BGE 126 V 283
 
48.Auszug aus dem Urteil vom 10. Oktober 2000 i.S. C. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
 
Regeste
Art. 16, Art. 22 Abs. 1, Art. 24 Abs. 2 und 2bis, Art. 25bis IVG: Taggeldanspruch während erstmaliger beruflicher Ausbildung.
- Rz 2046 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über die Berechnung und Auszahlung der Taggelder sowie ihre beitragsrechtliche Erfassung (WTG) ist gesetzmässig.
 
Sachverhalt
A.- Die am 23. März 1976 geborene C. begann am 17. August 1992 die vierjährige Lehre als Metallbauzeichnerin. Diese Ausbildung musste sie infolge eines am 8. Dezember 1992 erlittenen Unfalles abbrechen. Ab 11. Dezember 1992 bezog C. Taggelder der Unfallversicherung und auf Grund eines Beschlusses der Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Zürich vom 22. September 1994 (rückwirkend) ab 1. April 1994 eine ausserordentliche ganze Rente der Invalidenversicherung (Kassenverfügung vom 24. November 1994). Auf den 31. Oktober 1994 stellte der Unfallversicherer die Taggeldleistungen wegen Überentschädigung ein.
Am 6. Februar 1995 begann C. zu Lasten der Invalidenversicherung die (mit einem Vorbereitungskurs beginnende) Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten an der Handelsschule H. in W. (...). Für die auf Antrag der Berufsberaterin bewilligte Verlängerung der Ausbildung um zwei Jahre (1. August 1996 bis 31. Juli 1998) bis zur Erlangung des KV-Diploms sprach die Verwaltung C. für die Zeit vom 1. August bis 31. Dezember 1996 ein Taggeld in der Höhe von 70 Franken zu (Verfügung vom 14. März 1996), desgleichen für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 1998 (Verfügung vom 20. Januar 1998). Darauf kam die IV-Stelle insofern zurück, als sie für die Zeit nach Abschluss der Ausbildung bis zum Beginn der Anstellung bei der Gemeinde V., d.h. vom 6. bis 31. Juli 1998, ein Wartetaggeld in unveränderter Höhe zusprach (Verfügung vom 25. August 1998).
B.- C. liess gegen alle drei Taggeldverfügungen Beschwerde erheben und beantragen, diese seien insoweit aufzuheben, als ihr damit ein Taggeld von nicht mehr als 70 Franken zugesprochen werde, und es sei die Sache zur Neuberechnung (unter Berücksichtigung des Anspruchs auf Taggelder der Unfallversicherung) an die Verwaltung zurückzuweisen. Nach Vernehmlassung(en) der IV-Stelle, zweitem Schriftenwechsel und Beizug der Akten der Unfallversicherung im Rahmen des ersten anhängig gemachten Verfahrens wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheiden vom 4. März 1999 alle drei Rechtsmittel ab.
C.- C. hat drei Verwaltungsgerichtsbeschwerden einreichen lassen mit den gleichlautenden Rechtsbegehren, es sei der (jeweilige) kantonale Entscheid aufzuheben und "die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese - unter Anwendung von Art. 25bis IVG - die (...) Beschwerde materiell prüfe".
Während die IV-Stelle auf eine Stellungnahme verzichtet, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) im Sinne der Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Art. 25bis IVG lautet: "Hatte ein Versicherter bis zur Eingliederung Anspruch auf ein Taggeld nach dem Unfallversicherungsgesetz, so entspricht der Gesamtbetrag des Taggeldes mindestens dem bisher bezogenen Taggeld der Unfallversicherung." Sinn und Zweck dieser Koordinationsregel ist, ein leistungsmässiges Absinken des bisherigen Bezügers von Taggeldern der Unfallversicherung nach der Aufnahme einer von der Invalidenversicherung übernommenen Eingliederung mit dementsprechend nach Massgabe der invalidenversicherungsrechtlichen Regeln ermittelten Taggeldern zu verhindern (BGE 120 V 179 Erw. 3a, BGE 119 V 128 Erw. 4b sowie AHI 1999 S. 46 Erw. 1b mit Hinweisen auf die Materialien). Art. 25bis IVG enthält somit eine Besitzstandsgarantie (BGE 119 V 126 Erw. 2c) im Umfang des allenfalls nach Art. 40 UVG gekürzten Taggeldes der Unfallversicherung (BGE 120 V 177; MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: MURER/STAUFFER [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 184).
b) Für die Beantwortung der in Erw. 1 gestellten Rechtsfrage ist von Bedeutung, dass das Gesetz beim invalidenversicherungsrechtlichen Taggeldanspruch eine Differenzierung vornimmt, welche sich in unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen niederschlägt. Während bei Erwerbstätigen im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Satz 1 IVG das mit der zuletzt voll ausgeübten Tätigkeit erzielte Einkommen für die Berechnung der Höhe des Taggeldes massgebend ist (Art. 24 Abs. 2 IVG), erhalten u.a. Versicherte in der erstmaligen beruflichen Ausbildung (Art. 16 IVG) höchstens den Mindestbetrag der Entschädigungen gemäss Art. 9 Abs. 1 und 2 EOG sowie allenfalls die Zuschläge nach den Art. 24bis und 25 IVG (Art. 24 Abs. 2bis IVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG; vgl. auch BGE 118 V 12 Erw. 1b zu den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffen "grosses Taggeld" und "kleines Taggeld"). Demgegenüber wird das Taggeld der Unfallversicherung einheitlich auf der Grundlage des versicherten Verdienstes (und des Grades der Arbeitsunfähigkeit) bemessen (Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 UVG).
3. a) Die Vorinstanz hat die Frage, ob Art. 25bis IVG auch beim "kleinen Taggeld" (Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG und dazugehörige Bemessungsvorschriften, insbesondere Art. 24 Abs. 2bis IVG) zur Anwendung kommt, verneint, weil diese Koordinationsbestimmung ausschliesslich auf Taggelder zugeschnitten sei, die sich grundsätzlich nach dem vor dem Unfall effektiv erzielten Erwerbseinkommen bemässen (vgl. Art. 15 UVG und Art. 23 UVV sowie Art. 24 Abs. 2 IVG). Dies ergebe sich aus dem klaren Wortlaut des Art. 24 Abs. 2bis IVG, wonach u.a. Versicherte in der erstmaligen beruflichen Ausbildung höchstens den Mindestbetrag der Entschädigungen gemäss Art. 9 Abs. 1 und 2 EOG sowie allenfalls Zuschläge nach den Art. 24bis und 25 IVG erhalten, und der ausdrücklichen Absicht des Gesetzgebers, das erst im Rahmen der zweiten IV-Revision auf den 1. Juli 1987 eingeführte "kleine Taggeld" nicht einkommensbezogen zu bemessen. Dieser Auslegung stehe die Gesetzessystematik, die den Anschein erwecke, Art. 25bis IVG beziehe sich auf alle Arten von Taggeldern, nicht entgegen, da Art. 24 Abs. 2bis IVG jüngeren Datums sei.
b) Der vorinstanzlichen Interpretation ist mit der Beschwerdeführerin und dem Bundesamt entgegenzuhalten, dass Art. 25bis IVG nach seinem klaren Wortlaut und seiner Stellung im Gesetz nicht danach unterscheidet, ob der oder die Versicherte Anspruch auf ein "grosses Taggeld" im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Satz 1 IVG oder ein "kleines Taggeld" nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG hat. Es bestehen keine triftigen Gründe für eine davon abweichende einschränkende (reduzierende) Auslegung in dem Sinne, dass die Besitzstandsgarantie lediglich Bezügern eines "grossen Taggeldes" zugute kommen soll (zur so genannten "teleologischen Reduktion" vgl. BGE 126 III 54 Erw. 2d/bb, BGE 123 III 218 oben, BGE 121 III 224 ff. Erw. 1d/aa, je mit Hinweisen auf die Lehre). Wenn die Vorinstanz aus der grundsätzlich einkommensbezogenen Bemessung des Taggeldes der Unfallversicherung folgert, Art. 25bis IVG gelte nur für Taggelder der Invalidenversicherung, die ebenfalls auf einer solchen Grundlage festgesetzt werden, somit für das "kleine Taggeld" nicht, verkennt sie, dass diese Vorschrift allgemein das taggeldrechtliche Verhältnis zur Unfallversicherung während der Eingliederung regelt, ohne nach der Art der Bemessung des Taggeldes der Invalidenversicherung zu differenzieren. In diesem Zusammenhang kann auch der Umstand, dass Art. 24 Abs. 2bis IVG erst nachträglich ins Gesetz eingefügt wurde bei gleichzeitiger Änderung von Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG (vgl. MEYER-BLASER, a.a.O., S. 175 f.), nicht als Argument dafür gelten, Art. 25bis IVG als die ältere Bestimmung sei bei Versicherten, welche Anspruch auf ein "kleines Taggeld" haben, nicht anwendbar. Im Gegenteil hätte der Gesetzgeber, wenn dies die Meinung gewesen wäre, wofür indessen in den Materialien keine Hinweise zu finden sind, Art. 25bis IVG entsprechend geändert, wie das Bundesamt zu Recht vorbringt. Schliesslich ist auch unter dem Gesichtswinkel des verfassungsrechtlichen Rechtsgleichheitsgebotes (Art. 8 Abs. 1 BV) kein sachlicher Grund erkennbar, der für eine je nach Art der Bemessung des Taggeldes der Invalidenversicherung unterschiedliche Bedeutung und Tragweite der in Art. 25bis IVG enthaltenen Besitzstandsgarantie spräche.
c) Als Auslegungsergebnis ist somit festzuhalten, dass Art. 25bis IVG auch bei Versicherten zur Anwendung kommt, welche Anspruch auf ein nach Art. 24 Abs. 2bis IVG und den dazugehörigen Vorschriften bemessenes "kleines Taggeld" haben. Die in diesem Sinne lautende Verwaltungspraxis (Rz 2046 [bis 28. Februar 1998: 2049] der vom BSV herausgegebenen Wegleitung über die Berechnung und Auszahlung der Taggelder sowie ihre beitragsrechtliche Erfassung [WTG]) ist somit gesetzmässig.
4. Entgegen dem Bundesamt schliesst der Umstand, dass die Beschwerdeführerin vor Beginn der erstmaligen beruflichen Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten am 6. Februar 1995 eine ganze ausserordentliche Invalidenrente bezog und auf Grund der Überentschädigungsverbotsregelung des Art. 40 UVG keine Taggelder der Unfallversicherung zur Ausrichtung gelangten, die Anwendung des Art. 25bis IVG nicht aus. Dies ergibt sich aus dem Vorrang dieser Besitzstandsnorm vor den allgemeinen koordinationsrechtlichen Bestimmungen bei Zusammentreffen von mehreren Leistungen der Invalidenversicherung (BGE 120 V 177) und daraus, dass Art. 25bis IVG auch während der Eingliederung spielt, indem namentlich allfällige Erhöhungen des Taggeldes der Unfallversicherung, welche der Unfallversicherer im Hinblick auf die mutmassliche Lohnentwicklung gestützt auf Art. 23 Abs. 7 UVV vorgenommen hätte, zu berücksichtigen sind (BGE 119 V 121 und AHI 1999 S. 49 Erw. 5c).
(...)