BGE 135 V 65
 
9. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen K. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
9C_915/2008 vom 13. Februar 2009
 
Regeste
Art. 50 ATSG; Art. 52 AHVG; Zulässigkeit eines Vergleichs in Beschwerdeverfahren um Schadenersatzforderungen; Anforderungen an die Begründung des Abschreibungsbeschlusses.
Der Beschluss, mit welchem ein Gericht das Verfahren infolge eines vor ihm geschlossenen Vergleichs abschreibt, muss zumindest eine summarische Begründung enthalten, welche darlegt, dass und inwiefern der Vergleich mit Sachverhalt und Gesetz übereinstimmt (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 2.1-2.6).
 
Sachverhalt
A. Die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn verpflichtete mit Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 K., ehemals Präsident der Verwaltung der am 30. August 2004 in Konkurs gefallenen Genossenschaft S., zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 67'462.35.
K. erhob dagegen beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde. Dieses hiess das Rechtsmittel mit Entscheid vom 24. September 2007 gut und hob den Einspracheentscheid auf, da K. im Einspracheverfahren gegen andere potenziell Mithaftende nicht beigeladen worden war. Auf Beschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) hin hob das Bundesgericht mit Urteil 9C_767/2007 vom 24. Juni 2008 (BGE 134 V 306) den Entscheid des Versicherungsgerichts auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück.
B. Anlässlich einer vor dem kantonalen Versicherungsgericht durchgeführten Instruktionsverhandlung schlossen K. und die Ausgleichskasse in der Folge einen Vergleich; darin verpflichtete sich K., der Ausgleichskasse per Saldo aller Ansprüche Fr. 39'000.- Schadenersatz zu bezahlen. Mit Beschluss vom 29. September 2008 schrieb das Versicherungsgericht das Verfahren als gegenstandslos geworden ab.
C. Das BSV erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der Abschreibungsbeschluss aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über die Schadenersatzpflicht von K. in einem begründeten Urteil entscheide.
Die Ausgleichskasse äussert sich, ohne einen Antrag zu stellen. K. schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
Aus den Erwägungen:
1.1 Nach der bis Ende 2002 geltenden Rechtslage war es gemäss Rechtsprechung zulässig, in Streitigkeiten um Schadenersatz nach Art. 52 AHVG einen gerichtlichen Vergleich abzuschliessen. Kam ein solcher Vergleich zustande, hatte das Gericht die Einigung der Parteien im Rahmen der jeweiligen Kognition auf ihre Übereinstimmung mit Tatbestand und Gesetz zu prüfen und im Falle der Genehmigung einen Abschreibungsbeschluss zu erlassen, der nicht begründet, jedoch mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sein musste; er konnte von den Parteien, die an der Einigung beteiligt waren, nur wegen Verfahrens- oder Willensmängeln, von an der Einigung nicht beteiligten Dritten (z.B. den zur Beschwerde legitimierten Bundesbehörden) auch materiell angefochten werden (SVR 1996 AHV Nr. 74 S. 223, H 57/95 E. 2b und 3a; AJP 2003 S. 65, H 64/01 E. 3b; ULRICH MEYER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, BJM 1989 S. 1 ff., 28).
1.2 Nach Art. 50 des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1; gemäss Art. 1 Abs. 1 AHVG in der AHV anwendbar) können Streitigkeiten über sozialversicherungsrechtliche Leistungen durch Vergleich erledigt werden (Abs. 1). Laut Abs. 2 hat der Versicherungsträger den Vergleich in Form einer anfechtbaren Verfügung zu eröffnen. Die Absätze 1 und 2 gelten sinngemäss im Einsprache- und in den Beschwerdeverfahren (Abs. 3 der genannten Gesetzesnorm). Das BSV bringt vor, gemäss dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung seien nurmehr Streitigkeiten über Leistungen einem gerichtlichen Vergleich zugänglich, nicht aber Streitigkeiten über andere Forderungen, namentlich Schadenersatzansprüche nach Art. 52 AHVG.
1.3 Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich in BGE 131 V 417 eingehend mit der Zulässigkeit von Vergleichen nach Art. 50 ATSG auseinandergesetzt. In diesem Fall waren vor dem kantonalen Gericht sowohl Leistungsansprüche eines Versicherten gegen die Krankenversicherung als auch Prämienforderungen der Krankenversicherung gegen den Versicherten streitig gewesen; die Parteien schlossen einen Vergleich, der alle offenen Punkte ausräumte. Auf Beschwerde des Bundesamtes für Gesundheit hin erwog das Eidg. Versicherungsgericht, der Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 ATSG sei klar, soweit er die Vergleichszulässigkeit auf sozialversicherungsrechtliche Leistungen beschränke, worunter die Gesamtheit der Geld- und Sachleistungen (Art. 14 f. ATSG) zu verstehen sei (E. 4.1 S. 421). Die Bedeutung der Einschränkung in Art. 50 Abs. 1 ATSG auf Leistungen liege darin, die Durchführungsorgane, insbesondere die Ausgleichskassen, von Druckversuchen freizuhalten, welche sich im Beitragsbereich aus der Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit der angeschlossenen Arbeitgeber ergeben könnten; damit stehe nach Art. 50 Abs. 1 ATSG der Ausschluss von Vergleichen für Sozialversicherungsbeiträge fest (E. 4.2 S. 421 f.). Der Wortlaut des Abs. 3 von Art. 50 ATSG sei unklar, indem sich nicht eindeutig beantworten lasse, worauf sich die Wendung "gelten sinngemäss" beziehe. Die gesetzgeberische Regelungsabsicht, die Durchführungsstellen vor Druckversuchen zu schützen, stosse beim Beschwerdeverfahren ins Leere, weil die Gerichte keinen solchen Interventionsrisiken ausgesetzt seien; aufgrund einer historischen und teleologischen Auslegung sei daher der Anwendungsbereich des Vergleichs vor dem Sozialversicherungsgericht insofern über reine Leistungsstreitigkeiten hinaus zu erweitern, als vergleichsweise Einigungen zwischen Versicherern und Versicherten über gegenseitige Ansprüche im Beschwerdeverfahren als zulässig zu erachten seien. Ausgeschlossen sei eine vergleichsweise Einigung im kantonalen Beschwerdeverfahren, wenn sich der Streit ausschliesslich um Sozialversicherungsbeiträge handle (E. 4.3.2 S. 422 ff.). In der Folge erkannte das Bundesgericht in zwei Urteilen vom 31. Januar 2008 (H 141/06 und H 195/06), ein Vergleich über AHV-Beiträge vor dem kantonalen Gericht sei unzulässig.
1.4 Über die Zulässigkeit von Vergleichen über Schadenersatzforderungen gemäss Art. 52 AHVG hat sich das Bundesgericht unter der Herrschaft des ATSG bisher nicht geäussert. In BGE 131 V 417 E. 4.2 S. 421 f. wurde die Frage ausdrücklich offengelassen. In der Lehre wird die Zulässigkeit mehrheitlich verneint, wobei dies allerdings meistens nicht ausdrücklich und klar auch auf das Beschwerdeverfahren bezogen wird (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 10 zu Art. 50 ATSG; derselbe, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 257 Fn. 142 und S. 1307 Rz. 321; derselbe, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, 2008, S. 140 Rz. 57 und S. 230 Fn. 104; KIESER/RIEMER-KAFKA, Tafeln zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, 4. Aufl. 2008, S. 127; MARCO REICHMUTH, Die Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach Art. 52 AHVG, 2008, S. 227 Rz. 950; ausdrücklich auch für das Beschwerdeverfahren THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl. 2003, S. 485 Rz. 41). Teilweise erachtet die Lehre freilich Vergleiche über Schadenersatzforderungen gemäss Art. 52 AHVG nach wie vor generell (TURTÈ BAER, Die Streiterledigung durch Vergleich im Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG, SZS 2002 S. 430 ff., 449; wohl auch ANDREAS FREIVOGEL, Zu den Verfahrensbestimmungen des ATSG, in: Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2003, S. 89 ff., 107 f.) oder zumindest im Beschwerdeverfahren für zulässig (PETER FORSTER, AHV-Beitragsrecht, 2007, S. 204; vgl. auch MAURER/SCARTAZZINI/HÜRZELER, Bundessozialversicherungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 581: auch für Beiträge im Beschwerdeverfahren).
1.6 Im ATSG-Entwurf der Nationalrats-Kommission war generell die Zulässigkeit von Vergleichen für sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten vorgesehen gewesen (BBl 1999 4608 f.). Die sinngemässe Geltung für das Beschwerdeverfahren bezog sich demnach ebenfalls auf sämtliche Streitigkeiten. Im Nationalrat wurde auf Antrag der Kommissionsminderheit Abs. 1 dahin geändert, dass der Vergleich nur noch für Leistungen möglich war (AB 1999 N 1244 ff.; AB 2000 S 182 f.). Über Abs. 3 wurde in der parlamentarischen Beratung nicht gesprochen. Es gibt somit keine ausdrückliche Stellungnahme des historischen Gesetzgebers zu der hier interessierenden Frage.
1.7 In den parlamentarischen Beratungen wurden Bedenken gegen eine Vergleichslösung hauptsächlich im Zusammenhang mit den Beiträgen geäussert (AB 1999 N 1244 ff.; AB 2000 S 182 f.), während im Bereich der Leistungen (mit Einschluss der Rückforderungen von Leistungen, vgl. AB 1999 N 1245, Votum Gross) ein Bedürfnis nach vergleichsweiser Regelung anerkannt wurde, namentlich weil hier Sachverhaltsungewissheiten und Ermessensbereiche bestehen, die einer vergleichsweisen Regelung zugänglich sind (BBl 1999 4609; AB 1999 N 1245, Berichterstatter Rechsteiner; vgl. auch BGE 133 V 593 E. 4.3 S. 596). Über andere Streitigkeiten wurde kaum gesprochen. Nationalrat Suter wies immerhin darauf hin, dass nach der bisherigen Rechtsprechung Vergleiche in Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG zulässig seien, was sinnvoll sein könne (AB 2000 N 1246). Die Bedenken gegen eine Vergleichslösung im Beitragsbereich waren hauptsächlich damit begründet, die Ausgleichskassen sollten nicht einem Druck ausgesetzt werden, bei finanziellen Schwierigkeiten von Arbeitgebern auf die Erhebung der gesetzlichen Beiträge teilweise zu verzichten (AB 1999 N 1245, schriftliches Votum Bundesrat, Votum Gross; S. 1246, Votum Bundespräsidentin Dreifuss), was aber bei gerichtlichen Beschwerdeverfahren im Sinne von Art. 50 Abs. 3 ATSG kaum von Bedeutung ist (BGE 131 V 417 E. 4.3.2 S. 423; vgl. auch BGE 133 V 593 E. 4.3 S. 595 f. und E. 6 S. 596 f.). Des Weitern wurde in der Bundesversammlung mit dem Legalitätsprinzip und der Gleichbehandlung argumentiert, welche durch Vergleiche nicht verletzt werden dürfen (AB 1999 N 1245, Berichterstatter Rechsteiner). Dieses Argument ist im Beitragsrecht begründet, weil hier strikte gesetzliche Voraussetzungen gelten und kaum Ermessensspielräume bestehen (vgl. AB 1999 N 1246, Bundespräsidentin Dreifuss). Bei den Schadenersatzforderungen nach Art. 52 AHVG verhält es sich diesbezüglich anders: Zwar stehen auch bei ihnen am Ausgangspunkt Beitragsforderungen, doch müssen weitere Anspruchsvoraussetzungen gegeben sein (namentlich Rechtswidrigkeit und Verschulden der Arbeitgeber bzw. ihrer Organe), bezüglich welcher häufig ein Sachverhaltsermessen besteht, so dass eine vergleichsweise Regelung Sinn macht (BAER, a.a.O., S. 447 ff.; FREIVOGEL, a.a.O., S. 107 f.). Hinzu kommt, dass bei Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG das Gleichbehandlungsgebot ohnehin eingeschränkt gilt, indem mehrere haftpflichtige Organe solidarisch haften und die Ausgleichskasse sich darauf beschränken kann, gegen einen oder einige von mehreren potenziell Haftenden vorzugehen (BGE 119 V 86 E. 5a S. 87). Insoweit besteht bei Schadenersatzverfahren - anders als in Beitragsstreitigkeiten - von vornherein ein Dispositionsbereich der Ausgleichskasse. Wenn es der Ausgleichskasse freisteht, gegen bestimmte Personen gar nicht vorzugehen, wäre es widersprüchlich, ihr zu verbieten, einen Vergleich einzugehen (BAER, a.a.O., S. 439).
2.3 Dass die Genehmigung eines Vergleichs und der daraufhin ergehende Abschreibungsbeschluss nicht begründet werden müssen, geht auf eine alte Rechtsprechung zurück, für welche in BGE 104 V 162 E. 2 S. 165 f. angeführt wurde, dass die Beweggründe für einen Vergleich sich kaum in einer Verfügung wiedergeben liessen; der Hinweis auf den Vergleich genüge, da die Gründe, die zu seinem Abschluss geführt hätten, den Parteien bekannt seien; zudem schreibe Art. 35 Abs. 1 VwVG (SR 172.021; dessen Gehalt etwa Art. 49 Abs. 3 ATSG entspricht) nicht vor, was die Begründung zu enthalten habe, und sei eingehalten, wenn als Grundlage der Verfügung der abgeschlossene Vergleich angegeben werde. Im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 19/79 vom 10. März 1982 E. 3 wurde diese Rechtsprechung bestätigt und weiter ausgeführt, der Abschreibungsbeschluss müsse nicht begründet werden, da die den Vergleich schliessenden Parteien - unter Vorbehalt von Verfahrens- und Willensmängeln - den Abschreibungsbeschluss nicht anfechten könnten.
2.4 Diese Argumente, welche einen Verzicht auf eine Begründung des Abschreibungsbeschlusses rechtfertigen, treffen nun allerdings nicht zu im Verhältnis zu Dritten, die am Vergleich nicht beteiligt waren, namentlich die beschwerdelegitimierte Aufsichtsbehörde. Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliessende Begründungspflicht bezweckt, wenigstens kurz die Gründe zu nennen, die dem Entscheid zugrunde liegen, damit Beschwerdelegitimierte diesen sachgerecht anfechten können (BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88). Dies wird der am Vergleich nicht beteiligten Aufsichtsbehörde verunmöglicht, wenn sie nur einen unbegründeten Abschreibungsbeschluss erhält. Zwar können die sich vergleichenden Parteien verschiedenste Beweggründe haben, einen Vergleich einzugehen. Im Verhältnis zwischen Privaten ist es denn auch ohne weiteres zulässig, dass die Beweggründe für den Abschluss eines Vergleichs nicht offengelegt werden. Dies kann jedoch nicht in gleicher Weise gelten für die an verfassungsmässige Grundsätze (namentlich Gesetzmässigkeit und Gleichbehandlung) gebundene Verwaltung. Diese darf keine rechtswidrigen Vergleiche eingehen, was nur sinnvoll überprüft werden kann, wenn sie zumindest kurz angibt, weshalb sie dem Vergleich zustimmt (MÄCHLER, a.a.O., S. 451 f.). Sodann muss auch das Gericht, welches den Vergleich genehmigt, diesen auf seine Übereinstimmung mit Sachverhalt und Gesetz hin überprüfen (vorne E. 1.1). Korrelat der Überprüfungspflicht ist die Begründungspflicht; ob das Gericht seiner Prüfungspflicht nachgekommen ist, ergibt sich in erster Linie aus der Begründung des Entscheids und kann nicht sachgerecht überprüft werden, wenn überhaupt keine Begründung vorliegt (BGE 117 Ib 481 E. 6b/bb S. 492).
2.5 Bereits unter der vor dem Inkrafttreten des ATSG geltenden Rechtslage hat denn auch die neuere Rechtsprechung den Grundsatz, wonach der Abschreibungsbeschluss nicht begründet werden müsse, relativiert: Das Eidg. Versicherungsgericht hat ausgeführt, die Angabe, wonach der Genehmigung des Vertrags nichts entgegenstehe, habe mehr Gewicht, wenn das Ergebnis der Sachverhalts- und Gesetzmässigkeitskontrolle im Entscheid festgehalten sei (SVR 2000 AHV Nr. 23 S. 73, H 105/99 E. 2a; Urteil H 325/00 vom 11. Mai 2001 E. 3a; H 162/98 vom 16. Juni 1999 E. 3).