BGE 145 IV 364
 
42. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_378/2018 vom 22. Mai 2019
 
Regeste
Art. 5 Abs. 2, Art. 189 Abs. 1 lit. b BV; Art. 66a StGB; Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA; Art. 31 Abs. 1 VRK; strafrechtliche Landesverweisung von EU-Bürgern und Freizügigkeitsabkommen.
Mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) hat die Schweiz Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU im Wesentlichen ein weitgehendes und reziprokes Recht auf Erwerbstätigkeit eingeräumt. Das FZA hat keinen Einfluss auf die Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts. Die Schweiz hat jedoch bei der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen die völkerrechtlichen Verpflichtungen zu beachten (E. 3.4.1).
Die aufgrund des FZA eingeräumten Rechte dürfen nach Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden (E. 3.5).
Bei der strafrechtlichen Landesverweisung ist deshalb - soweit Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU betroffen sind - im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Massnahme zum Schutze der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verhältnismässig ist (E. 3.9).
 
Sachverhalt
A. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte am 11. Oktober 2017 den spanischen Staatsangehörigen X. wegen Verbrechens gegen Art. 19 Abs. 1 lit. c, d und g in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 lit. a des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) zu 19 Monaten Freiheitsstrafe (wovon 140 Tage durch Haft und vorzeitigen Strafvollzug erstanden waren) und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe mit einer Probezeit von 2 Jahren auf. Das Bezirksgericht ordnete in Anwendung von Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB die Landesverweisung für 7 Jahre an. Dem Schuldspruch liegt sachverhaltlich ein in seiner Wohnung sichergestelltes Kokaingemisch von insgesamt ca. 590 g (Reinheitsgehalt von 75 %, resp. 76 %) zugrunde, das zum Absatz bestimmt war.
B. X. focht das bezirksgerichtliche Urteil bezüglich der Landesverweisung mit Berufung beim Obergericht des Kantons Zürich an. Das Obergericht bestätigte die Landesverweisung am 6. April 2018.
C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil in den Ziff. 1 (Landesverweisung) und 3 (Auferlegung der Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme derjenigen der amtlichen Verteidigung) aufzuheben, von einer Landesverweisung abzusehen oder eventualiter eine fünfjährige Landesverweisung anzuordnen, subeventualiter die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen, die Kosten des Berufungsverfahrens und des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens auf die Staatskasse zu nehmen und ihn zu entschädigen sowie ihm die unentgeltliche Rechtspflege (und Verbeiständung) zu gewähren.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
3.2 Die Vorinstanz argumentiert, die Gesetzgebung zur Landesverweisung sei das Ergebnis heftiger politischer Auseinandersetzungen im Rahmen des Abstimmungskampfes über die Ausschaffungsinitiative und des darauffolgenden Gesetzgebungsprozesses, die sich von Beginn an wesentlich um die Einbettung von Normen über die Ausschaffung krimineller Ausländer in das verfassungsrechtliche Gesamtgefüge einschliesslich des Verhältnisses zu bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen gedreht hätten. Mit der Härtefallklausel sollen dem in der Bundesverfassung verankerten Verhältnismässigkeitsprinzip zum Durchbruch verholfen bzw. gröbste Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien oder des Völkerrechts und stossende Entscheide in Ausnahmefällen verhindert werden. Dass auch mit der Härtefallklausel die Verpflichtungen gemäss FZA nicht in jedem Fall würden eingehalten werden können, sei dabei stets ein offenes Geheimnis gewesen. Mit den nun geltenden Bestimmungen über die Landesverweisung habe der Gesetzgeber somit einen allfällig resultierenden Konflikt mit dem FZA bzw. die Verletzung der daraus resultierenden Ansprüche von EU-Ausländern im Einzelfall bewusst in Kauf genommen. Der "Schubert-Praxis" (BGE 99 Ib 39) folgend gehe sie dem FZA vor. Das FZA bewege sich (auch wertungsmässig) nicht auf der Ebene zwingenden Völkerrechts, dessen unbedingte Geltung sich auch aus der Bundesverfassung ergebe (Art. 139 Abs. 3, Art. 193 Abs. 4, Art. 194 Abs. 2 BV), sowie aus den Menschenrechtsgarantien der EMRK, denen als zentralen Grundwerten der Rechtsordnung auch gegen den Willen des Gesetzgebers zum Durchbruch verholfen werden müsse. Der "Schubert-Praxis" folgend bleibe es im konkreten Fall folglich bei der Anwendung von Art. 66a StGB.
Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d.h. nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis (BGE 142 IV 105 E. 5.1 S. 110; BGE 143 IV 122 E. 3.2.3 S. 125). Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 142 IV 1 E. 2.4.1 S. 3 f., BGE 142 IV 401 E. 3.3 S. 404; BGE 141 III 195 E. 2.4 S. 198 f.).
In casu sind für das Bundesgericht neben der integralen Verfassung (sowie der EMRK) das Bundesgesetz (Art. 66a ff. StGB) und das FZA massgebend. Eine unterschiedliche Rechtsnatur der anzuwendenden Normen bildet in der Praxis den Normalfall. Gerichte haben in jedem Rechtsstreit im Rahmen von divergierenden "massgebenden" Normen in abwägender Weise zu entscheiden. Dabei sind die Wertungen des Gesetzgebers zu beachten (BGE 143 I 292 E. 2.4.2 S. 299).
3.4 Das FZA besteht aus einem 25 Artikel umfassenden Hauptteil und drei ausführlichen Anhängen, welche sowohl die Freizügigkeit zugunsten gewisser Personengruppen gewähren (Art. 1-7 FZA und Anhang I FZA) als auch Systeme der sozialen Sicherheit koordinieren (Art. 8 FZA und Anhang II FZA) sowie die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Zeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen erleichtern (Art. 9 FZA und Anhang III FZA; Urteil 6B_1152/2017 vom 28. November 2018 E. 2.5.1). Wie sich bereits der Grundbestimmung von Art. 1 Bst. a FZA entnehmen lässt, ist ein wesentliches Ziel des FZA zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU und der Schweiz die Einräumung des Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien (Urteil 6B_907/2018 vom 23. November 2018 E. 2.4.1).
3.4.2 Eine Vertragspartei kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen (Art. 27 des für die Schweiz am 6. Juni 1990 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]). Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 VRK). Ausgangspunkt bildet der Wortlaut des völkerrechtlichen Vertrags. Dieser ist aus sich selbst heraus gemäss seiner gewöhnlichen Bedeutung zu interpretieren. Diese gewöhnliche Bedeutung ist in Übereinstimmung mit ihrem Zusammenhang, dem Ziel und Zweck des Vertrages bzw. der auszulegenden Vertragsbestimmung und gemäss Treu und Glauben zu eruieren. Ziel und Zweck ist, was die Parteien mit dem Vertrag erreichen wollen (teleologische Auslegung; BGE 143 II 136 E. 5.2.2 S. 148). Zusammen mit der Auslegung nach Treu und Glauben garantiert die teleologische Auslegung den "effet utile" des Vertrags (BGE 144 III 559 E. 4.4.2 S. 568). "L'art. 31 par. 1 CV prévoit qu'un traité doit être interprété de bonne foi suivant le sens ordinaire à attribuer aux termes du traité dans leur contexte et à la lumière de son objet et de son but" (BGE 144 I 214 E. 3.2 S. 221).
3.4.3 Das Unionsrecht ist eine Rechtsordnung sui generis, die sich von staatlichen Rechtsordnungen und vom Völkerrecht unterscheidet und insofern einen autonomen Charakter aufweist (ASTRID EPINEY, in: Die Europäische Union, Bieber/Epiney/Haag/Kotzur [Hrsg.], 13. Aufl. 2019, § 9, S. 257 Rz. 12). Die von der EU eingegangenen völkerrechtlichen Abkommen werden integrierender Bestandteil des Unionsrechts. Die EU trifft insoweit eine unionsrechtliche und eine völkerrechtliche Pflicht zur Beachtung der von ihr geschlossenen Abkommen (RUDOLF MÖGELE, in: EUV/AEUV, Streinz [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 49 f. zu Art. 216 AEUV). Der EuGH nimmt die interpretativen Modalitäten von Art. 31 VRK auf, räumt aber seiner systematischen und teleologischen Auslegung (dynamische Auslegung) den Vorrang vor der wörtlichen Auslegung ein (MARC BLANQUET, Droit général de l'Union européenne, 11. Aufl. 2018, Rz. 709, 715).
Der EuGH bezeichnet das FZA im Urteil Martin Wächtler gegen Finanzamt Konstanz vom 26. Februar 2019 (C-581/17) als völkerrechtlichen Vertrag, der gemäss Art. 31 VRK auszulegen sei; ausserdem sei einem Begriff eine besondere Bedeutung beizulegen, wenn feststehe, dass dies die Absicht der Parteien gewesen sei (Randnr. 35). Die allgemeine Zielsetzung des FZA bestehe darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und der Schweiz zu intensivieren (Randnr. 36). Die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt könnten allerdings nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden, sofern dies nicht im FZA selbst ausdrücklich vorgesehen sei, da die Schweiz nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten sei (Randnr. 37). Gemäss Präambel sowie Art. 1 und Art. 16 Abs. 2 FZA ergebe sich für die Auslegung das Ziel des FZA, die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien zu verwirklichen. Hierzu stütze sich das FZA auf die in der Union geltenden Vorschriften, deren Begriffe unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA auszulegen seien (Randnr. 38). Zur Rechtsprechung des EuGH nach diesem Zeitpunkt werde die Schweiz unterrichtet (Art. 16 Abs. 2 FZA), und für das ordnungsgemässe Funktionieren stelle der Gemischte Ausschuss auf Antrag die Auswirkungen der Rechtsprechung fest (Art. 14 FZA). Selbst ohne diese Feststellung sei die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen, sofern sie lediglich Grundsätze präzisiere oder bestätige, die in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bereits bestehenden Rechtsprechung zu den Begriffen des Unionsrechts, an denen sich dieses Abkommen ausrichte, aufgestellt gewesen seien (Randnr. 39).
3.4.5 Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist in diesem Zusammenhang ein Begriff des Unionsrechts (Urteil Wächtler, Randnr. 55). Dieses zentrale Prinzip der "Nichtdiskriminierung" (Art. 2 FZA) bzw. Gleichbehandlung (BGE 140 II 112 E. 3.2.1 S. 118 f.) bezweckt ebenfalls den diskriminierungsfreien wirtschafts- und erwerbsrechtlichen reziproken Zugang zu den Wirtschaftsräumen der Vertragsstaaten. Eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatszugehörigkeit ist daher untersagt. Das Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie auf die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (Art. 7 Bst. a FZA) verwirkt der Straftäter. Die im FZA eingeräumten Rechte dürfen ihm gegenüber gemäss Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA eingeschränkt werden. Einschränkende Massnahmen müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen und gleichwohl jedenfalls den Verhältnismässigkeitsgrundsatz beachten, d.h. sie müssen zur Erreichung dieser Ziele geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was hierfür erforderlich ist (Urteil Wächtler, Randnr. 63).
    "Die auf Grund dieses Abkommens eingeräumten Rechte dürfen nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden."
3.5.1 Zur Interpretation des Rechtsbegriffs der "öffentlichen Ordnung" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA ist vorauszuschicken, dass dieser Begriff nicht im Sinne des formellen oder materiellen Ordre public des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht (IPRG; SR 291) zu verstehen ist (vgl. BGE 144 III 120 E. 5.1 S. 129 f. zu Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG; BGE 143 III 225 E. 5.1 S. 226 f.). Gegen den Ordre public verstösst die Beurteilung eines streitigen Anspruchs nur, wenn sie fundamentale Rechtsgrundsätze verkennt und daher mit der wesentlichen, weitgehend anerkannten Wertordnung schlechthin unvereinbar ist, die nach in der Schweiz herrschender Auffassung Grundlage jeder Rechtsordnung bilden sollte (BGE 138 III 322 E. 4.1 S. 327). Der Begriff der öffentlichen Ordnung ("ordre public") gemäss Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA wird hier verstanden als die Störung der sozialen Ordnung und Sicherheit, wie sie jede Straftat darstellt (unten E. 3.5.2; ebenso der EuGH unten E. 3.7).
3.5.2 Nach der ausländerrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei der Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA eine "spezifische Prüfung" unter dem Blickwinkel der dem Schutz der öffentlichen Ordnung innewohnenden Interessen verlangt (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183 f.). Entfernungs- oder Fernhaltemassnahmen setzen eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den betreffenden Ausländer voraus (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 182 und E. 4.2 S. 185). Eine strafrechtliche Verurteilung darf nur insofern zum Anlass für eine derartige Massnahme genommen werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA steht Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 183) verfügt würden (Urteil 2C_828/2016 vom 17. Juli 2017 E. 3.1 mit Hinweisen). Auch vergangenes Verhalten (BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 184 und E. 4.3.1 S. 186) kann den Tatbestand einer solchen Gefährdung der öffentlichen Ordnung erfüllen. Es kommt weiter auf die Prognose des künftigen Wohlverhaltens an, wobei eine nach Art und Ausmass der möglichen Rechtsgüterverletzung zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören wird, verlangt ist. Ein geringes, aber tatsächlich vorhandenes Rückfallrisiko kann für eine aufenthaltsbeendende Massnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA genügen, sofern dieses Risiko eine schwere Verletzung hoher Rechts-güter wie z.B. die körperliche Unversehrtheit beschlägt (Urteile 2C_828/2016 vom 17. Juli 2017 E. 3.2). Die Prognose über das Wohlverhalten und die Resozialisierung gibt in der fremdenpolizeilichen Abwägung, in der das allgemeine Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Vordergrund steht, nicht den Ausschlag (BGE 130 II 176 E. 4.2 S. 185; BGE 125 II 105 E. 2c S. 110). Bei Massnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung sind die EMRK sowie der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten (BGE 130 II 176 E. 3.4.2 S. 184).
Mit dem Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung ist nicht gemeint, dass weitere Straftaten mit Gewissheit zu erwarten sind oder umgekehrt solche mit Sicherheit auszuschliessen sein müssten (Urteil 2C_108/2016 vom 7. September 2016 E. 2.3). Es ist vielmehr eine nach Art und Ausmass der möglichen Rechtsgüterverletzung zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit verlangt, dass der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stören wird; je schwerer diese ist, desto niedriger sind die Anforderungen an die in Kauf zu nehmende Rückfallgefahr (BGE 130 II 176 E. 4.3.1 S. 186). Allerdings sind Begrenzungen der Freizügigkeit im Sinne von Art. 5 Anhang I FZA einschränkend auszulegen; es kann etwa nicht lediglich auf den Ordre public verwiesen werden, ungeachtet einer Störung der sozialen Ordnung, wie sie jede Straftat darstellt. Betäubungsmittelhandel stellt eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 5 Anhang I FZA dar (BGE 139 II 121 E. 5.3 S. 125 f. sowie Urteile 2C_828/2016 vom 17. Juli 2017 E. 3.2 und 6B_126/2016 vom 18. Januar 2017 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 143 IV 97).
Ausgangspunkt und Massstab für die ausländerrechtliche Interessenabwägung ist die Schwere des Verschuldens, die sich in der Dauer der verfahrensauslösenden Freiheitsstrafe niederschlägt; auch eine einmalige Straftat kann eine aufenthaltsbeendende Massnahme rechtfertigen, wenn die Rechtsgutverletzung schwer wiegt (Urteil 2C_31/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 3.3).
Bei Begriffen des Gemeinschaftsrechts "wird" die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vor der Unterzeichnung des FZA (am 21. Juni 1999) "berücksichtigt" (Art. 16 Abs. 2 FZA). Wie das Bundesgericht bereits im Grundsatzentscheid aus dem Jahre 2009 entschied, kann es zum Zwecke der Auslegung auch die seitherige Rechtsprechung des EuGH heranziehen, um das Abkommensziel einer parallelen Rechtslage nicht zu gefährden. Da der EuGH aber nicht berufen ist, für die Schweiz das FZA verbindlich zu bestimmen, ist es dem Bundesgericht nicht verwehrt, aus triftigen Gründen zu einer anderen Rechtsauffassung als der EuGH zu gelangen; es wird dies aber nicht leichthin tun (BGE 136 II 5 E. 3.4 S. 12 f.; BGE 142 II 35 E. 3.1 S. 38 und E. 3.2 S. 39; BGE 140 II 112 E. 3.2 S. 117). Erfordernisse der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sowie "zwingende Erfordernisse" des Allgemeininteresses, die zwar über die in Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA genannten Rechtfertigungsgründe hinausgehen, jedoch im Binnenrecht der EU ausnahmsweise einen Eingriff in die Grundfreiheiten rechtfertigen können, sind auch im Anwendungsbereich des FZA einschlägig (BGE 140 II 112 E. 3.6.2 S. 125).
Diese Praxis stützt sich insbesondere auf das Urteil des EuGH Regina gegen Pierre Bouchereau vom 27. Oktober 1977 (C-30/77, Slg. 1977 01999). Das Urteil betraf die Ausweisung eines französischen Staatsbürgers (eines Arbeiters) aus Grossbritannien wegen Besitzes von Betäubungsmitteln. Der EuGH hielt fest, die spezifischen Umstände, die eine Berufung auf die öffentliche Ordnung ("ordre public") rechtfertigten, könnten von Land zu Land und Epoche zu Epoche variieren, weshalb den Behörden ein Ermessen ("une marge d'appréciation") zuzugestehen sei. Unter dem Gesichtspunkt der Störung der sozialen Ordnung, wie sie jede Straftat darstelle, sei eine tatsächliche und hinreichend schwere Bedrohung vorausgesetzt, die ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft berühre ("suppose, en tout cas, l'existence [...] d'une menace réelle et suffisamment grave, affectantun intérêt fondamental de la société"; Randnr. 34).
Das Urteil des EuGH Donatella Calfa vom 19. Januar 1999 (C-348/96, Slg. 1999 I-00011) betraf die Ausweisung einer italienischen Staatsangehörigen aus Griechenland wegen Besitzes von Betäubungsmitteln. Der EuGH hielt fest, zwar liege die Gesetzgebung in Strafsachen in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, doch könne deren Gesetzgebung die fundamentalen Freiheiten des Gemeinschaftsrechts nicht einschränken ("restreindre"; Randnr. 17). Er prüfte, ob die Ausweisung auf Lebenszeit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein könnte, wobei sich der EuGH auf das Urteil Bouchereau bezog (Randnrn. 21, 25) und annahm, dass der Vorbehalt restriktiv zu interpretieren sei (Randnr. 23). Er stellte fest, dass die Ausweisung automatisch angeordnet wurde ("de manière automatique à la suite d'une condamnation pénale, sans tenir compte du comportement personnel de l'auteur de l'infraction ni du danger qu'il représente pour l'ordre public"; Randnr. 27), und entschied, die Ausweisung wegen Erwerbs und Besitzes von Betäubungsmitteln zum persönlichen Gebrauch sei daher nicht gerechtfertigt (Randnr. 29).
Der EuGH hatte im Urteil Rico Graf und Rudolf Engel gegen Landratsamt Waldhut vom 6. Oktober 2011 (C-506/10, Slg. 2011 I-09345) den Streit um einen Landpachtvertrag zwischen dem Schweizer Graf als Pächter und dem Deutschen Engel als Verpächter von Bauernland in Baden-Württemberg zu beurteilen. Er hielt fest, die Vertragsstaaten blieben im Wesentlichen frei, die öffentliche Ordnung nach nationalen Interessen zu bestimmen, doch könne deren Tragweite nicht unilateral und ohne Kontrolle des EuGH festgelegt werden. Der Begriff der öffentlichen Ordnung müsse im Rahmen des FZA interpretiert werden (Randnr. 32). Ziel des FZA sei es, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und der Schweiz enger zu knüpfen ("resserrer les liens"). Die Vorbehalte von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA seien strikt zu interpretieren (Randnr. 33). Baden-Württemberg könne angesichts des Prinzips der Gleichbehandlung von Art. 15 Abs. 1 Anhang I FZA dem Pachtvertrag nicht aus Wettbewerbsgründen "opponieren" (Randnr. 36).
Während die ersten beiden Urteile (auf die sich BGE 130 II 176 E. 3.4.1 S. 182 vom 7. April 2004 massgeblich bezog; oben E. 3.5.2) Unionsbürger betrafen und vor der Unterzeichnung des FZA am 21. Juni 1999 ergingen, betrifft das dritte Urteil ein dem FZA unterstehendes Rechtsverhältnis. In allen drei Urteilen räumte der EuGH einerseits eine prinzipielle Eigenständigkeit der Unionsstaaten wie der Vertragsstaaten des FZA (im dritten Urteil) zur Anwendung und Auslegung des Normgehalts von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA ein und beschränkte andererseits die Anwendung in konstanter Rechtsprechung auf eine strikte Auslegung. Der EuGH weist in diesen Urteilen ferner auf eine Zeitbedingtheit der Auslegung hin und räumt den Vertragsstaaten ein Ermessen ein.
3.8 Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA ist für die Schweiz strafrechtlich nicht in einer Weise restriktiv auszulegen, welche diese Bestimmung des ihrer gewöhnlichen Bedeutung (Art. 31 Abs. 1 VRK; oben E. 3.4.2) nach anerkannten Normgehalts entleeren würde. Die Mitgliedstaaten gründeten die EU zur "Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" (Art. 1 Abs. 2 EUV) als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft (EG). Die zitierte restriktive Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA ist auf die primärrechtlich abgestützte integrativ wirkende dynamische Rechtsanwendung des EuGH zurückzuführen, die heute die Harmonisierung und Vertiefung der Union intendiert. Diese Nuance dieser Rechtsprechung (teleologische Reduktion des Normgehalts von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA) hat die Schweiz nach der aktuellen Rechtslage für das Strafrecht nicht zu berücksichtigen, da die unionsrechtliche Auslegung nicht automatisch zu übernehmen ist (oben E. 3.4.3; nicht publ. E. 4.3.4). Vielmehr ist anzunehmen, dass der Normsinn dem Wortsinn entspricht.
3.9 Da die alleinige Existenz einer strafrechtlichen Verurteilung eine Landesverweisung nach der zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EuGH nicht automatisch ("automatiquement": Urteil Calfa, Randnr. 27) begründen kann, haben die Strafgerichte in einer spezifischen Prüfung des Einzelfalls ("une appréciation spécifique": Urteil Bouchereau, Randnr. 27) nach den dargelegten Kriterien in der konkretisierenden Anwendung des Bundesrechts (oben E. 3.3) jeweils zu prüfen, ob Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA der Landesverweisung entgegensteht oder diese hindern kann (Urteil 6B_907/2018 vom 23. November 2018 E. 2.4.2). Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die Prüfung der Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns (Art. 5 Abs. 2 BV) bei der Einschränkung der Freizügigkeit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA. Der strafrechtlichen Landesverweisung von Kriminellen fehlt im Übrigen unter jedem Titel des FZA und der bilateralen Verträge die Signifikanz. Die strafrechtliche Landesverweisung hat weder eine wirtschafts- noch eine migrationsrechtliche Komponente.