BGE 145 IV 252
 
28. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_855/2018 vom 15. Mai 2019
 
Regeste
Art. 1 Abs. 2 StPO; Form der Zustellung im Ordnungsbussenverfahren.
 
Sachverhalt
A. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt büsste X. mit Strafbefehl vom 18. April 2018 wegen Verletzung der Verkehrsregeln (Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit innerorts um 6-10 km/h) mit Fr. 120.- und auferlegte ihm eine Abschlussgebühr von Fr. 200.- sowie Auslagen von Fr. 8.60.
Auf Einsprache von X. stellte das Einzelgericht in Strafsachen Basel-Stadt mit Verfügung vom 29. Mai 2018 die Rechtskraft des Strafbefehls vom 18. April 2018 fest und verzichtete auf die Erhebung von Gerichtskosten.
Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt wies mit Entscheid vom 19. Juli 2018 die Berufung von X. ab und auferlegte ihm die Kosten des Beschwerdeverfahrens von Fr. 300.-.
B. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 19. Juli 2018 sei aufzuheben. Die Kosten des Verfahrens trage der Kanton Basel-Stadt.
C. Die Staatsanwaltschaft und das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt beantragen die Abweisung der Beschwerde, wobei das Appellationsgericht auf die Einreichung einer Stellungnahme verzichtet. X. replizierte.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1.3
1.3.1 Art. 85 StPO regelt die Form der Mitteilungen und der Zustellung. Demnach bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Abs. 2). Sie ist erfolgt, wenn die Sendung von der Adressatin oder dem Adressaten oder von einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden, mindestens 16 Jahre alten Person entgegengenommen wurde. Vorbehalten bleiben Anweisungen der Strafbehörden, eine Mitteilung der Adressatin oder dem Adressaten persönlich zuzustellen (Abs. 3). Eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (vgl. Abs. 4 lit. a; sog. Zustellfiktion).
Die gesetzlich vorgeschriebenen Zustellformen tragen dem Umstand Rechnung, dass Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten (siehe BGE 144 IV 57 E. 2.3 S. 61; BGE 122 I 97 E. 3a/bb S. 99 f.; Urteil 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen) und der Beweis der Eröffnung sowie deren Datums der Behörde obliegt, die hieraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 144 IV 57 E. 2.3 S. 61; BGE 142 IV 125 E. 4.3 S. 128; BGE 136 V 295 E. 5.9 S. 309; je mit Hinweisen).
1.3.2 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Zustellung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2 StPO grundsätzlich auch dann gültig erfolgt, wenn die Kenntnisnahme des Empfängers auf andere Weise bewiesen werden kann und die zu schützenden Interessen des Empfängers (Informationsrecht) gewahrt werden (vgl. BGE 144 IV 57 E. 2.3.2 S. 62; BGE 142 IV 125 E. 4.3 S. 128; Urteile 1B_41/2016 vom 24. Februar 2016 E. 2.2; 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Entscheidend ist, ab welchem Zeitpunkt von einer Kenntnisnahme ausgegangen werden kann. Sendungen gelten in der Regel als zugestellt, wenn sie in den Macht- bzw. Verfügungsbereich des Empfängers gelangt sind. Dabei ist nicht erforderlich, dass der Empfänger die Sendung tatsächlich in Empfang nimmt (BGE 144 IV 57 E. 2.3.2 S. 62; BGE 142 III 599 E. 2.4.1 S. 603; BGE 122 I 139 E. 1 S. 143; je mit Hinweisen). Allerdings hat das Bundesgericht in einem kürzlich ergangenen Urteil präzisiert, dass es nicht genügt, dass die Sendung in den Machtbereich des Empfängers gelangt, wenn besondere Zustellvorschriften, wie etwa die in Art. 85 Abs. 2 StPO, bestehen. Massgebend ist dann vielmehr die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Adressaten (BGE 144 IV 57 E. 2.3.2 S. 62 f.).
1.5 Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes können nach dem Ordnungsbussengesetz vom 24. Juni 1970 (OBG; SR 741.03) in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu Fr. 300.- geahndet werden (Ordnungsbussenverfahren; Art. 1 Abs. 1 und 2 OBG). Das Ordnungsbussenverfahren ist, wenn seine Voraussetzungen gegeben sind, obligatorisch anzuwenden. Die Fälle, in denen eine dem Ordnungsbussenrecht unterstehende Übertretung ausnahmsweise im ordentlichen Verfahren zu ahnden ist, werden durch Gesetz und Verordnung abschliessend geregelt (BGE 121 IV 375 E. 1a S. 377; BGE 105 IV 136 E. 1-3 S. 138 f.). Im Ordnungsbussenverfahren dürfen keine Kosten erhoben werden (Art. 7 OBG). Das bundesrechtliche Prinzip der Kostenfreiheit bezieht sich dabei auf das Ordnungsbussenverfahren. Im ordentlichen Verfahren, in welchem ebenfalls eine Ordnungsbusse ausgefällt werden kann (Art. 11 OBG), ist das Prinzip der Kostenfreiheit dann anzuwenden, wenn das ordentliche Verfahren ohne sachlichen Grund eingeleitet worden ist (BGE 121 IV 375 E. 1c S. 378 mit Hinweisen).
Das Ordnungsbussengesetz dispensiert von der Anwendung der Strafzumessungsgrundsätze des Strafgesetzbuchs (Art. 1 Abs. 3 OBG, wonach Vorleben und persönliche Verhältnisse des Täters unberücksichtigt bleiben). Darüber hinaus regelt es auch wenige rein verfahrensrechtliche Fragen der vereinfachten Ahndung von Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften. Beim Ordnungsbussenverfahren handelt es sich somit um ein formalisiertes und rasches Verfahren, das schematisch für die gleichen Verstösse für alle schuldhaft handelnden Täter die gleichen Bussen und Vollzugsmodalitäten vorsieht (BGE 135 IV 221 E. 2.2 S. 223). Es dient der raschen und definitiven Erledigung der im Strassenverkehr massenhaft vorkommenden Übertretungen mit Bagatellcharakter mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand (BGE 135 IV 221 E. 2.2 S. 223; BGE 126 IV 95 E. 2b S. 98). Auch das nach dem Ordnungsbussengesetz abgewickelte Sonderverfahren für die in der Bussenliste abschliessend umschriebenen Verkehrsübertretungen bleibt aber ein Strafverfahren. Mit Inkrafttreten des Ordnungsbussengesetzes und der dazugehörenden Verordnung wurden die Behörden lediglich davon befreit, bei jeder Parkzeitüberschreitung und anderen geringfügigen Übertretungen ein ordentliches Strafverfahren einzuleiten. An der Natur des Verfahrens hat sich daran nichts geändert. Ordnungsbussen sind denn auch trotz ihrer Abhängigkeit von der Zustimmung des Täters echte Strafen und es gelten, abgesehen davon, dass Vorleben und persönliche Verhältnisse nicht berücksichtigt werden, die Grundsätze des Strafrechts (BGE 115 IV 137 E. 2b S. 138; Urteil 6B_344/2012 vom 1. Oktober 2012 E. 2.3; Botschaft vom 14. Mai 1969 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr [nachfolgend: Botschaft 1969], BBl 1969 I.2, S. 1093; RENÉ SCHAFFHAUSER, Zur Entwicklung des Ordnungsbussenrechts im Strassenverkehr, AJP 1996 S. 1215 ff.).
1.6.1 Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn sich eine Regelung als unvollständig erweist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann. Von einer unechten oder rechtspolitischen Lücke ist demgegenüber die Rede, wenn dem Gesetz zwar eine Antwort, aber keine befriedigende zu entnehmen ist. Echte Lücken zu füllen, ist dem Gericht aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm nach traditioneller Auffassung grundsätzlich verwehrt (BGE 143 I 187 E. 3.2 S. 191 f.; BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 54 f.; BGE 141 V 481 E. 3.1 S. 485; je mit Hinweisen). Ob eine zu füllende Lücke oder ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln (BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55; BGE 141 IV 298 E. 1.3.2 S. 299 mit Hinweisen). Ist ein lückenhaftes Gesetz zu ergänzen, gelten als Massstab die dem Gesetz selbst zugrunde liegenden Zielsetzungen und Werte (BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55; BGE 141 IV 298 E. 1.3.1 S. 299; BGE 140 III 636 E. 2.2 S. 638; je mit Hinweisen). Lücken können oftmals auf dem Weg der Analogie geschlossen werden (BGE 141 IV 298 E. 1.3.1 S. 299 mit Hinweisen).
Die Gesetzesbestimmungen sind in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen. An einen klaren Gesetzeswortlaut ist die rechtsanwendende Behörde gebunden. Abweichungen vom klaren Wortlaut sind indessen zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass er nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben. Vom klaren Wortlaut kann ferner abgewichen werden, wenn die grammatikalische Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann. Im Übrigen sind bei der Auslegung alle herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen, wobei das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus befolgt und es ablehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 143 IV 122 E. 3.2.3 S. 125; BGE 142 IV 105 E. 5.1 S. 110; BGE 139 IV 62 E. 1.5.4 S. 74; je mit Hinweisen).
In Übereinstimmung mit der Vorinstanz legt Art. 1 Abs. 2 StPO den Schluss nahe, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung für das Ordnungsbussenverfahren, das im OBG - einem Spezialgesetz - geregelt ist, grundsätzlich nicht anwendbar sind. Allerdings sind die Ausnahmen vom Geltungsbereich der StPO eng begrenzt und stehen unter dem Erfordernis ihrer sachlichen Rechtfertigung, da die eigentliche Intention der Kodifikation einer schweizerischen Strafprozessordnung, einen möglichst grossen Teil des bisher in zahlreichen Erlassen zersplitterten Verfahrensrechts einheitlich und umfassend zu regeln, nicht durch eine Ausuferung der Ausnahmen unterlaufen werden darf. Sowohl beim Verwaltungsstrafverfahren als auch beim Militärprozess und bei der Jugendstrafprozessordnung liegen die Gründe für eine separate Normierung in den schutzwürdigen Partikularinteressen oder den spezifischen Anforderungen des jeweiligen Verfahrenstypus (STRAUB/WELTERT, a.a.O., N. 9 zu Art. 1 StPO).
1.7 Angesichts der Materialien, wonach das OBG nicht nur das materielle Recht der Ordnungsbussen enthält, sondern auch die wenigen verfahrensrechtlichen Fragen der vereinfachten Ahndung der leichten Verkehrswiderhandlungen selber regelt (Botschaft 1969, a.a.O., BBl 1969 I.2, S. 1092), muss davon ausgegangen werden, dass diese Regelung abschliessend zu verstehen ist. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Zustellung im Sinne eines qualifizierten Schweigens bewusst darauf verzichtet hat, zum einen im OBG eine eigene Zustellungsregelung vorzusehen und zum anderen bei der Einführung der StPO im OBG einen Verweis auf die Bestimmungen der StPO einzufügen. Dadurch wird der "status quo ante" beibehalten, d.h. es besteht keine besonders geregelte Zustellung im Ordnungsbussenverfahren mit der Folge, dass es den Behörden freigestellt ist, auf welche Art sie ihre Mitteilungen verschicken (vgl. BGE 142 III 599 E. 2.4.1 S. 603 f. für das Verwaltungsverfahren). Zwar steht eine solche Auslegung dem Ziel eines möglichst einheitlichen Verfahrensrechts entgegen, sie fügt sich jedoch in die Überlegungen ein, wie sie für die besonderen Verfahren gelten, und entspricht allein dem Sinn und Zweck des OBG. Beim Ordnungsbussenverfahren handelt es sich um ein formalisiertes und rasches Verfahren, das schematisch für die gleichen Verstösse für alle schuldhaft handelnden Täter die gleichen Bussen und Vollzugsmodalitäten vorsieht. Es dient der raschen und definitiven Erledigung der im Strassenverkehr massenhaft vorkommenden Übertretungen mit Bagatellcharakter mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand (BGE 135 IV 221 E. 2.2 S. 223). Diese Auslegung entspricht auch insoweit dem Willen des Gesetzgebers, als nur diese Interpretation zu einem möglichst raschen und einfachen Verfahren führt (siehe BGE 126 IV 95 E. 2a S. 98). Schliesslich ist auch kein Widerspruch zu BGE 144 I 242 auszumachen. Dieser Entscheid äussert sich nicht ausdrücklich zur hier massgebenden, rein verfahrensrechtlichen Frage der Anwendbarkeit der StPO im Ordnungsbussenverfahren. Daher ist festzuhalten, dass für das Ordnungsbussenverfahren keine besonders geregelte Zustellung besteht.
1.8 Im Sinne der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist vorliegend somit nicht massgebend, ob der Beschwerdeführer die Übertretungsanzeige oder die Zahlungserinnerung tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, was er ja bestreitet, sondern ob zumindest eines dieser Dokumente gleichwohl als zugestellt zu gelten hat (vgl. E. 1.3.2.). Der Nachweis der Eröffnung obliegt auch hier der Behörde. Da es praktisch schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu beweisen ist, dass eine Zustellung mittels einfacher Post tatsächlich erfolgt ist (siehe BGE 142 IV 125 E. 4.4 S. 128 mit Hinweis), könnte es daher angebracht sein, zumindest den zweiten Schriftverkehr (Zahlungserinnerung) nicht mit einfacher, sondern mit eingeschriebener Post oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zu versenden. Allerdings ist die Erwägung der Vorinstanz, wonach die Möglichkeit eines doppelten Zustellungsfehlers unter den vorliegenden Verhältnissen vernachlässigbar klein sei, nicht zu beanstanden. Ihr Schluss, es könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass weder die Übertretungsanzeige noch die Zahlungserinnerung beim Beschwerdeführer angekommen seien, ist nicht willkürlich. Damit erweisen sich die Rügen als unbegründet.