BGE 110 V 199
 
31. Urteil vom 5. Juni 1984 i.S. Dumex AG gegen Bundesamt für Sozialversicherung und Eidgenössisches Departement des Innern
 
Regeste
Art. 12 Abs. 6 KUVG, Art. 4 und 6 Vo VIII, Art. 6 Vf 10: Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln.
- Bedeutung von Art und Menge des in einem Arzneimittel enthaltenen Wirkstoffes bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss Art. 6 Vf 10 (Erw. 3a).
- Im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 lit. b Vf 10 bestimmen sich die Kosten eines Arzneimittels in der Regel aufgrund der im Packungsprospekt bzw. im Codex Galenica angegebenen Dosierungsvorschriften (Erw. 3b).
- Beim Kostenvergleich gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. b Vf 10 sind auch die Verabreichungskosten von Arzneimitteln zu berücksichtigen, wenn diesbezüglich erhebliche Unterschiede zwischen den Vergleichspräparaten bestehen (Erw. 3c).
 
Sachverhalt
A.- Die Firma Dumex AG vertreibt das Präparat BETOLVEX Amp., das vorab der Behandlung der perniziösen Anämie dient und seit 1976 zu einem Preis von Fr. 20.80 (Amp. zu 1 mg) in der Spezialitätenliste aufgeführt ist.
Im September 1979 teilte das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) der Dumex AG mit, der Preis des BETOLVEX liege erheblich über demjenigen der Vergleichspräparate und müsse herabgesetzt werden, falls das Präparat in der Spezialitätenliste verbleiben solle. Die Firma beauftragte ihren wissenschaftlichen Berater Prof. Chiesara mit einer Stellungnahme, worauf das BSV einen Bericht von Prof. Maier, Zürich, einholte. Gestützt hierauf gelangte die Eidgenössische Arzneimittelkommission (EAK) am 8. Mai 1980 zum Schluss, dass das BETOLVEX gegenüber vergleichbaren Präparaten zu teuer sei. Nach einem weiteren Schriftenwechsel erliess das BSV am 25. November 1980 eine Verfügung, mit welcher es eine Preissenkung von Fr. 20.80 auf Fr. 6.80 verlangte.
B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich die Dumex AG, wobei sie auf die therapeutischen Vorteile des BETOLVEX hinwies und geltend machte, beim Wirtschaftlichkeitsvergleich seien auch die Verabreichungskosten der einzelnen Präparate zu berücksichtigen. Als noch akzeptablen Mindestpreis bezeichnete die Firma einen solchen von Fr. 15.50 bis Fr. 16.50.
Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) beauftragte Prof. Bucher, Direktor des Hämatologischen Zentrallabors am Inselspital Bern, mit einem Gutachten. In der Folge unterbreitete die Firma den Vorschlag, es sei anstelle der Packung mit einer Ampulle eine solche mit 5 Ampullen zum Preise von Fr. 34.- (= Fr. 6.80 pro Ampulle) in die Spezialitätenliste aufzunehmen. Das EDI trat hierauf mit der Feststellung nicht ein, dass die grössere Packungseinheit Gegenstand eines neuen Aufnahmeverfahrens bilden müsste. Im übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 4. Mai 1983).
C.- Die Dumex AG lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei das Präparat BETOLVEX zum bisherigen Preis, eventuell zu einem solchen von Fr. 16.50 in der Spezialitätenliste zu belassen. Das EDI schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.- Am 4. August 1983 eröffnete das BSV der Dumex AG, dass es - nachdem eine aufschiebende Wirkung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht beantragt worden sei - beabsichtige, die Preissenkung auf den 15. September 1983 vorzunehmen.
Auf Gesuch vom 10. August 1983 hat der Präsident des Eidg. Versicherungsgerichts der Verwaltungsgerichtsbeschwerde aufschiebende Wirkung erteilt (Verfügung vom 23. September 1983).
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
b) Gemäss Art. 6 Abs. 1 Vo VIII ist ein in die Spezialitätenliste aufgenommenes Arzneimittel u.a. dann zu streichen, wenn es nicht mehr alle Voraussetzungen gemäss Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung erfüllt (lit. a). Daraus folgt, dass der Verbleib eines Arzneimittels in der Liste von einer Preissenkung abhängig gemacht werden kann, wenn das Präparat dem Erfordernis der Wirtschaftlichkeit nicht mehr genügt. Dabei sind grundsätzlich die gleichen Kriterien anzuwenden, wie sie bei der Aufnahme von Arzneimitteln in die Spezialitätenliste gelten.
Während die materielle Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für den Verbleib eines Arzneimittels in der Spezialitätenliste erfüllt sind, bei der betroffenen Firma liegt, hat die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes nach dem Untersuchungsgrundsatz von Amtes wegen zu erfolgen. Der Untersuchungsgrundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt und findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (Art. 13 VwVG; BGE 110 V 52 Erw. 4a).
Im Verfahren betreffend die Aufnahme von Arzneimitteln in die Spezialitätenliste besteht praxisgemäss eine weitgehende Mitwirkungspflicht der antragstellenden Firma. Im Streichungsverfahren ist demgegenüber die vom Aufnahmeverfahren abweichende Ausgangssituation zu berücksichtigen. Während das Aufnahmeverfahren von der antragstellenden Firma eingeleitet wird, welche aufgrund der ihr obliegenden Mitwirkungspflicht (Art. 13 VwVG) die Unterlagen vorzulegen hat, die zumutbarerweise von ihr verlangt werden können, geht das Streichungsverfahren von der zuständigen Behörde aus. Diese darf das Verfahren nicht willkürlich in Gang setzen und von der Firma ohne ersichtlichen Grund Unterlagen dafür verlangen, dass die Aufnahmevoraussetzungen weiterhin erfüllt sind. Sie wird vielmehr zunächst von sich aus den Fortbestand der Voraussetzungen überprüfen und erst, wenn ernsthafte Zweifel bestehen, das Streichungsverfahren eröffnen, unter Gewährung des rechtlichen Gehörs einerseits und unter Inanspruchnahme der Mitwirkungspflicht der betroffenen Firma anderseits (BGE 110 V 112 Erw. 3). Diese Grundsätze gelten sinngemäss im Preissenkungsverfahren.
3. a) Die streitige Verfügung des BSV vom 25. November 1980 und der ihr zugrundeliegende Beschluss der EAK vom 8. Mai 1980 stützen sich u.a. auf eine gutachtliche Stellungnahme von Prof. Maier, Zürich, vom 21. November 1979. Darin wird ein Vergleich der Jahreskosten für die Erhaltungstherapie mit BETOLVEX einerseits und B 12-DEPOT Siegfried anderseits angestellt und das BETOLVEX als unwirtschaftlich bezeichnet. In einer weiteren Stellungnahme vom 6. November 1980 anerkannte Prof. Maier den von der Beschwerdeführerin erhobenen Einwand, wonach die Langzeitwirkung des BETOLVEX gegenüber den Vergleichspräparaten auf der Basis von Hydroxocobalamin (wie das B 12-DEPOT Siegfried) wesentlich besser sei; er hielt jedoch daran fest, dass das BETOLVEX zu teuer sei, und schlug eine Preissenkung auf ein Drittel vor. Im vorinstanzlichen Verfahren unterbreitete die Beschwerdeführerin ihrerseits einen Kostenvergleich für die Erhaltungstherapie mit den Präparaten BETOLVEX, BEDU-DEPO Syntex und B 12-DEPOT Siegfried.
Aufgrund der geltenden Dosierungsvorschriften ermittelte sie Jahresbehandlungskosten von Fr. 83.20 für BETOLVEX, Fr. 189.28 für BEDU-DEPO Syntex und Fr. 68.64 für B 12-DEPOT Siegfried. Das BSV und das EDI wenden hiegegen ein, ein Vergleich zwischen BETOLVEX und BEDU-DEPO Syntex könne nicht gezogen werden, weil letzteres rund 25mal mehr Wirkstoff enthalte (BETOLVEX: Amp. à 1 ml, Konz. 1 mg/ml; BEDU-DEPO: Amp. à 5 ml, Konz. 5 mg/ml).
Nach Art. 6 Abs. 2 lit. a und b Vf 10 kommt es im Verhältnis zu andern Arzneimitteln auf die "gleiche Indikation oder ähnliche Wirkungsweise" an. Ausgangspunkt für den Vergleich hat somit nicht der Wirkstoff, sondern die Indikation bzw. Wirkungsweise zu sein. Weil mit einem billigeren Wirkstoff oder einer geringeren Wirkstoffmenge unter Umständen eine gleichwertige oder gar bessere Heilwirkung erzielt werden kann, können Art und Menge des Wirkstoffes für sich allein nicht entscheidend sein. BEDU-DEPO kann daher nicht schon deshalb als Vergleichspräparat ausgeschlossen werden, weil es mehr Wirkstoff als BETOLVEX enthält; massgebend ist, ob es mit Bezug auf seine Wirkung vergleichbar ist oder nicht. Diesbezüglich ist dem von der Vorinstanz eingeholten Gutachten von Prof. Bucher zu entnehmen, dass sich die im Handel befindlichen Vitamin-B-12-Präparate ungeachtet der verschiedenen Wirkstoffe (Hydroxocobalamin, Cyanocobalamin) und galenischen Formen (wässerige Lösung, Gel) hinsichtlich ihrer Wirkungsweise nicht wesentlich unterscheiden und daher miteinander vergleichbar sind. Dies bedeutet indessen nicht, dass ein Kostenvergleich mit sämtlichen, in der Spezialitätenliste enthaltenen Vitamin-B-12-Präparaten zu erfolgen hat. Weil von mehreren Arzneimitteln mit gleichem Wirkstoff das billigere grundsätzlich - und vorbehältlich weiterer relevanter Gesichtspunkte wie des Unterschiedes zwischen Original- und Nachahmerpräparaten sowie der Preisgestaltung im ausländischen Herstellerland - auch als wirtschaftlicher gilt, kann der Kostenvergleich zunächst auf Präparate mit gleichem Wirkstoff beschränkt werden. Mit dem hier vorgenommenen Kostenvergleich lässt sich die verfügte Preissenkung jedoch nicht begründen, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
b) Das BETOLVEX dient - wie die Vergleichspräparate B 12-DEPOT Siegfried und BEDU-DEPO Syntex - der Behandlung von Vitamin-B-12-Mangelzuständen, insbesondere in Form der perniziösen Anämie. Nach einer Initialbehandlung, mit welcher ein normaler Vitamin-B-12-Spiegel hergestellt wird, bedarf es einer in der Regel lebenslänglichen Erhaltungstherapie (Gutachten Prof. Bucher vom 20. Oktober 1982). Demzufolge rechtfertigt es sich, dem Kostenvergleich die Jahresbehandlungskosten für die Erhaltungstherapie zugrunde zu legen.
Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass bei der Therapie mit BETOLVEX eine weitaus geringere Dosis nötig sei als bei den Vergleichspräparaten, was auf die unterschiedliche Resorption der Präparate zurückzuführen sei. Sie macht geltend, beim Kostenvergleich sei auf die für die einzelnen Präparate geltenden Dosierungsvorschriften abzustellen. Dieser Auffassung ist grundsätzlich beizupflichten. Auszugehen ist davon, dass die in den Packungsprospekten und im Codex Galenica angegebenen Dosierungsvorschriften von den Ärzten tatsächlich gehandhabt werden. Sie sind daher auch als massgebend zu erachten für die Kosten eines bestimmten Arzneimittels.
c) Die Beschwerdeführerin macht des weitern geltend, bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung seien auch die unterschiedlichen Verabreichungskosten der Vergleichspräparate zu berücksichtigen. Sie beruft sich darauf, dass in Art. 6 der Vf 10 von der indizierten Heilwirkung und den Kosten pro Tag und Kur die Rede sei. Hiezu gehörten aber auch die Kosten der Verabreichung eines Heilmittels, falls diese nur durch fachlich geschultes Personal erfolgen könne. Das EDI vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die gesetzlichen Beurteilungskriterien einen Einbezug der Kosten von sozio-medizinischen Faktoren ausschlössen und dass einer Berücksichtigung der Verabreichungskosten auch praktische Schwierigkeiten entgegenstünden. Im vorliegenden Fall erübrige sich eine Berücksichtigung der Verabreichungskosten zudem schon deshalb, weil sie für sämtliche Vergleichspräparate ungefähr in gleicher Höhe zu veranschlagen wären. Dies trifft aufgrund der unterschiedlichen Dosierungsvorschriften, auf welche nach dem Gesagten abzustellen ist, indessen nicht zu. Es ist daher zu prüfen, ob die Verabreichungskosten Bestandteil der Wirtschaftlichkeitsprüfung bilden.
Dem EDI ist darin beizupflichten, dass Gegenstand der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Vo VIII und der Vf 10 grundsätzlich allein das Arzneimittel ist (vgl. BGE 109 V 222). Die entsprechenden Vorschriften stehen jedoch unter dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot des Art. 23 KUVG. Diese Bestimmung verpflichtet zur Wirtschaftlichkeit der Behandlung und stellt eine Schutzvorschrift für die Versicherten und die Krankenkassen dar (BGE 103 V 151 Erw. 3). Sie richtet sich zwar an Medizinalpersonen und Heilanstalten; das Gebot wirtschaftlicher Behandlung setzt aber voraus, dass auch die Spezialitäten und konfektionierten Arzneimittel in der Spezialitätenliste diesem Erfordernis gerecht werden. Insofern wendet sich Art. 23 KUVG auch an die Instanzen, welche für Prüfung und Bezeichnung der den Krankenkassen empfohlenen Arzneimittel zuständig sind, und ist von diesen ebenfalls zu beachten (BGE 109 V 214, BGE 108 V 147). Art. 23 KUVG beinhaltet zusätzliche Kriterien, wie insbesondere das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen einer Therapie, welche bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln zu berücksichtigen sind (BGE 102 V 79). Im Rahmen dieses allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebotes sind auch die Verabreichungskosten von Arzneimitteln in Betracht zu ziehen. Denn es ist offensichtlich, dass die mit einem Arzneimittel notwendigerweise verbundenen Verabreichungskosten dessen Wirtschaftlichkeit beeinflussen. Gestützt auf Art. 23 KUVG rechtfertigt es sich daher, die Verabreichungskosten auch bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. b Vf 10 zu berücksichtigen, wenn diesbezüglich erhebliche Unterschiede zwischen den Vergleichspräparaten bestehen. Im vorliegenden Fall kann somit nicht unbeachtet bleiben, dass die Erhaltungstherapie beim BETOLVEX eine Injektion jeden dritten Monat erfordert, wogegen das BEDU-DEPO Syntex wöchentlich und das B 12-DEPOT Siegfried wöchentlich oder alle 14 Tage zu verabreichen ist. Einer Berücksichtigung der hieraus sich ergebenden unterschiedlichen Verabreichungskosten stehen die von der Vorinstanz erwähnten praktischen Schwierigkeiten nicht entgegen. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht bemerkt, lassen sich die Kosten aufgrund eines durchschnittlichen kantonalen Tarifs ermitteln. Im übrigen kann auf Schätzungen abgestellt werden, wobei der Verwaltung ein weiter Ermessensspielraum zusteht.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des EDI vom 4. Mai 1983 und die Verfügung vom 25. November 1980 aufgehoben, und es wird die Sache zur näheren Abklärung im Sinne der Erwägungen und zur Neubeurteilung an das BSV zurückgewiesen.