BGE 128 V 95
 
19. Urteil i.S. K. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern I 395/00 vom 29. April 2002
 
Regeste
Art. 19 Abs. 3 IVG; Art. 9 Abs. 2 IVV.
 
Sachverhalt
A.- Die 1991 geborene K. leidet seit ihrer Geburt an einem Strabismus convergens (congenitales Schielsyndrom) sowie an stark vermindertem Sehvermögen beidseits und einer psychomotorischen Retardation. Seit frühester Kindheit hat die Invalidenversicherung deswegen medizinische Massnahmen gewährt, Kostengutsprachen für diverse Hilfsmittel geleistet und ab 1. September 1998 einen Pflegebeitrag für leichte Hilflosigkeit zugesprochen. Mit Verfügung vom 7. Oktober 1999 lehnte die IV-Stelle Bern ein Gesuch um Übernahme der Kosten für eine wöchentliche Lektion Psychomotorik-Therapie ab 1. August 1998 ab.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. Mai 2000 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Vater von K. wiederum die Übernahme der Psychomotorik-Therapie durch die Invalidenversicherung beantragen. Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.- Am 29. April 2002 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) An die Sonderschulung bildungsfähiger Versicherter, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben und denen infolge Invalidität der Besuch der Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist, werden Beiträge gewährt (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 IVG). Die Beiträge umfassen u.a. besondere Entschädigungen für zusätzlich zum Sonderschulunterricht notwendige Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art, wie Sprachheilbehandlung für schwer Sprachgebrechliche, Hörtraining und Ableseunterricht für Gehörgeschädigte sowie Sondergymnastik zur Förderung gestörter Motorik für Sinnesbehinderte und hochgradig geistig Behinderte (Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG). Gemäss Art. 19 Abs. 3 IVG bezeichnet der Bundesrat im Einzelnen die gemäss Absatz 1 erforderlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Beiträgen und setzt deren Höhe fest (Satz 1). Er erlässt Vorschriften über die Gewährung entsprechender Beiträge an Massnahmen für invalide Kinder im vorschulpflichtigen Alter, insbesondere zur Vorbereitung auf die Sonderschulung sowie an Massnahmen für invalide Kinder, die die Volksschule besuchen (Satz 2).
b) Im Rahmen dieser formellgesetzlichen Ausgangslage, namentlich gestützt auf die Rechtsetzungsdelegation in Art. 19 Abs. 3 IVG, hat der Bundesrat in Art. 8 ff. IVV Vorschriften über Massnahmen für die Sonderschulung aufgestellt. In der hier massgebenden Fassung vom 25. November 1996, in Kraft seit 1. Januar 1997, differenziert er dabei zwischen I. Sonderschulunterricht, II. Massnahmen zur Ermöglichung des Volksschulbesuches und III. Massnahmen zur Vorbereitung auf den Sonder- und Volksschulunterricht, wobei überall eine Entschädigung für Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art vorgesehen ist. So umfassen die von der Invalidenversicherung zu übernehmenden Kosten für Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art, die zusätzlich zum Sonderschulunterricht notwendig sind, gemäss Art. 8ter IVV unter bestimmten Voraussetzungen Sprachheilbehandlung, Hörtraining und Ableseunterricht, Massnahmen zum Spracherwerb und Sprachaufbau sowie - für geistig behinderte, blinde und sehbehinderte sowie gehörlose und hörbehinderte Versicherte im Sinne von Art. 8 Abs. 4 lit. a-c IVV - Sondergymnastik zur Förderung gestörter Motorik. Demgegenüber beinhalten die von der Invalidenversicherung zu übernehmenden Kosten für die Durchführung pädagogisch-therapeutischer Massnahmen, die für die Teilnahme am Volksschulunterricht notwendig sind, gemäss Art. 9 IVV Sprachheilbehandlung für sprachbehinderte Versicherte mit schweren Sprachstörungen im Sinne von Art. 8 Abs. 4 lit. e IVV sowie Hörtraining und Ableseunterricht für gehörlose und hörbehinderte Versicherte im Sinne von Art. 8 Abs. 4 lit. c IVV. Dementsprechend sind auch die pädagogisch-therapeutischen Massnahmen, die im vorschulpflichtigen Alter zur Vorbereitung auf den Sonder- und Volksschulunterricht notwendig sind, gemäss Art. 10 IVV auf diese zwei Kategorien sowie zusätzlich auf heilpädagogische Früherziehung beschränkt.
3. a) Die Vorinstanz begründete die Ablehnung der Übernahme der Kosten für eine wöchentliche Lektion Psychomotorik-Therapie durch die Invalidenversicherung damit, dass diese Therapie in der abschliessenden Aufzählung der von der Invalidenversicherung zu übernehmenden, für die Teilnahme am Volksschulunterricht notwendigen Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art in Art. 9 Abs. 2 IVV nicht enthalten ist, welcher sich auf eine gesetzliche Grundlage abstütze. Im Weiteren legte das kantonale Gericht dar, dass die unterschiedliche Regelung der Übernahme pädagogisch-therapeutischer Massnahmen eine Folge der mit der Revision klarer geregelten subventionsrechtlichen Zuständigkeiten betreffend Sonder- und Volksschule sei, indem die Invalidenversicherung für die Sonderschulung sowie die sie ergänzenden pädagogisch-therapeutischen Massnahmen, die Kantone dagegen für den Unterricht an der Volksschule und damit grundsätzlich auch für die ihn ermöglichenden Massnahmen aufzukommen haben. Das Recht der versicherten Person auf die durch die Invalidenversicherung garantierten Leistungen sei nicht eingeschränkt und eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes liege nicht vor.
b) Die Beschwerdeführerin rügt eine Gesetz- und Verfassungswidrigkeit durch die unterschiedliche Behandlung von Kindern, welche die Sonderschule absolvieren und solchen, die mit Hilfe des ambulanten Dienstes einer Sonderschule "integrativ" die Regelschule besuchen. Der Verordnungsgeber sei trotz des ihm eingeräumten Ermessens an die verfassungsmässigen Grundsätze der Rechtsgleichheit und des Willkürverbotes gebunden. Es bestünden keine sachlichen Gründe, schwer sehbehinderte Kinder, welche einer psychomotorischen Therapie bedürften, anders zu behandeln je nachdem, ob sie die Sonder- oder die Volksschule besuchen, wohingegen sprach- oder hörbehinderte Kinder die Massnahme sowohl in der Sonder- wie auch in der Volksschule erhielten. Der Volksschulbereich sei sodann bei der Verordnungsänderung nicht generell den Kantonen zugewiesen worden. An der Ungleichbehandlung ändere auch der von der Vorinstanz angerufene Art. 12 IVV nichts, erlaube er der Invalidenversicherung eine Delegation der Leistungspflicht mit Abgeltung an die Kantone doch nur in denjenigen Bereichen, in welchen sie gestützt auf Art. 9 IVV als leistungspflichtig bezeichnet worden ist.
b) Unter den für die Teilnahme am Volksschulunterricht notwendigen, von der Invalidenversicherung zu übernehmenden Massnahmen gemäss Art. 9 IVV ist die in Frage stehende psychomotorische Therapie hingegen nicht erwähnt. Nach der Rechtsprechung (AHI 2000 S. 74 Erw. 3b) enthält der anlässlich der Revision vom 25. November 1996 aufgenommene Art. 9 IVV in seinem zweiten Absatz, im Unterschied zu dem bis Ende 1996 gültig gewesenen altArt. 8 Abs. 1 lit. c IVV (vgl. BGE 121 V 14 Erw. 3b) eine abschliessende Aufzählung der von der Invalidenversicherung im Falle des Volksschulbesuchs zu entschädigenden Massnahmen. Daran ist festzuhalten. Die vorliegend beantragte Psychomotorik-Therapie fällt nicht in diese Kategorien und kann nach Art. 9 IVV unter dem Titel der pädagogisch-therapeutischen Massnahmen zur Ermöglichung des Volksschulbesuches nicht gewährt werden.
a) Nach der Rechtsprechung kann das Eidgenössische Versicherungsgericht Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei (unselbstständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat im Gesetz eingeräumten Befugnisse halten. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die vom Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen Art. 8 Abs. 1 BV, wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise hätten berücksichtigt werden sollen (BGE 127 V 7 Erw. 5a, BGE 126 II 404 Erw. 4a, 573 Erw. 41, BGE 126 V 52 Erw. 3b, 365 Erw. 3, 473 Erw. 5b, je mit Hinweisen).
b) Nach der Delegationsnorm des Art. 19 Abs. 3 IVG bezeichnet der Bundesrat im Einzelnen die gemäss Absatz 1 erforderlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Beiträgen und setzt deren Höhe fest. Er hat zudem Vorschriften über die Gewährung entsprechender Beiträge an Massnahmen für invalide Kinder im vorschulpflichtigen Alter, insbesondere zur Vorbereitung auf die Sonderschulung sowie an Massnahmen für invalide Kinder, die die Volksschule besuchen, zu erlassen.
Die Beiträge an die Sonderschulung, vor allem auch besondere Entschädigungen für zusätzlich zum Sonderschulunterricht notwendige Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art sind im Gegensatz zu den Massnahmen beim Volksschulbesuch in den Grundzügen in der Gesetzesnorm umschrieben (Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG). Die Differenzierung zwischen Massnahmen im Zusammenhang mit der Sonderschule oder mit der Volksschule mit der Konsequenz allfälliger unterschiedlicher Regelungen ist somit bereits im Gesetz vorgesehen und kann nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden (Art. 191 BV).
Da nebst dem die zu regelnden Massnahmen für Kinder, die die Volksschule besuchen, im Gesetz nicht erwähnt sind, steht dem Bundesrat diesbezüglich ein gewisser Spielraum der Gestaltungsfreiheit zu. Es kann daher nicht gesagt werden, die abschliessende Aufzählung in Art. 9 Abs. 2 IVV falle aus dem Rahmen der delegierten Kompetenzen heraus oder sei sonstwie gesetzwidrig. Unter diesen Umständen darf das Gericht nur dann eine schwer wiegende, durch richterliches Eingreifen auszufüllende Lücke annehmen, wenn die Regelung in Art. 9 Abs. 2 IVV das Willkürverbot (Art. 9 BV) oder das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) verletzen würde (BGE 127 V 7 Erw. 5a, BGE 126 V 52 Erw. 3b, 71 Erw. 4a, BGE 125 V 30 Erw. 6a, mit Hinweisen; AHI 2000 S. 240 Erw. 2b; RKUV 2000 Nr. KV 102 S. 19 Erw. 4a, Nr. U 373 S. 171 Erw. 3).
c) Zu prüfen ist demzufolge, ob die Beschränkung bei den Massnahmen im Zusammenhang mit der Volksschule sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt (Willkür) oder rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt (rechtsungleiche Behandlung; vgl. BGE 127 V 7 Erw. 5a mit Hinweisen; AHI 2000 S. 240 Erw. 2b; RKUV 2000 Nr. KV 102 S. 20 Erw. 4a, Nr. U 373 S. 172 Erw. 3). Zu beurteilen ist mit andern Worten, ob der Bundesrat mit seiner Regelung innerlich unbegründete Unterscheidungen getroffen oder sonstwie unhaltbare, nicht auf ernsthaften sachlichen Gründen beruhende Kriterien aufgestellt hat (BGE 117 V 182 Erw. 3b; SVR 1996 IV Nr. 90 S. 270 Erw. 3b).
Ein solcher Vorwurf kann dem Verordnungsgeber - wie die Vorinstanz einlässlich darlegt - nicht gemacht werden. Ausgangspunkt für die von der Beschwerdeführerin gerügte Regelung der Verordnungsänderung war - wie den Erläuterungen des BSV zu den Änderungen der IVV vom 25. November 1996 entnommen werden kann - die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die pauschale Kostenvergütung von Massnahmen an behinderte Versicherte, welche die Volksschule besuchen, an die Kantone. Grundsätzlich sollten diese Massnahmen im Volksschulbereich - im Gegensatz zum Sonderschulbereich - gestützt auf die Schulhoheit der Kantone deren Sache sein. Wenn Kantone behinderte Kinder in die Volksschule einschulen, sollen sie auch für die dazu notwendigen Massnahmen sorgen. Die Revision bezweckte zudem eine übersichtlichere Darstellung der Massnahmen der Invalidenversicherung im Sonderschulbereich, klarere Definitionen von Begriffen und eine genauere Umschreibung der Anspruchsvoraussetzungen im Bereich der Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art sowie der Transporte. Das Recht auf die durch die Invalidenversicherung garantierten Leistungen wurde dadurch - wie das BSV darlegt - nicht beschränkt. Zutreffend ist zwar der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach die pauschale Kostenvergütung an die Kantone gemäss Art. 12 IVV und somit die Leistungen des Wohnsitzkantons nur die in Art. 9-11 IVV festgelegten Leistungen - und daher die vorliegend umstrittene Therapie eben nicht - betreffen, doch kann sie daraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Dass die zu übernehmenden Massnahmen im Bereich Volksschule nicht deckungsgleich sein müssen mit denjenigen im Bereich Sonderschule, ist - wie erwähnt - eine Konsequenz der Differenzierung im Gesetz. Aus dem gesetzlichen Auftrag an den Bundesrat, Vorschriften über die Gewährung entsprechender Beiträge an Massnahmen für invalide Kinder im vorschulpflichtigen Alter, insbesondere zur Vorbereitung auf die Sonderschulung sowie an Massnahmen für invalide Kinder, die die Volksschule besuchen, zu erlassen, kann kein Anspruch auf Beiträge an alle vier in Art. 19 Abs. 2 IVG erwähnten Kategorien, insbesondere auch nicht auf alle in lit. c dieser Bestimmung erwähnten Massnahmen pädagogisch-therapeutischer Art abgeleitet werden. Es können denn auch gar nicht für alle invaliden Versicherten, welche einer der drei Gruppen I, II oder III gemäss Art. 8 bis 11 IVV angehören, Beiträge aller vier Kategorien des Art. 19 Abs. 2 IVG und alle in Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG aufgelisteten Massnahmen in Betracht kommen. Vielmehr haben Versicherte mit unterschiedlichen Behinderungen auch unterschiedliche Schulungsbedürfnisse und ergibt sich aus verschiedenen schulischen Situationen verschiedener Handlungsbedarf für Massnahmen. Eine Differenzierung war vom Gesetzgeber gewollt und lässt sich auf sachliche Gründe stützen. Die grösstenteils bereits im vorinstanzlichen Verfahren vorgebrachten Einwände der Beschwerdeführerin vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.