BGE 144 V 79
 
11. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen CSS Kranken-Versicherung AG und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
9C_264/2017 vom 18. Dezember 2017
 
Regeste
Art. 32 Abs. 1, Art. 35 Abs. 2 lit. a, Art. 56 Abs. 1 und 6, Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG; Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der Leistungen im Hinblick auf die Rückerstattung der Honorare wegen nicht wirtschaftlicher Praxistätigkeit.
 
Aus den Erwägungen:
3. Das kantonale Schiedsgericht hat die Wirtschaftlichkeit der Praxistätigkeit des Beschwerdeführers in Anwendung der statistischen Methode der Varianzanalyse (ANOVA; vgl. dazu D'ANGELO/KRAFT/AMSTUTZ, Neue statistische Methode für die Wirtschaftlichkeitsprüfung entbindet Ärzte teilweise von Beweislast, Schweizerische Ärztezeitung [SAeZ] 2005 S. 1849 f.; GEBHARD EUGSTER, Überarztung aus juristischer Sicht, in: Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff, Gächter/Schwendener [Hrsg.], 2009, S. 123 ff. Rz. 78 ff.) geprüft. Danach betrug der Index der direkten Kosten (ohne Medikamente) 150 Punkte (2013) bzw. 152 Punkte (2014). Daraus ergab sich bei einem Toleranzwert von 130 Punkten und direkten (Arzt- und Medikamenten-) Kosten von Fr. 249'774.21 (2013) und Fr. 277'776.65 (2014) ein rückerstattungspflichtiger Betrag von Fr. 33'303.20 und Fr. 40'204.50. Diese Berechnung ist als solche unbestritten, ebenso die Feststellung des Schiedsgerichts, dass die Anwendung des Durchschnittskostenvergleichs mit Gesamtkostenindizes von 162 bzw. 170 Punkten und der Vergleichsgruppe der Fachärzte 'praktischer Arzt' im Kanton Bern zu einer höheren Rückforderung geführt hätte.
 
Erwägung 5
In einem am 27. Dezember 2013/16. Januar 2014 abgeschlossenen Vertrag haben die Vereinigung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) auf der einen Seite, santésuisse (Die Schweizer Krankenversicherer) und curafutura (Die innovativen Krankenversicherer) auf der anderen Seite gestützt auf Art. 56 Abs. 6 KVG als statistische Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit die Varianzanalyse [ANOVA] festgelegt (Ziff. 1). Weiter vereinbarten die Vertragsparteien, dass das heute verwendete Varianzanalysenmodell künftig von Leistungserbringern und Versicherern gemeinsam weiterentwickelt und unter anderem durch Morbiditätsvariablen ergänzt werden soll (Ziff. 2). Neben dem Auftrag des Gesetzgebers, die statistische Methode festzulegen, vereinbaren die Leistungserbringer und Versicherer, die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit durch paritätische Vertrauenskommissionen (PVK) zu vereinheitlichen und professionalisieren (Ziff. 4 erster Satz).
5.2 Das kantonale Schiedsgericht hat in E. 4.3 des angefochtenen Entscheids ausgehend von den Materialien (zu deren Bedeutung für die Gesetzesauslegung BGE 141 V 191 E. 3 S. 194; BGE 140 III 206 E. 3.5.4 S. 214; BGE 134 V 170 E. 4.1 S. 174) dargelegt, dass Art. 56 Abs. 6 KVG die Anwendung der ANOVA-Methode grundsätzlich nicht ausschliesst. Es hat im Wesentlichen erwogen, das Parlament habe dieser Gesetzesvorschrift nicht über den Wortlaut hinaus das Verbot einer bestimmten Methode beimessen, sondern deren Festlegung in Zukunft auf den partnerschaftlichen Weg verweisen wollen, ohne sich selbst dazu zu äussern. Die Vertreter der Leistungserbringer hätten Gelegenheit gehabt, sich die Methode transparent vorlegen zu lassen und in eine Diskussion mit den Versicherern einzusteigen. Das sei erfolgt und ein Vertrag über die Anwendbarkeit der ANOVA-Methode abgeschlossen worden, wobei die Parteien gleichzeitig übereingekommen seien, sie fortlaufend zu verbessern. Insoweit dürfe davon ausgegangen werden, dass Transparenz geschaffen worden sei und keine unüberwindbare Vorbehalte mehr bestanden hätten. Im Übrigen stünde es jeder Partei frei, den Vertrag zu kündigen.
5.3.1 Eine Zielsetzung von Art. 56 Abs. 6 KVG war, zum einen die Bemessung der Wirtschaftlichkeit der Leistungen transparent und namentlich für die Ärztinnen und Ärzte nachvollziehbar zu machen, zum andern die Morbidität des Patientenkollektivs miteinzubeziehen (Bericht "Parlamentarische Initiativen Stärkung der Hausarztmedizin" der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 21. Januar 2011, BBl 2011 2519 ff., 2520 und 2523 f., sowie Stellungnahme des Bundesrates vom 4. März 2011, BBl 2011 2529 ff., 2530 unten; AB 2011 N 1308 ff. [alle Redner], S 1106 f. [Votum Maury Pasquier]; ferner GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 686 Rz. 918, wonach eine entsprechende grundlegende Änderung des Vergleichsverfahrens zu den zentralen Erwartungen des Gesetzgebers zählt). Wie indessen das kantonale Schiedsgericht richtig erkannt hat, ging es bei der Schaffung von Art. 56 Abs. 6 KVG in erster Linie darum, dass Versicherer und Leistungserbringer zusammen eine Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit entwickeln bzw. festlegen, hingegen nicht um die Umsetzung der Wirtschaftlichkeitsprüfung als solche (AB 2011 N 1309 [Votum Humbel], S 1107 [Votum Bundesrat Burkhalter]). "Der neue Absatz 6 enthält keine Spezifizierung oder exemplarische Aufzählung von Kriterien, die bei der Durchführung der Kontrolle zu berücksichtigen sind". Diese partnerschaftlich zu erarbeiten und festzulegen, liegt "allein in der Kompetenz der Leistungserbringer und der Versicherer" (BBl 2011 2524 und 2529 ff.).
5.3.2 Einzig der zweite Gesichtspunkt hat im Wortlaut von Art. 56 Abs. 6 KVG Niederschlag gefunden. Der Gesetzgeber räumte somit dem Weg des gemeinsamen Vorgehens von Leistungserbringern und Versicherern Vorrang ein vor dem zu erreichenden Ziel einer transparenten und qualitativen, d.h. die Morbidität des Patientenkollektivs einbeziehenden Wirtschaftlichkeitsprüfung. Das bedeutet auch, dass der beidseitigen Akzeptanz der künftig anzuwendenden Methode der Wirtschaftlichkeitskontrolle besonderes Gewicht zukommen soll. Es kann daher nicht als gesetzwidrig bezeichnet werden, dass die Parteien (FMH sowie santésuisse und curafutura) das Varianzanalysenmodell, welches "gemeinsam weiterentwickelt und unter anderem durch Morbiditätsvariablen ergänzt werden soll", vereinbart haben, auch wenn dieses ebenso wie der Durchschnittskostenvergleich seit langem in der Ärzteschaft in der Kritik standen (GEBHARD EUGSTER, KVG: Baustelle statistische Wirtschaftlichkeitsprüfung, Jusletter 27. August 2012 Rz. 13 f., 61 und 82) und Anstoss für parlamentarische Initiativen gegeben hatten, welche schliesslich zur Gesetzesänderung vom 23. Dezember 2011 (Art. 56 Abs. 6 KVG) führten.
6.2 Sodann sagen weder die Zufriedenheit der Patienten und deren Wohlbefinden noch die Häufigkeit einer bestimmten abgerechneten Tarmed-Position direkt etwas aus über Wirksamkeit und Zweckmässigkeit einer Behandlung, welche Kriterien nach seiner Auffassung bei der "Überprüfung der Überarztung" ebenfalls zu berücksichtigen seien. Im Übrigen hat das kantonale Schiedsgericht einlässlich dargelegt, weshalb vor dem Hintergrund des Durchschnittsalters der Patienten und der vergleichsweise weit günstigeren Kosten pro Konsultation seine Behandlungsweise weder wirtschaftlich noch zweckmässig sein könne. In der Beschwerde wird nicht substanziiert aufgezeigt, inwiefern die betreffenden Erwägungen Bundesrecht verletzen sollen (Art. 42 Abs. 2 BGG). Die jederzeitige Erreichbarkeit für seine Patienten, auch für Notfälle, vermag daran nichts zu ändern.