend die Lutz GmbH u.a. (nachfolgend: Antragsteller) wegen der Einreichung des Jahresabschlusses und eines Lageberichts gemäß dem österreichischen Handelsgesetzbuch (HGB) in der Fassung des EU-Gesellschaftsrechtsänderungsgesetzes (BGBl. 1996/304).
 
Das Gemeinschaftsrecht
3. Nach Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g EG) wirken der Rat und die Kommission auf die Abschaffung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit hin, indem sie soweit erforderlich die Schutzbestimmungen koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 48 Absatz 2 EG) im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten.
4. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Gesellschaftsrichtlinie treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit sich die Pflicht zur Offenlegung hinsichtlich der Gesellschaften auf die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr erstreckt.
5. Nach Artikel 47 der Vierten Gesellschaftsrichtlinie sind der ordnungsgemäß gebilligte Jahresabschluss und der Lagebericht sowie der Bericht der mit der Abschlussprüfung beauftragten Person nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 3 der Ersten Gesellschaftsrichtlinie vorgesehenen Verfahren offenzulegen.
 
Das nationale Recht
6. Für große Kapitalgesellschaften im Sinne von § 221 HGB bestimmt § 277 Absatz 1 HGB:
    "Die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften haben den Jahresabschluss und den Lagebericht nach seiner Behandlung in der Hauptversammlung (Generalversammlung), jedoch spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag, mit dem Bestätigungsvermerk oder den Vermerk über dessen Versagung oder Einschränkung beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Kapitalgesellschaft einzureichen; innerhalb derselben Frist sind der Bericht des Aufsichtsrates, der Vorschlag über die Verwendung des Ergebnisses und der Beschluss über dessen Verwendung einzureichen. Werden zur Wahrung dieser Frist der Jahresabschluss und der Lagebericht ohne die anderen Unterlagen eingereicht, so sind der Bericht und der Vorschlag nach ihrem Vorliegen, die Beschlüsse nach der Beschlussfassung und der Vermerk nach der Erteilung unverzüglich einzureichen. ..."
7. Bei Nichtbefolgung dieser Offenlegungspflicht kann nach § 283 Absatz 1 HGB eine Zwangsstrafe von bis zu 50 000 ATS verhängt werden.
 
Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen
8. Mit Beschluss vom 13. September 1999 gab das Landesgericht Wels als Handelsgericht den Antragstellern unter Androhung einer Zwangsstrafe von 10 000 ATS für jeden von ihnen auf, jeweils binnen vier Wochen den Jahresabschluss und den Lagebericht gemäß den §§ 277 bis 280 HGB einzureichen.
9. Da nach der ständigen Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshofes die Androhung einer Zwangsstrafe wie der im Beschluss vom 13. September 1999 enthaltenen unanfechtbar ist, ersuchten die Antragsteller den österreichischen Verfassungsgerichtshof mit einem Individualantrag um Feststellung, dass die nationalen Bestimmungen über die Offenlegung des Jahresabschlusses und des Lageberichts im Widerspruch zu Grundrechten und zum Gemeinschaftsrecht stehen. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht verlängerte mit Beschluss vom 2. November 1999 die Frist für die Einreichung der geforderten Rechnungslegungsunterlagen bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Mit Beschluss vom 29. November 1999 wies der Verfassungsgerichtshof den Antrag der Antragsteller zurück, da der Vollzug einer Zwangsstrafe bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verpflichtung ausgesetzt werden könne, deren Nichtbeachtung mit der Zwangsstrafe belegt sei.
10. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht hat deshalb dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
    1. Wird durch die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG und Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG vorgesehenen Maßnahmen hinsichtlich der Offenlegungspflicht von Kapitalgesellschaften Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g EG verletzt, welcher zur Koordinierung jenerSchutzbestimmungen ermächtigt, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie der Gläubiger vorgeschrieben sind?
    2. Wird durch die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG und Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG vorgesehenen Maßnahmen hinsichtlich der Offenlegungspflicht von Kapitalgesellschaften Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe g EG dadurch verletzt, dass die Erforderlichkeit im Hinblick auf den Abbau von Niederlassungsbeschränkungen oder zur Verwirklichung sonstiger Ziele des EG-Vertrags (insbesondere die Herstellung einheitlicher rechtlicher Rahmenbedingungen) nicht vorliegt?
    3. Ist es mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, dass Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere - weniger eingriffsintensive - Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?
    4. Ist es mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht auf Eigentum vereinbar, dass Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere - weniger eingriffsintensive - Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?
    5. Ist es mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht auf Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung vereinbar, dass Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f der Ersten Richtlinie 68/15l/EWG in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere - weniger eingriffsintensive - Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?
 
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
11. Nach Artikel 234 Absatz 1 EG entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung u.a. über die Auslegung des Vertrages und der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Artikel 234 Absatz 2 EG sieht vor: "Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eineEntscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen."
12. Zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung ein Gericht im Sinne von Artikel 234 EG ist, stellt der Gerichtshof auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. u.a. Urteile vom 17. September 1997 in der Rechtssache C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 23, und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 21. März 2000 in den verbundenen Rechtssachen C-110/98 bis C-147/98, Gabalfrisa u.a., Slg. 2000, I-1577, Randnr. 33, und vom 14. Juni 2001 in der Rechtssache C-178/99, Salzmann, Slg. 2001, I-4421, Randnr. 13).
13. Nach Artikel 234 EG hängt zwar die Anrufung des Gerichtshofes nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage abfasst, streitigen Charakter hat (vgl. Urteil vom 17. Mai 1994 in der Rechtssache C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, Randnr. 12). Aus diesem Artikel ergibt sich aber, dass die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 1980 in der Rechtssache 138/80, Borker, Slg. 1980, 1975, Randnr. 4, und vom 5. März 1986 in der Rechtssache 318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Randnr. 4, sowie Urteile vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-111/94, Job Centre, Slg. 1995, I-3361, Randnr. 9, und Salzmann, Randnr. 14)
14. Wenn die vorlegende Einrichtung als Verwaltungsbehörde handelt, ohne dass sie gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, kann somit selbst dann, wenn sie die übrigen in Randnummer 12 dieses Urteils aufgeführten Voraussetzungen erfüllt, nicht davon ausgegangen werden, dass sie eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt. Das ist z.B der Fall, wenn sie über den Antrag auf Eintragung einer Gesellschaft im Register in einem Verfahren entscheidet, das nicht die Aufhebung eines Rechtsakts zum Gegenstand hat, der ein Recht des Antragstellers verletzt (vgl. Urteile Job Centre, Randnr. 11, und Salzmann, Randnr. 15).
15. Aus den Akten geht hervor, dass das Landesgericht Wels, wenn es als Handelsgericht gemäß den nationalen Bestimmungen über die Verpflichtung zur Offenlegung des Jahresabschlusses und des Lageberichts entscheidet, nicht mit einem Rechtsstreit befasst ist, sondern nur ein Handels- und Gesellschaftsregister führt. Es stellt nämlich nur fest, ob den gesetzlichen Offenlegungsverpflichtungen entsprochen wurde, und ordnet gegebenenfalls unter Androhung einer Zwangsstrafe die Vorlage der entsprechenden Rechnungslegungsunterlagen an. Außerdem deutet nichts in den Akten darauf hin, dass beim Landesgericht Wels ein Rechtsstreit zwischen den Antragstellern und einer etwaigen beklagten Partei anhängig wäre.
16. Daher übt das Landesgericht Wels mit dieser Tätigkeit keine Rechtsprechungstätigkeit aus.
17. Folglich ist der Gerichtshof nicht zuständig, über die Fragen zu entscheiden, die das Landesgericht Wels als Handelsgericht im Rahmen der Führung des Handels- und Gesellschaftsregisters gestellt hat.
 
Kosten
18. Die Auslagen der österreichischen, der spanischen und der italienischen Regierung sowie des Rates und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Antragsteller ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim Landesgericht Wels anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist nicht zuständig, auf die vom Landesgericht Wels in seinem Beschluss vom 9. Mai 2000 gestellten Fragen zu antworten.
Jann, Sevon, Wathelet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Januar 2002.
R. Grass (Der Kanzler), P. Jann (Der Präsident der Ersten Kammer)