BGE 104 V 79
 
17. Urteil vom 28. Juni 1978 i. S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Romer und Verwaltungsgericht des Kantons Zug
 
Regeste
Art. 12 Abs. 1 IVG.
 
Sachverhalt
A.- Trudy Romer (geb. 1943) zog sich am 28. November 1958 eine Verletzung des rechten Ellbogens zu. In der Folge entwickelte sich eine chronische Osteomyelitis und es mussten über 50 Operationen vorgenommen werden. Mit Verfügungen vom 9. August 1961 und 11. Mai 1967 lehnte die Ausgleichskasse die Gewährung medizinischer Massnahmen ab, sprach dagegen 1970 eine Versteifungsoperation zu (Verfügung vom 3. September 1970, die am 12. Juni 1972 verlängert wurde). Mit Verfügungen vom 30. Mai 1974 und 6. Juni 1975 übernahm sie je einen Oberarm-Apparat. Die Versicherte bezieht seit 1. Februar 1965 eine ganze einfache Invalidenrente (Verfügung vom 12. Mai 1965), welche am 18. April 1974 mit Wirkung ab 1. Mai 1974 auf eine halbe reduziert wurde. Die Versicherte arbeitet als Pferdepflegerin und Hilfs-Reitlehrerin.
Am 14. Juli 1976 ersuchte der Sozialdienst des Inselspitals Bern die Invalidenversicherungs-Kommission, die Verfügung vom 12. Juni 1972 zu verlängern, da die 1970 und wiederum 1972 vorgesehene Versteifungsoperation noch nicht durchgeführt worden sei; Prof. Dr. med. M. werde eine Operation am rechten Ellbogen vornehmen. Aus einem Bericht der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Chirurgie des Bewegungsapparates des Inselspitals Bern vom 17. August 1976 geht hervor, dass Prof. M. am 23. Juli 1976 eine Spanplastik am distalen Humerus und an der proximalen Ulna rechts durchgeführt hat; bei Spitalaustritt hätten ordentliche Narbenverhältnisse am rechten Ellbogen und Parästhesien im Ulnarisbereich vorgelegen; die Patientin sei mit einem gespaltenen Oberarmgips entlassen worden. Nach Angaben des Arztes der Invalidenversicherungs-Kommission wird die Operation vom Juli 1976 nicht zur Aufhebung der halben Rente führen und es der Versicherten auch nicht ermöglichen, die angestrebte Reitlehrer-Prüfung zu bestehen; es liege keine medizinische Eingliederungsmassnahme vor. Mit Verfügung vom 3. September 1976 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch um Übernahme der Operation ab.
B.- Beschwerdeweise liess die Versicherte durch Dr. med. N., Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Chirurgie des Bewegungsapparates der Universität Bern, die Übernahme der im Juli 1976 durchgeführten Operation beantragen. Zur Begründung wurde folgendes geltend gemacht:
"Wie Sie wissen, leidet Fräulein Romer an einer heute nicht mehr infizierten Pseudarthrose des rechten Ellbogens bei Status nach einer posttraumatischen Osteitis im Ellbogenbereich. Seit einigen Jahren ist nun keine Infektion mehr vorhanden. Fräulein Romer trug einen Schienenhülsenapparat und war damit 50% arbeitsfähig. In letzter Zeit hat der Apparat ihr vermehrt Beschwerden gemacht. Herr Professor M. hat im Juli 1976 den Ellbogen nun mit Beckenspänen wieder aufgebaut, um nachträglich eine Ellbogenprothese einsetzen zu können. Mit der Ellbogenprothese hat Fräulein Romer wieder einen stabilen und beweglichen Ellbogen. Dadurch würde zweifellos die heute bestehende Arbeitsfähigkeit von lediglich 50% gesteigert, so dass mit einer wesentlichen Verbesserung der Arbeitsfähigkeit gerechnet werden kann. Die Operation vom Juli 1976 ist an sich nur eine vorbereitende Operation im Sinne des knöchernen Wiederaufbaues des Ellbogens. Die für das Jahr 1977 vorgesehene Ellbogenprothese würde aber eine wesentliche Verbesserung zur Folge haben."
Die Invalidenversicherungs-Kommission trug auf Abweisung der Beschwerde an, denn deren Begründung widerspreche dem Schreiben von Prof. M. vom 14. Januar 1974, worin folgendes ausgeführt worden war:
"Fräulein Romer sollte jetzt meines Erachtens beruflich wiedereingegliedert werden. Auch durch einen operativen Eingriff würde der jetzige Zustand kaum verbessert werden können. Im Gegenteil, die Patientin könnte nach einer Operation manches, was sie jetzt noch tun kann, nicht mehr machen.
Ich bin aus diesen Gründen eher gegen die Durchführung eines erneuten Eingriffes, der viele Gefahren in sich birgt."
Solange Prof. M. diese Bedenken nicht widerrufe und einen klaren Behandlungsplan für die Zukunft aufstelle, müsse angenommen werden, der im Juli 1976 durchgeführte Eingriff bewirke keine dauernde und wesentliche Verbesserung der Arbeitsfähigkeit. Im Bericht der Universitätsklinik vom 17. August 1976 sei zudem nicht erwähnt, dass es sich bei der im Juli 1976 vorgenommenen Operation lediglich um eine vorbereitende Massnahme zur Einsetzung einer Ellbogenprothese gehandelt habe.
Am 27. Januar 1977 teilte Prof. M. folgendes mit:
"An sich haben wir uns vor einigen Jahren entschlossen, in diesem Fall vorläufig nichts mehr zu unternehmen. Der seinerzeit mehr als 50mal operierte Ellenbogen hat jedoch im Laufe der Jahre immer mehr Beschwerden verursacht; die Haltlosigkeit nahm so sehr zu, dass sogar mit einem Apparat der Zustand für die Patientin kaum mehr zumutbar erschien. Wir haben uns deshalb entschlossen, bei Fräulein Romer ein wieder etwas stabileres Ellenbogengelenk herzustellen. Vorerst wurde eine Spanverpflanzung vorgenommen, und es ist vorgesehen, 6-12 Monate nach diesem ersten Eingriff eine Arthroplastik durchzuführen."
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hiess durch Entscheid vom 17. März 1977 die Beschwerde gut und verpflichtete die Invalidenversicherung, die im Juli 1976 durchgeführte Operation als medizinische Massnahme zu übernehmen.
C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei die Kassenverfügung vom 3. September 1976 wiederherzustellen.
Trudy Romer hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Unter den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 IVG hat der Versicherte nach Art. 12 Abs. 1 IVG Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Diese Bestimmung bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits voneinander abzugrenzen. Die Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört.
Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff "Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird, seien diese kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder auf dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren, die auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonstwie Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht ins Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären oder sekundären) pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein stabiler oder mindestens relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist, kann sich - beim volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen, ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren, sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 102 V 41 Erw. 1 mit Hinweisen).
3. a) Die Frage, ob im geschädigten Ellbogengelenk bereits ein stabiler bzw. relativ stabilisierter Defektzustand zu erblicken ist, kann offen bleiben, weil es jedenfalls an der vom Gesetz verlangten Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges der als Einheit zu qualifizierenden Span- und Arthroplastik gebricht.
b) Dauernd im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist bei jüngeren Versicherten der von einer medizinischen Eingliederungsmassnahme zu erwartende Eingliederungserfolg, wenn er wahrscheinlich während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung erhalten bleiben wird (BGE 101 V 50 Erw. 3b mit Hinweisen).
c) Die 1943 geborene Beschwerdegegnerin kann mit einer statistischen Aktivitätserwartung bis gegen das 73. Altersjahr rechnen (vgl. STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 3. Aufl. S. 193).
Auf welche voraussichtliche Zeitspanne die Funktionstüchtigkeit der Arthroplastik am Ellbogen zu veranschlagen ist, geht aus den Akten nicht hervor. Diese Frage kann jedoch offen bleiben. Denn unter den vorliegenden ungünstigen Umständen - am fraglichen Gelenk sind schon über 50 Operationen vorgenommen worden - muss angenommen werden, dass der medizinische Operationserfolg und erst recht der invalidenversicherungsrechtlich massgebende Eingliederungserfolg sowohl der bereits vorgenommenen Spanplastik als auch der vorgesehenen Arthroplastik hinsichtlich der Dauerhaftigkeit mit ausserordentlichen Risiken behaftet ist. Prof. M. hat im Bericht vom 27. Januar 1977 seine am 14. Januar 1974 geäusserten, einen dauerhaften Eingliederungserfolg ausschliessenden Bedenken keineswegs widerrufen, sondern er erachtet die in Frage stehenden operativen Vorkehren lediglich deshalb als indiziert, weil er den Zustand der Beschwerdegegnerin als kaum mehr zumutbar erachtet.
d) Fehlt es mithin an der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges, so muss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherung gutgeheissen werden, ohne dass zu prüfen ist, ob der von den Operationen zu erwartende Eingliederungserfolg bei der eine halbe Invalidenrente beziehenden Beschwerdegegnerin auch wesentlich im Sinne der Rechtsprechung (vgl. BGE 101 V 52 Erw. 3c) wäre...
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 17. März 1977 aufgehoben.