EuGH Rs. C-144/99, Slg. 2001, S. I-3541 - Kommission ./. Niederlande
 
Urteil
des Gerichtshofes (Fünfte Kammer)
vom 10. Mai 2001
In der Rechtssache
-- C-144/99 --
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. van Nuffel als Bevollmächtigten im Beistand von M. van der Woude und L. Dommering-van Rongen, advocaten, Zustellungsanschrift in Luxemburg, Klägerin,
gegen
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. A. Fierstra und J. van Bakel als Bevollmächtigte, Beklagter,
wegen Feststellung, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) und aus der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) verstoßen hat, dass es nicht die für die vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat,
erlässt
Der Gerichtshof (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. La Pergola sowie der Richter M. Wathelet, D. A. O. Edward, P. Jann (Berichterstatter) und L. Sevón, Generalanwalt: A. Tizzano Kanzler: R. Grass aufgrund des Berichts des Berichterstatters, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. Januar 2001 folgendes
 
Urteil
1. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 21. April 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) und aus der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) verstoßen hat, dass es nicht die für die vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat.
 
Die Richtlinie
2. Zweck der Richtlinie ist gemäß Artikel 1 die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.
3. Artikel 3 der Richtlinie definiert den Begriff der "missbräuchlichen Klauseln". Artikel 6 bestimmt, dass derartige Klauseln "für den Verbraucher unverbindlich sind".
4. Artikel 4 der Richtlinie sieht vor:
    "(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.
    (2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind."
5. Artikel 5 der Richtlinie lautet:
    "Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und verständlich abgefasst sein. Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung. Diese Auslegungsregel gilt nicht im Rahmen der in Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren."
6. Nach Artikel 10 der Richtlinie mussten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, um der Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1994 nachzukommen.
 
Die nationale Regelung
7. Das Burgerlijk Wetboek (niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch, im Folgenden: BW) regelt in Buch III das Vermögensrecht im Allgemeinen und in Buch VI den Allgemeinen Teil des Schuldrechts.
8. Artikel 35 des Buches III des BW lautet:
    "Gegenüber demjenigen, der die Erklärung oder das Verhalten eines anderen entsprechend dem Sinn, den er dieser Erklärung oder diesem Verhalten unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise zuschreiben durfte, als eine von diesem anderen an ihn gerichtete Erklärung eines bestimmten Inhalts aufgefasst hat, kann man sich nicht auf den Mangel eines mit dieser Erklärung übereinstimmenden Willens berufen."
9. Artikel 231 des Buches VI des BW definiert "Allgemeine Geschäftsbedingungen" als "eine oder mehrere schriftlich niedergelegte Bestimmungen, die zu dem Zweckaufgestellt worden sind, in eine Mehrzahl von Verträgen aufgenommen zu werden, mit Ausnahme von Bestimmungen, die die Hauptleistungen bezeichnen".
10. Artikel 233 des Buches VI des BW sieht vor:
    "Eine Bestimmung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist anfechtbar,
    a) wenn sie unter Berücksichtigung der Art und des sonstigen Inhalts des Vertrages, der Weise, auf die die Geschäftsbedingungen zustande gekommen sind, der gegenseitig erkennbaren Interessen der Parteien und der sonstigen Umstände des Falles die andere Vertragspartei unangemessen benachteiligt;
    b) wenn der Verwender der anderen Vertragspartei keine angemessene Möglichkeit gegeben hat, von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Kenntnis zu nehmen."
11. Artikel 248 des Buches VI des BW bestimmt:
    "(1) Ein Vertrag hat nicht nur die von den Parteien vereinbarten Rechtsfolgen, sondern auch die, die sich je nach der Art des Vertrages aus dem Gesetz, der Gewohnheit oder den Erfordernissen der Vernünftigkeit und Billigkeit ergeben.
    (2) Eine zwischen den Parteien infolge des Vertrages geltende Regel findet keine Anwendung, soweit dies unter den gegebenen Umständen nach Maßgabe von Vernünftigkeit und Billigkeit unannehmbar wäre."
 
Vorverfahren
12. Da die Kommission der Auffassung war, dass die Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist vollständig in das niederländische Recht umgesetzt worden war, leitete sie ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Nachdem sie das Königreich der Niederlande zur Äußerung aufgefordert hatte, gab sie am 6. April 1998 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie den Mitgliedstaat aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen. Da das Königreich der Niederlande dieser Stellungnahme keine Folge leistete, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
 
Zur Begründetheit
13. In ihrer Klage macht die Kommission geltend, die Umsetzung der Richtlinie in die niederländische Rechtsordnung sei hinsichtlich der Form und der verwendeten Mittel unzureichend und vom Ergebnis her unvollständig.
14. Nach Auffassung der Kommission ist eine Umsetzung, die sich ausschließlich auf bereits in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats vorhandene, mit der umzusetzendenRichtlinie konforme Bestimmungen stützt, nur in sehr engen Grenzen zulässig. Wenn die Richtlinie, wie im vorliegenden Fall, den Zweck verfolge, die Verbraucher durch die Gewährung genau umschriebener Ansprüche zu schützen, müsse die Umsetzung in klarer und eindeutiger Form erfolgen. Dies sei bei den von der niederländischen Regierung angeführten Bestimmungen des BW nicht der Fall.
15. Außerdem werde das mit den Artikeln 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie angestrebte Ergebnis durch diese Bestimmungen nicht eindeutig sichergestellt.
16. Die niederländische Regierung tritt dieser Argumentation entgegen und macht geltend, Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag lasse den Mitgliedstaaten volle Freiheit bei der Wahl der Form und der Mittel, die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlich seien. Sie ist der Ansicht, eine ausdrückliche Umsetzung sei entbehrlich, wenn die mit der Richtlinie verfolgten Ziele im nationalen Recht bereits erreicht seien, wobei sie sich insbesondere auf das Urteil vom 23. Mai 1985 in der Rechtssache 29/84 (Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 1661, Randnr. 23) beruft.
17. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Umsetzung einer Richtlinie zwar nicht notwendig in jedem Mitgliedstaat ein Tätigwerden des Gesetzgebers, es ist jedoch unerlässlich, dass das fragliche nationale Recht tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet, dass die sich aus diesem Recht ergebende Rechtslage hinreichend bestimmt und klar ist und dass die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (Urteil vom 23. März 1995 in der Rechtssache C-365/93, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-499, Randnr. 9).
18. Wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, ist diese letzte Voraussetzung besonders wichtig, wenn die Richtlinie darauf abzielt, den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten Ansprüche zu verleihen (Urteil Kommission/Griechenland, Randnr. 9). Gerade das ist hier jedoch der Fall, denn die Richtlinie bezweckt nach ihrer sechsten Begründungserwägung u.a., "den Bürger in seiner Rolle als Verbraucher beim Kauf von Waren und Dienstleistungen mittels Verträgen zu schützen, für die die Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten gelten".
19. Aus den vom Generalanwalt in den Nummern 25 und 26 seiner Schlussanträge genannten Gründen ergibt sich, dass das Königreich der Niederlande nicht darlegen konnte, dass seine Rechtsordnung Vorschriften enthält, die den Artikeln 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie entsprechen.
20. Soweit die niederländische Regierung vorträgt, die mit der Richtlinie verfolgten Ziele könnten durch eine systematische Auslegung der niederländischen Vorschriften erreicht werden, genügt die Feststellung, dass die mit der Richtlinie angestrebten Ergebnisse aus den vom Generalanwalt in den Nummern 26 bis 31 seiner Schlussanträgedargestellten Gründen beim gegenwärtigen Stand des niederländischen Rechts nicht erreicht werden können.
21. Zu dem Vorbringen der niederländischen Regierung, der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung der niederländischen Regelung, der vom Hoge Raad der Nederlanden bestätigt worden sei, erlaube es jedenfalls, Unterschiede zwischen den Bestimmungen des niederländischen Rechts und denen der Richtlinie zu beheben, genügt der Hinweis, dass - wie der Generalanwalt in Nummer 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat - eine etwa bestehende nationale Rechtsprechung, die innerstaatliche Rechtsvorschriften in einem Sinn auslegt, der als den Anforderungen einer Richtlinie entsprechend angesehen wird, nicht die Klarheit und Bestimmtheit aufweisen kann, die notwendig sind, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen. Dies gilt ganz besonders im Bereich des Verbraucherschutzes.
22. Daher ist festzustellen, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, dass es nicht die für eine vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat.
 
Kosten
23. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission den entsprechenden Antrag gestellt hat und das Königreich der Niederlande mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich der Niederlande hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen verstoßen, dass es nicht die für die vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat.
2. Das Königreich der Niederlande trägt die Kosten des Verfahrens.
La Pergola, Wathelet, Edward, Jann, Sevon
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Mai 2001.
R. Grass (Der Kanzler), A. La Pergola (Der Präsident der Fünften Kammer)