BGE 140 V 136
 
21. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Q. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) und B. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_789/2013 vom 10. März 2014
 
Art. 97 Abs. 1 und 2, Art. 105 Abs. 2 und 3 BGG; Kognition.
 
Art. 30 UVG; Art. 297 Abs. 3, Art. 311 f. und Art. 318 Abs. 1 ZGB; Art. 27 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 IPRG; Art. 9 Abs. 1 lit. a und Art. 10 Abs. 1 lit. a des Europäischen Übereinkommens vom 20. Mai 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts.
 
Sachverhalt
A. J., geboren 1976, war bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert, als er am 5. Dezember 2001 auf dem Weg zur Arbeit bei einem Selbstunfall tödlich verunglückte. Mit Verfügung vom 18. Oktober 2002 sprach die SUVA der Witwe, L., sowie den beiden Halbwaisen E., geboren 1999, und F., geboren 2000, ab 1. Januar 2002 Hinterlassenenleistungen zu. Am 17. Dezember 2003 hob die SUVA infolge Wiederverheiratung von L. (nunmehr B.) deren Hinterlassenenrente per 1. Mai 2003 auf, richtete die beiden Halbwaisenrenten aber nach wie vor der Mutter aus.
Am 27. Dezember 2006 machte Q., die im Kosovo lebende Mutter des J., geltend, die Halbwaisenrenten seien ihr - auch rückwirkend - zu überweisen, da sie die Vormundschaft über E. und F. innehabe. Nach längerer Korrespondenz in dieser Sache, während welcher die SUVA die Direktauszahlung stets verweigerte, verlangte Q. eine beschwerdefähige Verfügung, welche die SUVA am 18. Juli 2012 erliess und mit Einspracheentscheid vom 7. November 2012 bestätigte.
B. Das Kantonsgericht des Kantons Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde nach Beiladung von B. mit Entscheid vom 17. September 2013 ab.
C. Q. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben; evenualiter sei für den Leistungsanspruch der Kinder ein Sperrkonto einzurichten.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eingetreten ist.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
 
Erwägung 1.2
Diese Einschränkungen der Rüge- und Überprüfungsbefugnis gelten nicht bei Beschwerden, welche sich gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung richten. Hier kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 97 Abs. 2 BGG) und das Bundesgericht ist nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 3 BGG).
1.2.2 Es fragt sich, ob die Regelung über die freie Kognition des Bundesgerichts gemäss Art. 105 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 2 BGG zur Anwendung gelangt. Das trifft nicht zu. Gegenstand des angefochtenen Entscheids bildet einzig die Frage der Auszahlungsmodalität der den Kindern unbestrittenermassen zustehenden Waisenrenten. Damit ist auch der letztinstanzliche Prüfungsgegenstand umschrieben. Angesichts des Ausnahmecharakters des Art. 105 Abs. 3 BGG und der damit zusammenhängenden restriktiven Interpretation (BGE 135 V 412 E. 1.2.2 S. 414 mit Hinweisen auf die Literatur) ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Geldleistungen der Militär- und Unfallversicherung kognitionsmässig auch bei dieser nicht den Anspruch als solchen, sondern einzig die Auszahlungsmodalität beschlagenden Streitigkeit anders als die übrigen vom Bundesgericht zu beurteilenden Versicherungsmaterien behandeln wollte. Daher gilt die eingeschränkte Kognition.
Die Vorinstanz hat festgehalten, die entsprechende Verfügung beziehe sich einzig auf das Kind F., nicht aber auf E. Da die Beschwerdeführerin für E. somit auch nach eigener Darstellung nicht Vormund sei, komme eine Auszahlung der Halbwaisenrente für E. zum Vornherein nicht in Frage. Mit dieser Erwägung setzt sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde ans Bundesgericht nicht auseinander, weshalb es an einer sachbezogenen Begründung im Sinne von Art. 42 Abs. 2 BGG fehlt und insoweit auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann.
 
Erwägung 4
 
Erwägung 4.2
Das Europäische Übereinkommen vom 20. Mai 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen [SR 0.211.230.01]; nachfolgend: ESÜ) ist für die Schweiz am 1. Januar 1984 und für Serbien am 1. Mai 2002 in Kraft getreten. Da der Kosovo von der Schweiz am 27. Februar 2008 als selbstständiger Staat anerkannt wurde, ist vom 1. Mai 2002 bis zu dieser Sezession das ESÜ massgebend (Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht [IPRG; SR 291]). Ob es auch für den Nachfolgestaat Kosovo anwendbar bleibt, ist fraglich (vgl. dazu BGE 139 V 263), so dass mangels anderer beidseitig unterzeichneter völkerrechtlicher Verträge im Übrigen die Bestimmungen des IPRG massgebend sind. Art. 85 Abs. 1 IPRG in der bis 30. Juni 2009 geltenden Fassung verweist auf das Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (SR 0.211. 231.01; nachfolgend: MSA) und in der ab 1. Juli 2009 geltenden Fassung auf das Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kindesschutzübereinkommen, HKsÜ; SR 0.211.231.011).
4.2.2 Nach Art. 27 Abs. 1 IPRG wird eine im Ausland ergangene Entscheidung von Amtes wegen (vgl. DÄPPEN/MABILLARD, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 27 IPRG) nicht anerkannt, wenn die Anerkennung mit dem schweizerischen ordre public nicht vereinbar wäre; eine im Ausland ergangene Entscheidung wird auf entsprechenden Einwand hin (vgl. DÄPPEN/MABILLARD, a.a.O., N. 1 zu Art. 27 IPRG) nach Art. 27 Abs. 2 lit. b IPRG ebenfalls nicht anerkannt, wenn sie unter Verletzung wesentlicher Grundsätze des schweizerischen Verfahrensrechts zustande gekommen ist, insbesondere bei Verletzung des rechtlichen Gehörs. Nach Art. 16 MSA darf von den Bestimmungen dieses Übereinkommens nur abgewichen werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Art. 23 Abs. 2 HKsÜ sieht verschiedene Gründe vor, bei deren Vorliegen die Anerkennung eines behördlichen Entscheids versagt werden kann, etwa auf Antrag jeder Person, die geltend macht, dass die Massnahme ihre elterliche Sorge beeinträchtigt und sie ohne ihre Anhörung getroffen wurde (lit. c), oder wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Staates offensichtlich widerspricht (lit. d) oder wenn das Verfahren nach Art. 33 HKsÜ nicht eingehalten wurde (lit. f). Das MSA und das HKsÜ gelangen infolge Verweis in Art. 85 IPRG auch gegenüber Nichtvertragsstaaten zur Anwendung (vgl. SCHNYDER/GROLIMUND, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 17 zu Art. 1 IPRG). Gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. a ESÜ kann die Anerkennung und Vollstreckung versagt werden, wenn bei einer Entscheidung, die in Abwesenheit des Beklagten oder seines gesetzlichen Vertreters ergangen ist, dem Beklagten das das Verfahren einleitende oder gleichwertige Schriftstück weder ordnungsgemäss noch rechtzeitig zugestellt worden ist, so dass er sich verteidigen konnte; nach Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ kann die Anerkennung und Vollstreckung auch verweigert werden, wenn die Wirkungen der Entscheidungen mit den Grundwerten des Familien- und Kindschaftsrechts im ersuchten Staat offensichtlich unvereinbar sind.
 
Erwägung 5
Die Beschwerdeführerin macht vor Bundesgericht geltend, durch die Verfügung der Sozialbehörde X. (Kosovo) vom 5. Februar 2002 sei der Mutter die elterliche Sorge entzogen und sie selber als Vormund ihrer beiden Enkel eingesetzt worden. Die Kinder lebten seit mehr als zehn Jahren bei ihr und würden von ihr betreut. Die leibliche Mutter kümmere sich nicht um ihre Kinder und die Halbwaisenrente sei daher direkt an sie auszubezahlen.
5.2 Abgesehen davon, dass sich in den Akten gewichtige Hinweise finden, welche gegen die Sachverhaltsdarlegung der Beschwerdeführerin bezüglich des Verhaltens der Mutter sprechen und die Beschwerdeführerin auch kein Verfahren um Anerkennung des Entscheids der Sozialbehörde X. (Kosovo) bei der zuständigen Schweizer Behörde eingeleitet hat, erfüllt die von ihr beigebrachte Verfügung vom 5. Februar 2002 die Voraussetzungen der Anerkennung dieses ausländischen Entscheids nicht; dies gilt ungeachtet dessen, ob nach IPRG das MSA resp. das HKsÜ oder das ESÜ anwendbar ist (vgl. dazu oben E. 4.2). Bei all diesen Übereinkommen wie auch nach Art. 27 IPRG steht die Anerkennung unter dem Vorbehalt des ordre public. Wie die Vorinstanz zu Recht ausführt, widerspricht die Verfügung der Sozialbehörde X. (Kosovo) vom 5. Februar 2002 den in der Schweiz geltenden Grundsätzen diametral. Die Verfügung geht davon aus, die Mutter habe F. nach dem Tod ihres ersten Ehegatten im Stich gelassen ("abgeworfen"). Eine entsprechende Erklärung der Mutter, wonach sie auf die Ausübung der elterlichen Sorge verzichtet, liegt indessen nicht vor; vielmehr bestehen glaubwürdige Anhaltspunkte, dass die Mutter ihre Söhne unfreiwillig bei deren Grosseltern zurückgelassen hat. Daran ändert auch die von der Beschwerdeführerin aufgelegte und von der Mutter unterzeichnete Vollmacht vom 18. Januar 2002 nichts, da diese nur die Vertretung durch den Schwiegervater vor Behörden zwecks Regelung der Ehescheidung beinhaltete und zwischenzeitlich auch widerrufen wurde. Die Annahme in der Verfügung vom 5. Februar 2002, für F. habe keine elterliche Sorge bestanden, ist daher offensichtlich unzutreffend, da diese beim Tod seines Vaters von Gesetzes wegen weiterhin bei der Mutter - nunmehr als alleiniger Inhaberin - verblieb. Es kommt hinzu, dass die Mutter in das Verfahren vor der Sozialbehörde X. (Kosovo) nicht einbezogen worden ist (vgl. dazu den Einwand der Mutter im Schreiben vom 14. März 2007 und in der Stellungnahme vor Vorinstanz vom 5. März 2013), obwohl sie durch den Entzug der elterlichen Sorge direkt und in schwerwiegender Weise betroffen ist. Die entsprechende Verfügung war ihr denn auch nicht einmal zugestellt worden, so dass sie keine Möglichkeit hatte, dagegen ein Rechtsmittel zu ergreifen. Unter diesen Umständen liegt ein offensichtlicher und schwerer Verstoss gegen fundamentale Grundsätze der Schweizer Rechtsordnung vor, weshalb der Verfügung vom 5. Februar 2002 gestützt auf Art. 85 Abs. 1 IPRG in Verbindung mit Art. 16 MSA resp. Art. 23 Abs. 2 lit. d und f HKsÜ und auf Art. 10 Abs. 1 lit. a ESÜ (materieller ordre public) sowie gestützt auf Art. 85 Abs. 1 IPRG in Verbindung mit Art. 16 MSA resp. Art. 23 Abs. 2 lit. c HKsÜ und auf Art. 9 Abs. 1 lit. a ESÜ (formeller ordre public; Verletzung des rechtlichen Gehörs) die Anerkennung zu versagen ist. Auch aus der Bescheinigung der Sozialbehörde X. (Kosovo) vom 22. Oktober 2008 kann die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten ableiten, basiert diese doch auf der Verfügung vom 5. Februar 2002. Da die Mutter demnach weiterhin Inhaberin der elterlichen Sorge ist, ist die Rente für F. - wie jene für E. - weiterhin ihr auszurichten.
5.3 Auch die übrigen Einwände der Beschwerdeführerin vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern: Abgesehen davon, dass die für die Drittauszahlung nach Art. 20 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) notwendige Zweckentfremdung der Waisenrenten nicht nachgewiesen ist, handelt es sich dabei auch um eine Kann-Vorschrift, die dem Sozialversicherungsträger ein Ermessen einräumt (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 10 zu Art. 20 ATSG). Unter den gegebenen Umständen liegt jedenfalls keine rechtsfehlerhafte Ausübung des Ermessens durch die SUVA vor, indem sie sich gegen eine Drittauszahlung aussprach. Schliesslich kann die Beschwerdeführerin auch aus dem Verweis auf die familienrechtliche Regelung von Pflegekinderverhältnissen (Art. 300 Abs. 1 und Art. 316 Abs. 1 ZGB) nichts zu ihren Gunsten ableiten, da es auch hier an einer rechtsgenüglichen behördlichen Bewilligung fehlt.