BGE 104 V 103
 
24. Auszug aus dem Urteil vom 5. Juli 1978 i.S. Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, St. Gallen, gegen Weder und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
 
Regeste
Anrechenbarer Verdienstausfall (Art. 23 Abs. 1 AlVV).
 
Sachverhalt
A.- Barbara Weder trat nach dem Diplomabschluss am Kindergärtnerinnenseminar am 25. April 1977 eine Halbtagsstelle am Vorkindergarten B. an, wo sie für 10 Arbeitsstunden pro Woche entschädigt wurde. Am 9. Mai 1977 machte sie Arbeitslosenentschädigung seit April 1977 geltend. Die Angelegenheit wurde von der kantonalen Arbeitslosenversicherungskasse St. Gallen als Zweifelsfall dem Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA) unterbreitet. Dieses verneinte mit Verfügung vom 29. Juni 1977 einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, weil die wöchentliche Normalarbeitszeit von Fräulein Weder 10 Stunden und die tägliche Normalarbeitszeit 1,66 Stunden betrage (Art. 23 Abs. 2 AlVV vom 14. März 1977).
B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich Barbara Weder beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, welches die Beschwerde am 27. Oktober 1977 in dem Sinne guthiess, dass die Arbeitszeit von 10 Stunden nicht der normalen Arbeitszeit im Sinne von Art. 23 Abs. 1 AlVV entspreche, sondern vielmehr die Pflichtstundenzahl von zwanzig die normale Arbeitszeit darstelle.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das KIGA die Aufhebung des Entscheides des kantonalen Versicherungsgerichtes.
Während Barbara Weder sinngemäss die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, erachtet das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit eine Anspruchsberechtigung grundsätzlich als gegeben.
 
Erwägungen:
Das KIGA begründete seine Verfügung zur Hauptsache damit, dass nur der Ausfall der persönlichen Arbeitszeit Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung gebe. Als solche gelte die Arbeitszeit, während welcher der Versicherte üblicherweise beschäftigt werde. Wenn Barbara Weder vereinbarungsgemäss 10 Wochenstunden unterrichte, so gelte die auf dieser Abmachung beruhende Arbeitszeit als normale Arbeitszeit im Sinne von Art. 23 Abs. 1 AlVV.
Zu dieser Argumentation nahm das Bundesamt in seinem Schreiben vom 24. Oktober 1977 an die Vorinstanz wie folgt Stellung:
"Vom formalen Gesichtspunkt aus ist der Hinweis des KIGA auf Art. 23 Abs. 1 AlVV zutreffend. Wenn die Rekurrentin nur eine Halbtagsbeschäftigung annehmen wollte, hat sie in der Tat keinen anrechenbaren Verdienstausfall erlitten, da in diesem Fall die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit ihrer "normalen" Arbeitszeit entspricht.
Sofern jedoch die Rekurrentin nachweisen kann, dass sie die Halbtagsstelle nur deshalb angenommen hat, weil sie trotz ernsthafter Bemühungen keine Ganztagsstelle finden konnte und sie somit die Halbtagsstelle zur Vermeidung von Ganzarbeitslosigkeit akzeptiert hat, kommt die zitierte Norm nicht zum Zuge. Hinter der förmlichen Vereinbarung der Halbtagstätigkeit steht der wirtschaftliche Zwang, nicht der freie Wille der Rekurrentin."
Die Vorinstanz ging von dieser differenzierteren Betrachtungsweise aus und vertrat die Auffassung, dass Barbara Weder die Halbtagsstelle nur zur Vermeidung von Ganzarbeitslosigkeit akzeptiert habe. Die Arbeitszeit von 10 Stunden entspreche daher nicht der normalen Arbeitszeit im Sinne von Art. 23 Abs. 1 AlVV. Vielmehr müsse die Pflichtstundenzahl von 20 Stunden als normale Arbeitszeit betrachtet werden, so dass Barbara Weder während 10 Stunden einen anrechenbaren Verdienstausfall erleide.
Das KIGA wirft nun Barbara Weder vor, sie habe sich gemäss Art. 9 Abs. 1 AlVV zu wenig um eine zumutbare Arbeit, unter der auch eine ausserberufliche Tätigkeit verstanden werden müsse, bemüht. Als Beweis dafür legt es die Stellenbulletins vom 6. und 20. April 1977 vor und verweist auf die damals offenen Stellen als Bürogehilfin, Kontrolleurin und Textilarbeiterin. Überdies sei Art. 26 Abs. 1 AlVG verletzt, wonach für die Bezugsberechtigung auch noch die Vermittlungsfähigkeit erforderlich sei, die ihrerseits eine genügende Vermittlungsbereitschaft voraussetze. Diese sei nicht mehr gewährleistet gewesen, nachdem Barbara Weder die Halbtagsstelle angenommen habe.
Nach Art. 9 AlVV gilt eine Arbeit als zumutbar, wenn sie den berufs- und ortsüblichen Bedingungen entspricht, den Fähigkeiten und dem Gesundheitszustand des Versicherten angemessen ist und ihn sittlich nicht gefährdet. Überdies darf die Arbeit die künftige berufliche Tätigkeit des Versicherten nicht wesentlich erschweren, es sei denn, dass in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Wiederbeschäftigung in seinem Beruf besteht. Die Annahme einer ausserberuflichen Tätigkeit in einem Büro oder als Textilarbeiterin wäre hier aber, insbesondere wegen des offenbar grossen Andranges, für das Bestreben Barbara Weders, als Kindergärtnerin eine Stelle zu finden, hinderlich gewesen. Allerdings muss eingeräumt werden, dass für Pädagogen eine berufsfremde Arbeit während einer beschränkten Zeit durchaus wertvoll sein kann und gewissenorts sogar vorgeschrieben ist. Daneben ist es aber bei Stellenbewerbungen von besonderem Vorteil, wenn der Bewerber auch über praktische Erfahrungen in seinem Beruf verfügt. Es ist daher verständlich, dass Barbara Weder die Gelegenheit, wenigstens halbtags in einem Kindergarten tätig zu sein, benutzte, um damit erste Erfahrungen zu gewinnen und dadurch die Chancen zu verbessern, in ihrem Beruf eine volle Beschäftigung zu finden. Mithin ist hier die Situation nicht mit jener zu vergleichen, in welcher ein Lehrer nur deshalb kurzdauernde Vikariate übernimmt, weil er ein freies Leben führen will (ARV 1977 Nr. 15). Abgesehen davon besteht die Sanktion bei Nichtbemühen um zumutbare Arbeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. f AlVG lediglich in der Einstellung in der Anspruchsberechtigung für eine bestimmte Zeit und nicht in der gänzlichen Verweigerung von Arbeitslosenentschädigung.
Das Vorgehen Barbara Weders ist auch deshalb nicht zu beanstanden, weil sie sich für die übrige Zeit dem Arbeitsamt zur Verfügung hielt und selber eine weitere Halbtagsstelle suchte. In einer Halbtagsbeschäftigung kann nicht zum vornherein eine Vermittlungsunfähigkeit im Sinne von Art. 26 Abs. 1 AlVG erblickt werden. Vielmehr bedarf es der Prüfung aller Umstände, wobei der persönlichen Situation Rechnung zu tragen ist (BGE 99 V 114, insbesondere 116-117 mit Hinweisen; unveröffentlichtes Urteil Meylan vom 1. April 1976). In ihrer Vernehmlassung vom 18. März 1978 weist Barbara Weder glaubhaft darauf hin, dass sie sich beim Arbeitsamt bereit erklärt habe, jede zugewiesene Halbtagsstelle für den Nachmittag (vormittags arbeitete sie im Vorkindergarten in B.) anzunehmen; Herr D., Verwalter des Arbeitsamtes X., habe aber für sie keine solche Beschäftigung finden können. Es wird denn auch nicht geltend gemacht, sie selbst habe sich zu wenig um eine zusätzliche Halbtagsstelle bemüht. In ihrer besonderen Situation kann ihr weder vorgeworfen werden, sie habe keine Vermittlungsbereitschaft gezeigt noch sich zu wenig um zumutbare Arbeit bemüht. Das Vorgehen Barbara Weders erwies sich überdies als zweckmässig, konnte sie doch ab 23. Oktober 1977 den Vorkindergarten B. ganztägig führen und wurde sie ab April 1978 von der Evangelischen Schulgemeinde B. als Kindergärtnerin fest angestellt. Damit wird auch der Hinweis des KIGA auf den letzten Satz von Art. 9 Abs. 1 AlVV gegenstandslos.
Somit kann nicht behauptet werden, die vereinbarte halbtägige Arbeitszeit entspreche der "normalen" Arbeitszeit. Da die Halbtagsbeschäftigung nur aus wirtschaftlichem Zwang übernommen wurde, muss die Pflichtstundenzahl von 20 Stunden pro Woche als normale Arbeitszeit angesehen werden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.