BGE 141 IV 298
 
40. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_791/2014 vom 7. Mai 2015
 
Regeste
Art. 119a BGG und Art. 410 ff. StPO; Revision eines Strafbefehls der Bundesanwaltschaft.
 
Sachverhalt
A. Am 31. August 2012 wurde am Grenzübergang Kreuzlingen Hauptzoll festgestellt, dass die an der Windschutzscheibe des Personenwagens von X. angebrachte Autobahnvignette eine Fotokopie war.
B. Die Bundesanwaltschaft verurteilte X. mit Strafbefehl vom 12. November 2012 wegen Fälschung amtlicher Wertzeichen zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 30.- und einer Busse von Fr. 200.-.
X. erhob gegen den Strafbefehl Einsprache mit der Begründung, sie habe keine Autobahnvignette gefälscht und weder eine echte noch eine gefälschte Autobahnvignette an ihrem Fahrzeug angebracht. Mit Schreiben vom 11. März 2013 zog sie ihre Einsprache zurück, bestritt jedoch weiterhin, die Autobahnvignette kopiert und an ihrem Personenwagen angebracht zu haben.
C. Am 25. Juli 2014 beantragte X. bei der Bundesanwaltschaft die Revision des Strafbefehls vom 12. November 2012.
Die Bundesanwaltschaft leitete das Gesuch am 15. August 2014 an das Bundesgericht weiter. Sie beantragt, das Revisionsgesuch sei abzuweisen.
Das Bundesgericht tritt auf das Revisionsgesuch nicht ein.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 1.3
1.3.1 Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn sich eine Regelung als unvollständig erweist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dann vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann (BGE 140 III 636 E. 2.1 S. 637, BGE 140 III 206 E. 3.5.1 S. 213; BGE 139 II 404 E. 4.2 S. 416 f.; je mit Hinweisen). Ist ein lückenhaftes Gesetz zu ergänzen, gelten als Massstab die dem Gesetz selbst zugrunde liegenden Zielsetzungen und Werte (BGE 140 III 636 E. 2.2 S. 638, BGE 140 III 206 E. 3.5.1 S. 213; BGE 129 II 401 E. 2.3 S. 403). Lücken können oftmals auf dem Weg der Analogie geschlossen werden (Urteil 5A_235/2007 vom 14. November 2007 E. 3 mit Hinweisen; vgl. ERNST A. KRAMER, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2013, S. 203 ff.).
1.3.2 Ob eine zu füllende Lücke oder ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGE 140 III 206 E. 3.5.3 S. 213 mit Hinweis auf ARTHUR MEIER-HAYOZ, in: Berner Kommentar, 1962, N. 256 zu Art. 1 ZGB). Dabei muss das Gesetz in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 140 III 206 E. 3.5.4 S. 214 mit Hinweisen).
1.4 Wer durch ein rechtskräftiges Urteil, einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen Entscheid im selbstständigen Massnahmenverfahren beschwert ist, kann unter den Voraussetzungen von Art. 410 StPO die Revision verlangen. Gemäss der Strafprozessordnung entscheidet das Berufungsgericht über Revisionsgesuche (Art. 21 Abs. 1 lit. b und Art. 411 Abs. 1 StPO). Nach Art. 119a BGG beurteilt das Bundesgericht Revisionen gegen Entscheide der Strafkammern des Bundesstrafgerichts. Es wendet dabei die Bestimmungen der Strafprozessordnung (Art. 410 ff. StPO) an, mit Ausnahme von Art. 413 Abs. 2 lit. b StPO. Art. 40 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 19. März 2010 über die Organisation der Strafbehörden des Bundes (StBOG; SR 173.71) bestimmt, dass für Revision, Erläuterung und Berichtigung von Entscheiden der Beschwerdekammern (des Bundesstrafgerichts) nach Art. 37 Abs. 2 (StBOG) die Art. 121-129 BGG sinngemäss gelten. Die Bestimmung betrifft jedoch Verfahren, die nicht gestützt auf die StPO, sondern in Anwendung von spezialgesetzlichen Regeln geführt werden (vgl. Art. 37 Abs. 2 StBOG; Entscheide der Beschwerdekammern gestützt auf die StPO werden in Abs. 1 von Art. 37 StBOG erwähnt). Über Gesuche um Revision eines Entscheids des Bundesgerichts befindet dieses gemäss Art. 121 ff. BGG selbst. Weitere vorliegend relevante Gesetzesbestimmungen zu Revisionen von strafprozessualen Entscheiden gibt es auf Bundesebene nicht.
Wer für die Revision eines Strafbefehls der Bundesanwaltschaft zuständig ist, ist weder in der StPO noch im StBOG, dem BGG oder einem anderen Bundesgesetz ausdrücklich geregelt.
 
Erwägung 1.5
1.5.2 Art. 119a BGG wurde durch das StBOG im Rahmen der Justizreform eingeführt und trat - wie die StPO - am 1. Januar 2011 in Kraft (vgl. Art. 77 Anhang Ziff. II.5 StBOG, AS 2010 3294). Mit dem StBOG wurde die Organisation der Strafbehörden des Bundes einheitlich geregelt (vgl. Art. 14 StPO; Botschaft vom 10. September 2008 zum Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes [nachfolgend: Botschaft StBOG], BBl 2008 8129 Ziff. 1.1). Im Gesetzgebungsverfahren zum StBOG wurde hauptsächlich die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft und der Verzicht auf eine Berufung in Bundesstrafsachen diskutiert. Letzteres ist vorliegend insofern von Interesse, als das Berufungsgericht gemäss StPO auch für Revisionen zuständig gewesen wäre. Der Vorentwurf vom 21. September 2007 zum StBOG sah vor, dass das Bundesgericht Berufungen gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts beurteilt (Art. 66 Anhang Ziff. II.1 Art. 119a BGG; vgl. auch Bundesamt für Justiz, Erläuternder Bericht zum Vorentwurf vom 21. September 2007 zum StBOG, S. 13 ff. Ziff. 2.6), womit sich eine explizite Regelung der Zuständigkeit für Revisionsgesuche erübrigte. Der vorgeschlagene Rechtsmittelweg wurde im Vernehmlassungsverfahren kritisiert (Botschaft StBOG, BBl 2008 8131 Ziff. 1.3.3). Nach der Prüfung von vier Varianten entschied sich der Bundesrat, keine Berufungsinstanz gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts zu schaffen und das bisherige Rechtsmittelsystem beizubehalten (Botschaft StBOG, BBl 2008 8144 ff. Ziff. 1.4.4). Dieser Entwurf des Bundesrats zum StBOG sah in Art. 68 Anhang 1 Ziff. II.4 die Einführung eines neuen Art. 119a BGG vor, dessen Wortlaut mit dem in Kraft stehenden - mit Ausnahme einer redaktionellen Änderung in Abs. 2 - übereinstimmt (Entwurf StBOG, BBl 2008 8211). Die Botschaft verweist auf die Systematik der StPO, wonach das Berufungsgericht über Revisionsgesuche entscheidet, da die Zuständigkeit, ein der Revision unterliegendes Urteil zu überprüfen, nicht mehr beim Gericht liegt, welches den angefochtenen Entscheid erlassen hat. Da gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts keine Berufung möglich sei, sehe Art. 119a BGG vor, dass das Bundesgericht als Revisionsinstanz der Strafkammern des Bundesstrafgerichts amtet (Botschaft StBOG, BBl 2008 8183 Anhang 1). Strafbefehle der Bundesanwaltschaft werden in der Botschaft nicht thematisiert. In den parlamentarischen Beratungen wurde der neu einzuführende Art. 119a BGG nicht diskutiert. Zwar folgte der Nationalrat zunächst einem Antrag der Minderheit, einen neuen Art. 119b BGG zu schaffen, wonach das Bundesgericht Berufungen gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts beurteilt. Schliesslich blieb es jedoch bei der im Entwurf vorgesehenen Regelung (zum Ganzen: AB 2009 S 587 ff., 598; AB 2009 N 2252 ff., 2269 ff.; AB 2010 S 2 ff., 8 f., 160, 362; AB 2010 N 116 ff., 124 ff., 333 ff., 577).
1.5.3 Den Materialien ist somit nicht zu entnehmen, dass die Zuständigkeit für die Revision von Strafbefehlen der Bundesanwaltschaft im Gesetzgebungsverfahren thematisiert wurde. Daraus ergibt sich einerseits, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeit des Bundesgerichts zur Revision von Strafbefehlen der Bundesanwaltschaft nicht implizit mit Art. 119a BGG regeln wollte. Andererseits deutet auch nichts darauf hin, dass er Strafbefehle der Bundesanwaltschaft generell von der Möglichkeit der Revision ausnehmen wollte. Hiergegen spricht insbesondere die klare Regelung von Art. 410 Abs. 1 StPO, wonach unter anderem gegen einen Strafbefehl Revision verlangt werden kann. Die Möglichkeit der Revision davon abhängig zu machen, ob der Strafbefehl von einer kantonalen Behörde oder der Bundesanwaltschaft erlassen wurde, erscheint weder beabsichtigt noch gerechtfertigt. Davon geht auch die Doktrin aus, soweit sie sich mit der Frage befasst (vgl. NIGGLI/MAEDER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 26 f. zu Art. 119a BGG; DOMINIK VOCK, in: Bundesgerichtsgesetz, Praxiskommentar, Spühler und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 11 zu Art. 119a BGG). Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass bereits die Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts (nachfolgend: Botschaft StPO) ausführte, Urteile, die in einem vereinfachten Verfahren ergangen sind, wie das Strafbefehls- oder das Übertretungsstrafverfahren seien mit Revision anfechtbar, denn gerade in diesen Fällen könnten erhebliche Tatsachen oder Beweismittel ausser Acht gelassen worden sein (BBl 2006 1318 f. Ziff. 2.9.4; NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 27 zu Art. 119a BGG).
1.5.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass nicht geregelt ist, welche Behörde für die Behandlung einer Revision von Strafbefehlen der Bundesanwaltschaft zuständig ist. Da keine Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliegen, ist von einer Gesetzeslücke auszugehen, die vom Gericht zu füllen ist (so auch: NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 28 zu Art. 119a BGG; VOCK, a.a.O., N. 11 zu Art. 119a BGG; PIERRE FERRARI, in: Commentaire de la LTF, Corboz und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 119a BGG). Dabei soll es nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde (Art. 1 Abs. 2 ZGB).
1.6 Als Revisionsinstanz von Strafbefehlen der Bundesanwaltschaft kommen in erster Linie diese selbst, das Bundesstrafgericht und das Bundesgericht infrage. Gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. b und Art. 411 Abs. 1 StPO befindet nicht das erstinstanzliche Gericht, sondern das Berufungsgericht über Revisionsgesuche. Damit soll vermieden werden, dass ein Gericht seinen eigenen, der Revision unterliegenden Entscheid überprüft. Bildet ein Berufungsentscheid Gegenstand des Revisionsgesuchs, dürfen die Mitglieder des Berufungsgerichts im gleichen Fall nicht als Revisionsrichterinnen und Revisionsrichter tätig sein (Art. 21 Abs. 3 StPO; Botschaft StPO, BBl 2006 1140 Ziff. 2.2.1.3, 1321 Ziff. 2.9.4). Dieser Systematik der StPO ist der Gesetzgeber mit der Einsetzung des Bundesgerichts als Revisionsinstanz von Entscheiden der Strafkammern des Bundesstrafgerichts gefolgt (vgl. Art. 119a BGG; Botschaft StBOG, BBl 2008 8183 Anhang 1). NIGGLI/MAEDER weisen überzeugend darauf hin, dass es der Systematik von StPO sowie BGG und damit dem Willen des Gesetzgebers widerspräche, das Bundesstrafgericht als Revisionsinstanz gegen Strafbefehle der Bundesanwaltschaft einzusetzen (NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 28 zu Art. 119a BGG). Gleiches gilt für die Bundesanwaltschaft. Es ist nicht einsichtig, weshalb ein erstinstanzliches Gericht oder gar die Staatsanwaltschaft auf Bundesebene für die Revision von Strafbefehlen zuständig sein sollte, auf kantonaler Ebene dagegen nicht. Ebenso wenig lässt sich begründen, dass das Bundesstrafgericht oder die Bundesanwaltschaft über die Revision von Strafbefehlen befinden darf, die Entscheide der Strafkammern jedoch vom Bundesgericht überprüft werden. Schliesslich ist nicht undenkbar, dass eine Behörde ihre eigenen Entscheide revidiert, ist dies doch bei dem Berufungs- und dem Bundesgericht der Fall (vgl. Art. 21 Abs. 1 lit. b StPO sowie Art. 121 ff. BGG; so auch NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 28 zu Art. 119a BGG). Aufgrund der Systematik von StPO und BGG entspricht es am ehesten dem Willen des Gesetzgebers, dass Art. 119a BGG per analogiam auch auf Revisionen von Strafbefehlen der Bundesanwaltschaft angewandt wird. Diese Lösung wird auch in der Lehre postuliert, soweit sie sich dazu äussert (NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 28 zu Art. 119a BGG; VOCK, a.a.O., N. 11 zu Art. 119a BGG; FERRARI, a.a.O., N. 5 zu Art. 119a BGG).