BGE 142 IV 229
 
30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_104/2016 vom 21. Juni 2016
 
Regeste
Abgekürztes Verfahren (Art. 358 ff. StPO).
 
Sachverhalt
A. Die Staatsanwaltschaft Kreuzlingen führte gegen X. ein Strafverfahren wegen Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Am 12. September 2014 beantragte X. die Durchführung des abgekürzten Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft hiess den Antrag am 15. September 2014 gut und eröffnete am 16. September 2014 die Anklageschrift. Darin schlug sie vor, X. sei wegen qualifizierter Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und mehrfacher Übertretung desselben zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten sowie zu einer Busse von Fr. 800.- zu verurteilen. Am 29. September 2014 stimmte X. der Anklageschrift zu, worauf die Staatsanwaltschaft diese mit den Akten an das Bezirksgericht Kreuzlingen überwies.
An der bezirksgerichtlichen Hauptverhandlung vom 3. Dezember 2014 erklärte X., die Anklage sei grundsätzlich zum Urteil zu erheben. Gleichentags beschloss das Bezirksgericht, die Hauptverhandlung werde zu einem späteren Zeitpunkt fortgeführt. An der Hauptverhandlung vom 17. Juni 2015 beantragte X., die Akten seien an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung eines ordentlichen Vorverfahrens zurückzuweisen.
B. Am 17. Juni 2015 verurteilte das Bezirksgericht X. wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und Übertretung desselben zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten und einer Busse von Fr. 800.-. Es auferlegte ihm eine Ersatzforderung von Fr. 1'200.- und die Verfahrenskosten von insgesamt Fr. 4'010.-. Den amtlichen Verteidiger entschädigte es mit Fr. 6'548.25.
C. Das Obergericht des Kantons Thurgau wies die Berufung von X. am 3. November 2015 ab und bestätigte das bezirksgerichtliche Urteil.
D. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Durchführung des ordentlichen Verfahrens an die kantonalen Behörden zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
2.1 Gemäss Art. 358 Abs. 1 StPO kann die beschuldigte Person der Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung die Durchführung des abgekürzten Verfahrens beantragen, wenn sie den Sachverhalt, der für die rechtliche Würdigung wesentlich ist, eingesteht und die Zivilansprüche zumindest im Grundsatz anerkennt. Die Anklageschrift enthält im abgekürzten Verfahren unter anderem den Hinweis, dass die Parteien mit der Zustimmung zur Anklageschrift auf ein ordentliches Verfahren und auf Rechtsmittel verzichten (Art. 360 Abs. 1 lit. h StPO). Die Staatsanwaltschaft eröffnet die Anklageschrift den Parteien, welche innert zehn Tagen zu erklären haben, ob sie ihr zustimmen oder sie ablehnen. Die Zustimmung ist unwiderruflich (Art. 360 Abs. 2 StPO).
Das erstinstanzliche Gericht führt eine Hauptverhandlung durch, an welcher es die beschuldigte Person befragt und feststellt, ob diese den Sachverhalt anerkennt, welcher der Anklage zu Grunde liegt, und ob diese Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmt. Wenn nötig befragt es auch die übrigen anwesenden Personen. Ein Beweisverfahren findet nicht statt (Art. 361 StPO). Ein Urteil im abgekürzten Verfahren setzt voraus, dass die beschuldigte Person ihr Geständnis in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestätigt. Das gerichtliche Bestätigungsverfahren ist einer der Schutzmechanismen dieses besonderen Verfahrens. Die Möglichkeit, dass die beschuldigte Person ihre Zustimmung zur Anklageschrift widerruft, ist hinzunehmen, wenn sich das Gericht nicht persönlich davon überzeugen kann, dass sie den angeklagten Sachverhalt anerkennt (BGE 139 IV 233 E. 2.6).
Das Gericht befindet frei darüber, ob die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmässig und angebracht ist, ob die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und den Akten übereinstimmt und ob die beantragten Sanktionen angemessen sind (Art. 362 Abs. 1 StPO). Sind die Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten Verfahren erfüllt, so erhebt das Gericht die Straftatbestände, Sanktionen und Zivilansprüche der Anklageschrift zum Urteil. Die Erfüllung der Voraussetzungen für das abgekürzte Verfahren wird summarisch begründet (Art. 362 Abs. 2 StPO). Sind die Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten Verfahren nicht erfüllt, so weist das Gericht die Akten an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung eines ordentlichen Vorverfahrens zurück. Das Gericht eröffnet den Parteien seinen ablehnenden Entscheid mündlich sowie schriftlich im Dispositiv. Dieser Entscheid ist nicht anfechtbar (Art. 362 Abs. 3 StPO).
Mit der Berufung gegen ein Urteil im abgekürzten Verfahren kann eine Partei nur geltend machen, sie habe der Anklageschrift nicht zugestimmt oder das Urteil entspreche dieser nicht (Art. 362 Abs. 5 StPO; vgl. zum Ganzen BGE 139 IV 233 E. 2.3 mit zahlreichen Hinweisen).
An der Hauptverhandlung vom 3. Dezember 2014 habe der Beschwerdeführer auf Frage des Bezirksgerichtspräsidenten bestätigt, die Anklageschrift zu kennen und damit einverstanden zu sein. Nach der persönlichen Befragung des Beschwerdeführers habe dessen Verteidiger beantragt, die Anklage sei bezüglich Straftatbeständen und Sanktionen zum Urteil zu erheben, wobei es im Übrigen dem Gericht überlassen sei, die Angemessenheit der beantragten Freiheitsstrafe unter dem Aspekt der laufenden Entzugstherapie zu würdigen.
Nach dem Vortrag der Verteidigung habe der Bezirksgerichtspräsident den Beschwerdeführer erneut nach seiner Meinung gefragt und darauf hingewiesen, dass eine unbedingte Freiheitsstrafe von 11 Monaten beantragt werde, die allenfalls unter Fortführung der laufenden Entzugstherapie in Halbgefangenschaft verbüsst werden könne. Auf die Frage des Bezirksgerichtspräsidenten, ob die Strafsache mit dem Risiko einer höheren Strafe in das ordentliche Verfahren zurückzuweisen sei, habe der Beschwerdeführer zu Protokoll gegeben, er könne und müsse mit beidem leben.
 
Erwägung 2.3
2.3.2 Der Beschwerdeführer hat der Anklageschrift auch vor dem erstinstanzlichen Gericht zugestimmt, als er an der Hauptverhandlung befragt wurde. Zu Unrecht beanstandet der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang, er sei gefragt worden, ob er mit der Anklageschrift einverstanden sei, und nicht, ob er den Sachverhalt anerkenne. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, klärte das erstinstanzliche Gericht an der Befragung vom 3. Dezember 2014, dass die Zustimmung des Beschwerdeführers zur Anklageschrift rechtmässig erfolgte, dass er den Sachverhalt tatsächlich anerkannte und dass seine Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmte. Aus dieser Befragung ergibt sich, dass der Beschwerdeführer auch mit der unbedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten vorbehaltlos einverstanden war.
2.3.3 Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, es mangle an seiner Zustimmung zur Anklageschrift, weil er kein zweites Mal befragt worden sei und seine Zustimmung nicht erneuert habe. Dazu stellt die Vorinstanz fest, das erstinstanzliche Gericht habe am 3. Dezember 2014 entschieden, die Hauptverhandlung werde zu einem späteren Zeitpunkt fortgeführt, um die weitere Entwicklung im Zusammenhang mit der Entzugstherapie abzuwarten, damit die Angemessenheit der Sanktion zuverlässiger beurteilt werden könne. Die Vorinstanz befindet zu Recht, dass die Hauptverhandlung vom 17. Juni 2015 als Fortsetzung der Hauptverhandlung vom 3. Dezember 2014 zu betrachten ist. Wie aus dem Schreiben des Verteidigers vom 16. Februar 2015 hervorgeht, war der Beschwerdeführer mit der Vertagung einverstanden und ging selber vom "im Frühling bevorstehenden zweiten Teil der Verhandlung" aus. Der Beschwerdeführer geht fehl, wenn er meint, er hätte am 17. Juni 2015 nochmals gestützt auf Art. 361 Abs. 2 StPO befragt werden müssen. Dies war bereits am 3. Dezember 2014 geschehen. Am 17. Juni 2015 ging es nur noch darum, die Angemessenheit der Sanktion im Sinne von Art. 362 Abs. 1 lit. c StPO zu beurteilen. Folgerichtig beschränkte das erstinstanzliche Gericht die Befragung nun auf die Entwicklung im Zusammenhang mit der Entzugstherapie. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers war eine Massnahme bereits ein Thema, als er am 3. Dezember 2014 der Anklageschrift zustimmte. Von einer neuen Wendung, welche das erstinstanzliche Gericht zu verantworten hätte, kann keine Rede sein.
2.3.4 Der Beschwerdeführer übersieht, dass sich der vorliegende Fall grundlegend vom Sachverhalt unterscheidet, der im von ihm angerufenen Bundesgerichtsentscheid zu beurteilen war. Dort hatte der Beschuldigte den Sachverhalt und dessen rechtliche Würdigung gemäss Anklageschrift nur an der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme anerkannt. In der Folge ersuchte er die Staatsanwaltschaft um Rückzug der Anklage, weil er im ordentlichen Verfahren eine tiefere Strafe erwirken wollte. Dem erstinstanzlichen Gericht teilte er mit, er sei mit dem Urteilsvorschlag nicht mehr einverstanden und werde sein Geständnis an der Hauptverhandlung vermutlich widerrufen. An der Hauptverhandlung bestätigte er lediglich, den Anklagesachverhalt im Vorverfahren anerkannt zu haben, und sah von weiteren Aussagen ab (BGE 139 IV 233 E. 2.2).